Ernstfall Deutschland – Geopolitische Neuausrichtung zwischen Weltmächten und nationalen Interessen

Ernstfall Deutschland – Geopolitische Neuausrichtung zwischen Weltmächten und nationalen Interessen

Ernstfall Deutschland – Geopolitische Neuausrichtung zwischen Weltmächten und nationalen Interessen

Ein Artikel von Éva Péli

Während die Berliner Politik ihren Kurs der militärischen Eskalation starrsinnig fortsetzt, wächst der Bedarf an einer radikalen Kurskorrektur. Im Berliner Kulturzentrum Peter Edel sezierten Brigadegeneral a. D. Erich Vad und Politikwissenschaftler Alexander Neu vor wenigen Tagen das deutsche Dilemma: Eine Strategie, die den Interessenausgleich verweigert, die eigene Industrie für eine rüstungspolitische „Milchmädchenrechnung“ opfert und Deutschland zum bloßen Statisten der Weltmächte degradiert. Éva Péli berichtet über die Veranstaltung.

„Kriege brechen nicht aus. Sie werden gemacht, sie werden vorbereitet, sie werden geplant. Sie sind das Ergebnis eines eklatanten Scheiterns der Politik. Ich sage das als ehemaliger Soldat und als General: Kriege sind kein gerechtfertigtes Mittel der Politik – und trotzdem ereignen sie sich, weil eine Politik vorherrscht, die den Interessenausgleich verweigert.“

Das sagte Brigadegeneral a. D. Erich Vad in Berlin bei einer Veranstaltung.

Fast zeitgleich zum Treffen von Wolodymyr Selenskyj mit einer US-Delegation in Berlin-Mitte kamen am Montagabend im Kulturzentrum Peter Edel zwei Experten zusammen, um über eine Realität zu sprechen, die im Kanzleramt geflissentlich ignoriert wird. Unter dem Titel „Krieg oder Frieden“ – angelehnt an das aktuelle Buch von Erich Vad und Klaus von Dohnanyi – debattierten Brigadegeneral a. D. Erich Vad, ehemals militärpolitischer Berater von Angela Merkel, und Dr. Alexander Neu, langjähriger Obmann im Verteidigungsausschuss des Bundestages. Beide kennen den Apparat von innen und suchten den direkten Dialog mit dem Publikum.

Die Bilanz fiel bitter aus. Die Realität hat die Berliner Blase längst überholt, auch wenn sich die hiesige Medienlandschaft weiterhin in transatlantischen Träumereien verliert. In der Ukraine-Frage ist die Bundesrepublik vom gestaltenden Akteur zum Statisten geschrumpft. Während man im Kanzleramt noch über die Lieferung einzelner Waffensysteme streitet, verhandeln Washington und Moskau längst über die Köpfe der Europäer hinweg. In der globalen Machtarithmetik erscheint Berlin kaum mehr als der Schauplatz, an dem man den Großen den Kaffee serviert.

Die neue Weltordnung und die deutsche Doppelmoral

Vad und Neu legten den Fokus auf den Umbruch der Weltordnung. Die Ära der unangefochtenen US-Hegemonie ist Geschichte; die Welt wandelt sich zur Bipolarität zwischen Washington und Peking, während die BRICS-Staaten als neuer Block erstarken. In diesem Machtkampf droht Deutschland zum bloßen „Transmissionsriemen“ für US-Interessen zu werden, ohne jemals eigene strategische Ziele definiert zu haben.

Besonders hellhörig macht Vads Beobachtung zum Globalen Süden. Dort verfolge man das westliche Handeln mit wachsendem Befremden: „Aus anderen Regionen dieser Welt blickt man mit Befremden auf die deutsche Doppelmoral.“ Der russische Angriffskrieg sei völkerrechtswidrig, ja – doch Vad setzte dies in Relation zur historischen Realität. Er verwies auf Studien der Boston University, wonach die USA allein im Kalten Krieg 66 Regime-Change-Operationen durchführten. Im Vergleich zur oft hocheffektiven Steuerung US-amerikanischer Interessen – man denke an Venezuela – seien die Russen, als „echte Anfänger“, in Kiew strategisch regelrecht „ins Messer gelaufen“.

