„Wie kriegstüchtig ist unser Gesundheitssystem?“, fragt der Tagesspiegel in der Überschrift eines Interviews, und ein Chefarzt antwortet darauf – versunken im Meer der politischen Propaganda. Das Interview dokumentiert einmal mehr: Schon wie bei Corona sind Mediziner mit kritischem politischen Verstand eine Rarität. Auch Ärzte unterliegen der Gefahr, Medienrealität als reale Realität wahrzunehmen. Am Ende wird dann wiedergekäut, was die Politik im Verbund mit der NATO ohne Unterlass öffentlich behauptet. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
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Propaganda besteht nicht nur aus dem, was Politiker sagen. Propaganda kommt auch aus dem Inneren der Gesellschaft. Und damit ist sie unterm Strich vielleicht sogar noch gefährlicher als direkte politische Propaganda, weil diejenigen, die sie betreiben, oftmals gar nicht wissen, was sie da tun. Diese Propaganda wirkt auf viele glaubhafter, da diejenigen, die sie aussprechen, nicht per se dem Propagandaverdacht unterstehen – was bei Politikern anders ist.
Was ist damit gemeint?
Ziel der Propaganda ist es, unbemerkt die Köpfe der Bürger zu infiltrieren. Gelingt das, verselbstständigt sich die Propaganda, soll heißen: Die „von oben“ nach unten gesendete Propaganda beginnt, Früchte zu tragen; und diejenigen, die sie verinnerlicht haben, beginnen selbstständig, ohne Anleitung oder Anweisung, die Propaganda in die Gesellschaft zu tragen – und zwar von jenen Positionen aus, die sie innehaben. Ab diesem Zeitpunkt besteht die Gefahr, dass Propaganda extrem wirkungsvoll wird. Während ein beachtlicher Teil der Bevölkerung noch tendenziell eher ein gesundes Misstrauen gegenüber den Aussagen aus politischem Munde hegt, verhält es sich schon anders, wenn Menschen, die mehr oder weniger aus der „Mitte“ der Gesellschaft kommen, unbewusst Propaganda verbreiten.
Wenn morgens in den Klassensälen die Lehrer der Republik stehen und „ihre“ Weltsicht, die oftmals die Sicht der „Tagesschau“ und des medialen Mainstreams ist, verbreiten, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie zum selbstständigen Propagandasender werden. Wir kennen das: Der Irak verfügt über Massenvernichtungswaffen, die Corona-Impfung hat keine Nebenwirkungen, der Ukraine-Krieg hat keine für den Westen düstere Vorgeschichte, Russland droht, die NATO anzugreifen.
Für eine Gesellschaft geht große Gefahr von Trägern einer verinnerlichten Propaganda aus. Ob Lehrer, Schuldirektoren, Künstler, Juristen, Wissenschaftler bis auch hin zu Medizinern: Ihre Vorstellungen von Wirklichkeit haben „Gewicht“. Denn: Auf Leute wie sie stützt sich unsere Gesellschaft im täglichen Austausch.
Da sind Politiker. Da sind die Medien. Da sind aber auch all die Funktionsträger, deren Aussagen im Kleinen wie im Großen an die Ohren der Bürger vordringen – und somit das formen, was als gesellschaftliche Vorstellung von Realität bezeichnet wird.
Konkret: Wenn ein Politiker sagt, dass Russland in wenigen Jahren die NATO anzugreifen drohe, dann ist das das Eine. Wenn sich ein Chefarzt für vaskuläre und endovaskuläre Gefäßchirurgie am Klinikum Wolfsburg hinstellt und in einem reichweitenstarken Medium davon spricht, dass „möglicherweise (…) in drei, vier Jahren“ Russland „an der Ostflanke der NATO“ etwa Polen angreifen könne, dann entwickelt sich eine eigene Bedeutungskraft. Wenn das Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin (DGG) im Interview mit dem Tagesspiegel davon spricht, dass es „zu spät“ sei, „wenn es knallt“, dann werden Bürger dem Bedeutung beimessen. Ein Chefarzt untersteht nämlich nicht einem allgemeinen Propagandaverdacht.
