Wer heute noch für die Wehrpflicht eintritt, klammert die atomare Eskalation aus und denkt an Kriege, wie sie in der Ukraine oder im Gazastreifen geführt werden. Ungezählte Menschen sterben, Städte und Dörfer werden dem Erdboden gleichgemacht. Völlig zu Recht vergleicht der ehemalige Militärberater Angela Merkels, Brigadegeneral Erich Vad, beispielsweise den Ukraine-Krieg mit der „Blutmühle“ von Verdun. Sie dauerte vom 21. Februar bis zum 19. Dezember des Jahres 1916. Fast eine Million Franzosen und Deutsche verloren in dieser sinnlosen Zermürbungsschlacht ihr Leben. Von Oskar Lafontaine.
Ausweg aus dem Dilemma
Schon Anfang der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts stellte der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker fest, dass ein dicht besiedelter Industriestaat wie die Bundesrepublik mit konventionellen Waffen nicht zu verteidigen sei. Allenfalls der Aufbau einer gesicherten Zweitschlagskapazität, er dachte an seegestützte Systeme zur Abschreckung eines potenziellen Angreifers, sei unter militärstrategischen Gesichtspunkten ein Ausweg aus diesem Dilemma.
Welchen Sinn macht vor diesem Hintergrund das ehrgeizige Ziel des Kanzlers Friedrich Merz, die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Armee Europas aufzurüsten? Und welchen Sinn macht es, die Wehrpflicht wieder einzuführen, wenn die Bundesrepublik mit konventionellen Waffen ohnehin nicht zu verteidigen ist, weil die deutschen Städte und Dörfer nach einer solchen „Verteidigung“ aussähen wie Städte und Dörfer in der Ostukraine oder im Gazastreifen? Kann man noch von Verteidigung sprechen, wenn nach der „Verteidigung“ alles zerstört ist, was man verteidigen wollte?
Das Argument, dass es zu einer solchen Katastrophe nicht komme, weil uns ja der Atomschild der USA schütze, war schon immer ein Selbstbetrug. Die USA werden niemals ihren eigenen Untergang riskieren, um Europa vor der Zerstörung zu bewahren.
Gibt es überhaupt einen Ausweg? Ja, es gibt ihn, wenn die größte Fähigkeitslücke der deutschen „Verteidigungsexperten“, die Unfähigkeit zu strategischem Denken, geschlossen wird. Dazu müssten sie die Studie des Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker und seiner Mitarbeiter vom Starnberger Max-Planck-Institut einmal lesen. Das gilt nicht nur für Politiker und Journalisten, die unermüdlich zum Krieg hetzen, sondern auch für deutsche Generäle, die in scheinbarer Unkenntnis der Überlegenheit der NATO-Staaten bei Truppenstärke und technischem Gerät gegenüber der Russischen Föderation darüber schwadronieren, wann die Russen in der Lage wären, Deutschland zu überfallen. Sie merken noch nicht einmal, wie lächerlich sie sich machen, weil sie behaupten, die Russen warten ab, bis die Deutschen die stärkste konventionelle Armee Europas haben, und dann greifen sie an.
In einer waffenstarrenden Welt, in der die Abschreckung auch die atomare Selbstzerstörung umfasst, ist die Friedensdiplomatie die sicherste Methode, die Katastrophe zu vermeiden. Willy Brandt und Michail Gorbatschow haben gezeigt, dass ein solcher Weg möglich ist.
Da Krieg und Wehrpflicht bedeuten, dass junge Menschen, die einander nicht kennen, auf das Schlachtfeld geschickt werden, um sich gegenseitig umzubringen, auf Befehl von Männern, die nicht daran denken, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, müssen die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und einen derartigen Kriegsdienst verweigern. Die alte Sponti-Formel „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ ist immer noch aktuell, auch wenn Leute, die nur mit den Händen an der Hosennaht denken können, das für verrückt halten. Wenn alle Ukrainer so handeln würden wie die 350.000 Ukrainer, die desertiert sind, und alle Russen so handeln würden wie die 50.000 Russen, die desertiert sind, dann wären Tod und Zerstörung vermieden worden.
„Schwerter zu Pflugscharen“
Hoffnung machen jetzt Umfragen, nach denen 59 Prozent der 18- bis 25-jährigen Deutschen und über 50 Prozent der Gesamtbevölkerung den Dienst an der Waffe verweigern und einen Zivildienst bevorzugen würden. Das ist angesichts der Kriegshetze von Politik und Medien wirklich erstaunlich. Mit dem Bibelwort „Schwerter zu Pflugscharen“ und der Forderung „Frieden schaffen ohne Waffen“ wehrten sich Ost- und Westdeutsche einst gegen die atomare Aufrüstung in Europa. Eine wiedererstarkte Friedensbewegung könnte dem wiederauferstandenen deutschen Militarismus, dem sich alle im Bundestag vertretenen Parteien unterworfen haben, den Boden entziehen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Weltwoche Nr. 47.25.
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