Der „28-Punkte-Plan“ und das Berliner Schweigen

Frieden, so Vad, sei kein passiver Zustand, sondern ein „aktives politisches Gestaltungsprodukt“. Er thematisierte, was in den Leitmedien konsequent verschwiegen wird: Seit Donald Trumps Wahlsieg glühen die Leitungen zwischen dem Weißen Haus, dem Kreml und den Geheimdiensten. Ein „28-Punkte-Plan“ liege auf dem Tisch, der weit über einen Waffenstillstand hinausreicht und einen wirtschaftlichen Neustart zwischen den USA und Russland vorsieht.

Das Paradoxe: Diese Verhandlungen vollziehen sich teils physisch in Berlin oder anderen Orten – doch die deutsche Regierung sitzt nicht mit am Tisch. Bundeskanzler Friedrich Merz fungiere lediglich als „Gastgeber“, als eine Art Hotelier für die Delegationen von Steve Witkoff und Jared Kushner. Die eigene Gestaltungsmacht ist in diesem Prozess nicht vorgesehen.

Die Ära Merkel und die ökonomische „Milchmädchenrechnung“

Vad rehabilitierte die Amtszeit von Angela Merkel gegen die derzeitige mediale Umdeutung. Vor allem den NATO-Gipfel in Bukarest 2008 bezeichnete er als Schlüsselmoment. Merkel verhinderte damals gegen massiven US-Druck den NATO-Beitritt der Ukraine. „Sie sah damals schon glasklar, dass dies eine dunkelrote Linie für Russland darstellt und unweigerlich zum Krieg führen würde“, sagte Vad. Dieser Realismus habe Deutschland 16 Jahre lang vor einem großen Krieg bewahrt.

Heute herrsche stattdessen ökonomische Blindheit. Die Idee, Deutschland könne sich durch massives Aufrüsten wirtschaftlich sanieren, nannte der General a. D. eine gefährliche „Milchmädchenrechnung“:

„Wir sind nicht Amerika. In den USA mag es funktionieren, die Industrie durch Rüstung aufzupumpen, um dann irgendwo in Übersee Kriege zu führen. In Deutschland rechnet sich das in keiner Weise. Wenn wir hier die Wirtschaft auf Kriegsökonomie umstellen, ereignet sich der Krieg direkt vor der eigenen Haustür. Das ist kein wirtschaftlicher Impuls, das ist der Weg in den Kollaps.“

Kapital in unproduktiven Rüstungsgütern zu binden, schwäche die zivile Innovationskraft und dekonstruiere den Industriestandort langfristig.

Wer bedroht uns eigentlich?

In der Diskussion konfrontierte der Journalist Tilo Gräser vom Magazin Hintergrund Vad mit einer Frage, die im politischen Betrieb meist übersprungen wird: „Wer bedroht Deutschland eigentlich ganz konkret?“ Vads Antwort war deutlich: Er sieht aktuell keine unmittelbare Bedrohung durch Russland. Entgegen der medialen Warnrufe gebe es keine Anzeichen für einen geplanten Angriff auf die NATO.

Er erinnerte an seine Dienstzeit im Kalten Krieg: Damals bereitete sich die Bundesrepublik professionell vor, verzichtete aber auf die heutige Rhetorik des Hasses und starre Feindbilder. Militärische Stärke sei für ihn kein Selbstzweck, sondern eine notwendige Versicherung für den Frieden: „Eine Armee, die im Ernstfall nicht kriegstüchtig ist, ist abzuschaffen.“

Wehrpflicht und die Logik des Absurden

Auch die Debatte um die Wehrpflicht sieht Vad als Symptom strategischer Orientierungslosigkeit.