Und so redet der hochrangige Mediziner in diesem Tagesspiegel-Interview einerseits über die Materie, von der er etwas versteht: medizinische Versorgung. Mit seiner Expertise kann er der Öffentlichkeit mitteilen, dass im Kriegsfall das deutsche Krankenhaussystem zu schwach aufgestellt ist. Er kann sagen, dass es für „Schwerstverletzte, die am Brustkorb und am Bauch getroffen wurden“, (…), praktisch unmöglich (ist), zu überleben“, weil die Erstversorgung von Frontverletzten und Feldlazaretten nicht ausreichen dürfte. Er kann darauf hinweisen, dass zwar in Deutschland durchaus gute krankenhausmedizinische Versorgungsstrukturen vorhanden seien, aber dass „Kliniken noch nicht auf diese Großlage vorbereitet“ seien. Er kann mit Fug und Recht sagen: „Die Sache ist, dass wir alle im Frieden ausgebildet wurden und sozusagen auf Frieden spezialisiert sind. Das heißt, die Art von Verletzungen, die im Kriegsfall entstehen, die kennen wir nicht.“
Das sind wichtige Aussagen, ihnen könnte man Raum geben. Aber – und jetzt kommt das Problem: Warum soll gerade jetzt überhaupt darüber gesprochen werden, „wie kriegstüchtig“ deutsche Krankenhäuser sind?
Professor Tomislav Stojanovic gibt darauf die Antwort. Er redet davon, dass bei möglichen „Kampfhandlungen“ mit „1.000 bis 1.500 verletzten Soldaten pro Tag“ zu rechnen sei. Der Mediziner spricht von einem möglichen Angriff Russlands auf Polen. Er findet, dass es nun „Verständnis dafür“ brauche, „dass es eben diesen Ernstfall geben kann“ – den aber natürlich niemand wolle. Und dann schiebt er hinterher: „Wenn erst einmal das Bewusstsein da ist, dass wir nicht mehr in Friedenszeiten leben, kann man davon ausgehend planen.“
Anders gesagt: Wir sehen hier einen Top-Mediziner, der redet, was auch ein Politiker sagt. Seine medizinische Perspektive vermischt sich mit einer politischen Perspektive. Er sagt das, was in „Tagesschau“ und Co. hoch und runter „berichtet“ wird. Seine Sicht ist jene Sicht, die in etwa der politischen entspricht. Kritische Distanz zur politisch herbeifantasierten „Zeitenwende“? Fehlanzeige. „Wir“ leben eben nicht mehr „in Friedenszeiten“. Das ist, scheinbar, eben so. Kritik an der Konfrontationspolitik gegenüber Russland? Kritik an dem Stellvertreterkrieg? Kritik an der westlichen Tiefenpolitik in der Ukraine? Nichts davon ist in dem Interview zu finden. Und damit wird das Interview zu einem Stück aus der Echokammer der Propaganda. Der Chefarzt redet und redet und redet, doch er vermag es nicht, die gesetzten Grundnarrative infrage zu stellen. Die politischen „Wahrheiten“, die Medienrealitäten, sind zu eigenen Gewissheiten geworden. Die Dinge sind eben so.
Die Frage „Wie kriegstüchtig ist unser Gesundheitssystem?“ ist hochgradig propagandistisch kontaminiert. In der gegenwärtigen Situation ist eine solche Frage reine Propaganda, denn: Anständige, ehrliche, im besten Sinne des Grundgesetzes gute Gründe für das politische Großvorhaben Kriegstüchtigkeit gibt es keine. Was es stattdessen gibt: eine Politik, die sich immer tiefer in ihre Feindbildproduktion verstrickt. Der Chefarzt scheint das nicht zu erkennen. Er sagt: „Wenn es erst knallt, dann ist es zu spät, Pläne zu schmieden.“ Was er nicht versteht: „Es“ „knallt“ nicht einfach so. Wenn „es“ „knallt“, dann hat die Politik auf schlimme Weise versagt – oder, noch schlimmer: es sogar gewollt. Kriege entstehen politisch. Dort liegt ihre Lösung. Kriegstüchtige Gesundheitssysteme sind kein Bestandteil von Lösungen, im Gegenteil: Sie werden zum Teil des Problems.
Dem Betrachter führen Beiträge dieser Art vor Augen: Längst hat sich die Propaganda in Teilen der Gesellschaft ausgebreitet und festgesetzt.
Titelbild: © Turner Classic Movies





