Berlin: Ein bisschen Wechselstimmung in der taumelnden Stadt

Berlin: Ein bisschen Wechselstimmung in der taumelnden Stadt

Berlin: Ein bisschen Wechselstimmung in der taumelnden Stadt

Ein Artikel von Rainer Balcerowiak

Dass in der deutschen Hauptstadt – dezent formuliert – seit vielen Jahren so einiges schiefläuft, hat sich allgemein herumgesprochen. Da es in den vergangenen Jahrzehnten keiner Regierungskoalition auch nur annähernd gelungen ist, ihre vollmundigen Versprechen zur Lösung der Probleme einzulösen, kommt es nach ein bis zwei Legislaturperioden stets zu einer Art „Wechselstimmung” beim Wahlvolk, die sich dann in manchmal erheblichen Verschiebungen bei den Wahlen ausdrückt. Dieses Phänomen deutet sich auch im Vorfeld der nächsten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2026 klar an. Von Rainer Balcerowiak.

Zur Vorgeschichte: Die seit 2016 amtierende rot-grün-rote Koalition mit dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) als Chef versprach unter anderem eine Überwindung der Wohnungsnot, eine umfassende Modernisierung der Verwaltung, eine durchgreifende Verkehrswende, ein besseres Schulsystem und dazu noch diverse Spezialprojekte der drei beteiligten Parteien. Im September 2021 wurde diese Koalition vom Wähler bestätigt – wohl weniger aufgrund ihrer äußerst bescheidenen Erfolgsbilanz, sondern eher mangels Alternativen, denn die CDU als stärkste Oppositionspartei hatte noch immer mit den Folgen ihrer erbarmungswürdigen inneren Zerrüttung zu kämpfen.

Da es Michael Müller in die Bundespolitik zog, übernahm bei der SPD Franziska Giffey das Ruder, die trotz deutlich erkennbarer Abneigung gegen Rot-Grün-Rot die Koalition fortführte. Allerdings wurden die Abgeordnetenhauswahlen nach langwierigen Prüfungen vom Landesverfassungsgericht aufgrund einer schier unglaublichen Pannenserie bei ihrer Durchführung im November 2022 für ungültig erklärt. Als Termin für die Wiederholungswahl wurde der 12. Februar 2023 festgelegt.

Die rund 16 Monate seiner Amtszeit „nutzte” der neu aufgelegte rot-grün-rote Senat vor allem dafür, sich gründlich auf offener Bühne zu zerlegen. Die Giffey-SPD sabotierte die von den Linken geforderte Umsetzung des erfolgreichen Volksentscheids zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen; die Grünen, die das entsprechende Ressort innehatten, exekutierten merkwürdige Experimente im Rahmen der „Verkehrswende” wie etwa die Sperrung der Friedrichstraße für den Autoverkehr; und die Linke setzte auf eher woke Politikangebote für das Innenstadt-Klientel. Bei wichtigen Problemen, wie etwa dem permanenten Chaos bei den Bürgerämtern mit teilweise monatelangen Wartezeiten für einen Termin zur Ausweisverlängerung, ging es aber keinen Schritt voran. Und die Schulen litten auch weiterhin unter Lehrermangel und maroden Gebäuden. Dazu kamen noch die offensichtlichen Probleme bei der Integration der vielen Flüchtlinge, die in die Stadt gekommen waren.

All das war eine Steilvorlage für die inzwischen wieder konsolidierte CDU. Ihr als vollmundiger „Kümmerer und Macher“ angetretener Spitzenkandidat Kai Wegner konnte bei den Wiederholungswahlen im Februar 2023 einen fulminanten Wahlerfolg verbuchen, der die CDU mit einem Sprung von 18 auf 28,2 Prozent erstmals seit 1999 wieder zur stärksten Partei machte. Und er konnte mit der gerupften und entsprechend demütigen SPD, die mit 18,4 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis der Berliner Landesgeschichte erzielte, einen vergleichsweise pflegeleichten Koalitionspartner ins Boot nehmen. Zwar hätte es rechnerisch noch eine sehr knappe Mehrheit für eine weitere Auflage von Rot-Grün-Rot gegeben, doch dem erteilten Giffey und mit ihr maßgebliche Teile des SPD-Establishments eine Absage. Vor allem das Verhältnis zu den Grünen und deren Spitzenfrau Bettina Jarasch war komplett zerrüttet. Giffey trat dann als Wirtschaftssenatorin in den CDU-geführten Senat ein.