1. Vom Hindukusch zum Dnepr: Vad kritisierte die Entkernung der Landesverteidigung: „Peter Struck (ehemaliger Bundesminister für Verteidigung) hat gesagt, Deutschlands Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt. […] Und heute habe ich den Eindruck, in Zukunft muss sie am Dnepr verteidigt werden.“ Wer Soldaten für weltweite Einsätze einplant statt für den Schutz des eigenen Landes, dürfe sich über mangelnden Zuspruch nicht wundern: „Dann dürfen wir uns auch über keine Mutter wundern, wenn sie ihre Söhne nicht zur Bundeswehr schicken.“

2. Das Personal-Dilemma: Besonders die Kritik an der Doppelmoral bezüglich der Ukraine sorgte für Applaus im Saal: „Wir haben fast 300.000 wehrfähige Ukrainer aufgenommen, geben ihnen Bürgergeld […] und reden gleichzeitig über die Entsendung deutscher Soldaten in die Ukraine. Ich halte das für abenteuerlich.“

3. Generation Z: Alexander Neu hinterfragte, wie eine Armee in einer Ära der „Über-Individualisierung“ überhaupt noch zu organisieren sei, wenn der Kollektivgedanke politisch wegerodiert wurde. Der ehemalige Berufssoldat betonte, eine Gesellschaft, die sich in digitaler Zerstreuung verliere, tue sich schwer, die harte Realität militärischer Notwendigkeiten überhaupt noch intellektuell zu greifen.

Psychogramm einer Nation: Untertanengeist und Medienkritik

Warum gibt es so wenig Widerspruch von Fachleuten, wollte jemand aus dem Publikum wissen. Die Antwort von Vad war ernüchternd: „Ich weiß von früheren Kollegen: Ich sehe das so wie du, aber wenn ich das sage, verliere ich meinen Job.“ Er zeichnete das Psychogramm einer Nation, die in alte Muster zurückfällt:

„Ich sehe sehr viel Konformismus in Deutschland. Sehr viel Duckmäusertum. Sehr viel Untertanen-Mentalität. […] Die Bereitschaft: Guck mal nach oben, wo ist der Trend – und dann wird das durchexerziert.“

Haltungsjournalismus und Waffen-Segen

Vad beklagte das Verschwinden jeglicher „geistiger Vielfalt“ im Land. Während sexuelle Diversität fast schon rituell gefeiert werde, ende die Toleranz beim strategischen Denken abrupt. Als Beispiel nannte er die mediale „Hinrichtung“ von Politikern wie Viktor Orbán, der als einziger versucht habe, durch Reisen in alle relevanten Hauptstädte zu vermitteln. Alexander Neu pflichtete ihm bei und konstatierte eine Fehlentwicklung des Handwerks hin zu einem reinen „Haltungsjournalismus“. Selbst die Kirche blieb vor Vads Kritik nicht verschont: Er geißelte die neue Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als gefährliche „Neuauflage des gerechten Krieges“ – bis zur Segnung von Waffen für die Front fehle bei manchen Kirchentagen nicht mehr viel.

Diplomatie als Ernstfall

Wahre Stärke zeigt sich nicht in der Vorbereitung des Krieges, sondern in seiner Verhinderung. Vad forderte den Ausbruch aus der „Logik des Militärischen“, die das Denken in Berlin wie Mehltau lähme. Er erinnerte an Konrad Adenauer, der 1955 die Größe besaß, nach Moskau zu reisen. Diese Tradition der Realpolitik sei heute zertrümmert. Vads Fazit ist ein Appell:

„Wir müssen uns wieder bemühen, den anderen zu verstehen. […] Verständnis bedeutet ja nicht, dass ich dieses Handeln akzeptiere. Aber wer die Bereitschaft verliert, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, darf sich nicht wundern, wenn er diplomatisch endgültig aus der Kurve fliegt.“

Deutschland müsse seine Interessen endlich wieder selbst definieren. Eine Politik, die das eigene Land leichtfertig aufs Spiel setzt, versage. Berlin lade ein, aber Washington und Moskau bestellen das Menü. Es ist für den Ex-General Zeit, dass Deutschland wieder am Tisch Platz nimmt, „statt nur den Kaffee zu servieren“.

Brigadegeneral a. D. Erich Vad
War von 2006 bis 2013 der militärpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Kanzleramt. Er gilt als Vertreter des „strategischen Realismus“ und mahnt beharrlich zur diplomatischen Lösung.

Dr. Alexander Neu
Osteuropa-Experte und Politikwissenschaftler. Er war langjähriger Abgeordneter im Deutschen Bundestag und Obmann im Verteidigungsausschuss. Sein Fokus liegt auf der Analyse der NATO-Expansion und der Transformation hin zu einer multipolaren Weltordnung.

Titelbild: Tilo Gräser

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