Neustart” mit schwarz-grüner Regierung gründlich misslungen

Doch von der Hoffnung auf einen „Neustart” mit dieser schwarz-roten Koalition ist kaum etwas übrig geblieben. Einen wirklich messbaren Erfolg gab es lediglich beim Terminchaos in den Bürgerämtern, das funktioniert inzwischen wieder fast reibungslos. Aber ansonsten geht es weiter bergab in der Hauptstadt. Die Armutsquote ist von 13,7 Prozent (2023) auf fast 17 Prozent gestiegen, deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Bei Kindern und Jugendlichen sind es sogar 24 Prozent und in einzelnen Bezirken bis zu 37 Prozent. Im aktuellen Schuljahr fehlen über 700 Lehrer. Und würde man nicht händeringend versuchen, die großen Löcher irgendwie notdürftig zu flicken, sähe es noch wesentlich schlimmer aus. Nur 16 Prozent der neu angestellten Lehrkräfte in Berlin hatten in diesem Schuljahr ein abgeschlossenes Lehramtsstudium.

Ungebremst bergab geht es auch auf dem Wohnungsmarkt. Für Gering- und Normalverdiener gibt es kaum noch bezahlbaren Wohnraum, die Zahl der offiziell registrierten Wohnungs- und Obdachlosen ist auf über 55.000 gestiegen, und der Senat geht davon aus, dass diese Zahl bis 2030 auf über 100.000 wachsen wird. Derweil steigen die Mieten weiter rapide und der Neubau stagniert.

Augenfällig ist auch die marode Infrastruktur der Stadt, in der immer mehr Brücken zwecks Generalsanierung oder gar Abriss gesperrt werden müssen. Parallel dazu pfeift der öffentliche Personennahverkehr auf dem letzten Loch, vor allem bei den wichtigsten Verkehrsträgern U- und S-Bahn. Deren termingebundene Nutzung wird zunehmend zum Lotteriespiel. Dazu passt, dass die Verkehrssenatorin darauf beharrt, die Machbarkeit von Magnetschwebebahnen zu prüfen und zudem allerlei wirre und vor allem unfinanzierbare Ausbaupläne für die U-Bahn in der Schublade hat. Den Ausbau des Tram- und des Fahrradnetzes hat man dagegen auf Eis gelegt.

Auch beim klassischen CDU-Steckenpferd Kriminalitätsbekämpfung konnte die Wegner-Regierung kaum Punkte sammeln. Straftaten mit Waffeneinsatz – vor allem Messer, bisweilen aber auch Schusswaffen – blieben auf hohem Niveau. Das gilt auch für die Drogenkriminalität und die Zahl der Drogentoten, die sogar wieder deutlich zugenommen hat. Doch außer kosmetisch-propagandistischen Aktionen wie „Messerverbotszonen” oder der albernen Umzäunung und nächtlichen Sperrung des Görlitzer Parks fällt dem Senat dazu nur wenig ein.

Auf der anderen Seite hat sich die Landesregierung im Stil spätrömischer Dekadenz einigen Glamour-Projekten verschrieben wie etwa der Bewerbung um die Ausrichtung Olympischer Spiele in Berlin – und das, obwohl die Stadt mal wieder pleite ist und der Senat mit dem Rasenmäher durch den Haushalt pflügt, was auch die soziale Infrastruktur und kulturelle Institutionen stark betrifft. Und die allgegenwärtige und wachsende Vermüllung und Verwahrlosung des öffentlichen Raums macht auch nicht so richtig gute Laune.

Diese Regierung hat ihren vom Wähler gewährten Vertrauensvorschuss also offensichtlich verzockt, und es ist nicht zu erwarten, dass sich daran in den verbleibenden knapp zehn Monaten bis zur nächsten Wahl des Abgeordnetenhauses noch signifikant etwas ändern könnte. Entsprechend fallen auch die aktuellen Wahlprognosen aus. Der CDU würde demnach auf 22 Prozent abstürzen und die SPD ihren historischen Negativrekord von 2023 nochmals unterbieten. Sie käme nur noch auf 13 Prozent. Die Grünen blieben mit 16 Prozent ziemlich stabil. Deutliche Zugewinne könnte die Linke erzielen, die sich von 12,2 auf 19 Prozent verbessern würde. Auch die AfD könnte von 9,1 auf 16 Prozent kräftig zulegen und wäre gleichauf mit den Grünen sowie deutlich vor der SPD.

Dann bliebe da noch das erstmals kandidierende BSW. Bei den EU-Wahlen im Juni 2024 legte die erst wenige Monate zuvor gegründete Partei einen furiosen Kaltstart hin und erzielte in Berlin 8,7 Prozent der Stimmen. Bei den Bundestagswahlen im Februar 2025 waren es immerhin noch 6,7 Prozent. Doch obwohl die Partei ihre Mitgliederzahl inzwischen vervielfacht und bezirkliche Strukturen aufgebaut hat, ist das BSW in den stadtpolitischen Auseinandersetzungen nur wenig präsent, zumal der anfängliche Medienhype nach dem Nichteinzug in den neuen Bundestag deutlich abgeflaut ist. In Umfragen zur Berliner Wahl rangiert die Partei derzeit zwischen vier und fünf Prozent. Der Einzug in das Berliner Landesparlament ist nach wie vor möglich, aber alles andere als sicher. Ihr Markenkern als einzige konsequente Friedenspartei ist nach wie vor deutlich sichtbar. Es ist aber fraglich, ob das ohne klare, stimmige Positionen in allen wesentlichen stadtpolitischen Fragen für einen erfolgreichen Landtagswahlkampf ausreichen kann.

SPD versinkt im Chaos

Einen ganz besonderen Luxus leistet sich im Vorfeld des bald beginnenden Wahlkampfs die ohnehin gebeutelte SPD. Denn die ist vor allem damit beschäftigt, sich gründlich zu zerlegen. Im Mai 2024 wurden nach dem Rückzug von Franziska Giffey aus der Landesparteispitze in einem Mitgliederentscheid Nicola Böcker-Giannini und Martin Hikel als neue Landesvorsitzende vorgeschlagen, was ein Landesparteitag dann bestätigte. Vor allem Hikel, ein gestandener Stadtpolitiker mit „Berliner Stallgeruch” und als seit 2018 amtierender Bürgermeister des „Problembezirks” Neukölln auch recht bekannt, galt vielen in der SPD als Hoffnungsträger, um die schwer angeschlagene Partei wieder nach vorne zu bringen.

Doch dem eher „links-grün-woke” orientierten Flügel der Partei, der vor allem im mittleren Apparat stark vertreten ist, war der „Pragmatiker” Hikel, der sich auch zu Fragen wie Clankriminalität, Islamismus, Verwahrlosung und Integrationsdefizite recht klar, aber keinesfalls reißerisch oder gar rassistisch äußerte, schnell ein Dorn im Auge. Bei der Nominierung des Neuköllner Kandidaten für das Amt des Bezirksbürgermeisters erhielt der SPD-Landesvorsitzende von den Kreisdelegierten am 8. November nur 68,5 Prozent der Stimmen, was Hikel als mangelnde Unterstützung wertete und die Kandidatur zurückzog. Einige Tage später fiel seine Co-Vorsitzende Böcker-Giannini dann in Reinickendorf bei der Listennominierung für das Abgeordnetenhaus durch. Beide zogen daraus die einzig logische Konsequenz und legten ihre Ämter als Parteivorsitzende nieder.

Immerhin: Einen Spitzenkandidaten für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus hat die SPD gefunden. Steffen Krach wurde am 15.November vom Landesparteitag mit 100 Prozent der Stimmen gewählt. Wahrscheinlich mussten einige Delegierte erst mal googeln, denn Krach hatte zwar vor einigen Jahren ein längeres Intermezzo als Staatssekretär im Berliner Senat, war dann aber seit 2021 als Regionspräsident in seiner Heimatstadt Hannover tätig. Eingefädelt hatte diesen Import noch Ex-Parteichef Hikel, offenbar geleitet von der Erkenntnis, dass es in der Berliner SPD kein präsentables Personal gibt.

So skurril das alles klingen mag: Es scheint in Berlin dennoch eine Art Wechselstimmung zu geben. Natürlich fließt bis zur Wahl im September noch eine Masse Wasser die Spree herunter, aber eine Fortsetzung der schwarz-roten Koalition kann man wohl schon jetzt ebenso ausschließen wie andere Zweier-Bündnisse. Vieles spricht für eine rechnerische Mehrheit einer rot-grün-roten Koalition. Da wäre dann allerdings erstmals voraussichtlich die Linke stärkste Kraft und könnte mit der Spitzenkandidatin Erif Eralp die Regierende Bürgermeisterin stellen, was die SPD in die nächste Zerreißprobe stürzen würde. Aber vielleicht wird Berlin dann ja auch einfach unregierbar – ist es ja jetzt schon irgendwie.

Titelbild: Theo Duijkers/shutterstock.com

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