Eine friedliche Welt – Aufgeklärter Realismus das Friedenskonzept des 21. Jahrhunderts?

Eine friedliche Welt – Aufgeklärter Realismus das Friedenskonzept des 21. Jahrhunderts?

Eine friedliche Welt – Aufgeklärter Realismus das Friedenskonzept des 21. Jahrhunderts?

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

Unter dem Begriff „Realismus“ wird auf eine politikwissenschaftliche Denkschule, die insbesondere von Hans Joachim Morgenthau und John H. Hertz geprägt wurde und gegenwärtig prominent von John Mearsheimer vertreten wird, verwiesen. Die Prämisse der Denkschule ist die Macht bzw. die Akkumulation der Macht durch Staaten. Hierzu gehört auch die zutiefst „realistische“ Aussage, wonach Staaten keine Freunde hätten, sondern Interessen. Von Alexander Neu.

Das Adjektiv „aufgeklärt“ verbinde ich stets mit Immanuel Kants Aussage „Sapere aude!“ („Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“) Sie stellt den Leitsatz der Aufklärung dar: Kant unterstellt den Menschen eine selbstverschuldete Unmündigkeit – selbstverschuldet, da sie zwar über einen Verstand verfügen, diesen jedoch nicht zur selbstständigen Analyse von Wirklichkeit nutzen und vor allem mit der menschlichen Vernunft bewerten, sondern stattdessen metaphysischem Denken wie der Religion oder auch der Propaganda unreflektiert hinterlaufen. Die menschliche Bequemlichkeit, neudeutsch Denkfaulheit, reduziert den Menschen selbstverschuldet zum willfährigen Objekt fremder Interessen.

Der „aufgeklärte Realismus“ hingegen fordert den Menschen auf, selbst zu denken, also den Verstand zu nutzen, um Wirklichkeit zu reflektieren und mit Hilfe der Vernunft gute Entscheidungen an der Realität entlang zu treffen.

Weltpolitische Umbrüche im 21. Jahrhundert und die zeitverzögerte Rezeption durch die westlichen Eliten

Dass die Welt sich in einem umfassenden Epochenbruch befindet, dringt zwischenzeitlich, wenn auch zeitverzögert, im politischen und massenmedialen Berlin und Brüssel allmählich durch und sorgt dort für erhebliche Verunsicherungen und Fehlentscheidungen. Gegenüber ihrer Öffentlichkeit versuchen manche Mainstreammedien und Vertreter der politischen Klasse, diesen Epochenbruch offiziell nicht ernst zu nehmen oder ihn zumindest als Thema zu tabuisieren (Negation des Verstandes), geschweige denn über die richtigen Antworten zu diskutieren (Negation der Vernunft).

Auch die Tabuisierung des Ukrainekrieges in seiner zweiten Dimension, nämlich des Stellvertreterkrieges zwischen dem politischen Westen einerseits und Russland sowie mit Duldung des Nicht-Westens andererseits verweist auf den Willen, den Epochenbruch immer noch nicht – zumindest gegenüber der Öffentlichkeit – zu konzedieren. Der Öffentlichkeit wird der Ukrainekrieg nach wie vor als ein kontextfreies und regionales Ereignis, ein allein auf imperiale Interessen Russlands reduziertes Verständnis, verkauft. Dass es eine Vorgeschichte mit Blick auf die vernunftwidrige NATO-Osterweiterung gibt, ist eine Seite des Kontextes. Aber mehr noch, der Ukrainekrieg ist auch ein Baustein des globalen Epochenwandels – der Nahe und Mittlere Osten, der Westpazifik-Raum und Lateinamerika sind weitere Schauplätze dieses Wandels.

Wandel als Gefahr statt als Chance – Feindbildkonstruktion und Aufrüstung

Die massiven Aufrüstungsvorhaben der EU und auch Deutschlands finden nicht statt, weil die Entscheidungseliten tatsächlich glauben, der Russe stehe demnächst am Brandenburger Tor. Die Panikmache seitens der Politik und Mainstreammedien, wonach der Russe bald in unseren Wohnzimmern aufschlägt, soll vielmehr die Öffentlichkeit mental auf Kurs bringen, eine geistige Kriegstüchtigkeit befördern und damit auch ihre Bereitschaft erhöhen, die sozialen Zumutungen der Aufrüstung zu schlucken sowie den Zusammenhalt der EU sichern. Nicht anders sind die Panikaussagen des NATO-Generealsekretärs Mark Rutte in einer Rede am 11. Dezember 2025 in Berlin zu verstehen: „Wir sind Russlands nächstes Ziel, und wir sind bereits in Gefahr. (…) Dafür müssen wir uns über die Bedrohung völlig im Klaren sein.“ Der Krieg könnte „von einem Ausmaß sein, wie es unsere Großeltern und Urgroßeltern erlebt haben“.

Jede faktenbasierte Analyse muss zu dem Schluss kommen, dass die russische Armee nicht über die konventionellen Fähigkeiten einschließlich der Personalstärke verfügt, EU-Europa bzw. die europäischen NATO-Staaten im klassischen Sinne erfolgreich zu überfallen und großräumige Flächen dauerhaft zu okkupieren.

Exkurs

Wohl aber liegen die Gefahren militärischer Eskalationen sehr deutlich in der Luft: der Ostseeraum, die Republik Moldau und der Schwarzmeerraum. Hier sind klassische Truppenmassierungen und -bewegungen in sehr begrenzten Räumen wie der Suwalki-Lücke (Raum zwischen den NATO-Mitgliedsstaaten Litauen und Polen, der die russische Exklave Kaliningrad von Weißrussland und Russland trennt) nicht auszuschließen. Auch sind maritime Schlagabtausche im Ostseeraum (Kaperungen von Schiffen der sogenannten „Schattenflotte“ Russlands durch NATO- bzw. EU-Staaten – was es bereits gegeben hat – oder eine Seeblockade der russischen Städte St. Petersburg und Kaliningrad, gekoppelt mit einer Landblockade der Exklave Kaliningrad) mittlerweile denkbar (hier und hier) – wer auch immer den berühmten ersten Schuss abgibt.

Bei einer weiteren Eskalation ist angesichts der signifikanten Unterlegenheit der russischen Fähigkeiten im klassisch-konventionellen Bereich eher mit dem Einsatz von weitreichenden Distanzwaffen (zunächst konventionelle, bei zunehmender Eskalation gegebenenfalls mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattete Hyperschallwaffensysteme) zwecks Zerstörung militärischer, politischer und ziviler Hochwertziele zu rechnen. So empfehlen es die beiden russischen Sicherheitsexperten Dmitri Trenin und Sergej Karaganow in ihrem Werk mit dem Titel „Von der passiven zur aktiven Abschreckung“ aus dem Jahre 2024 dem Kreml.

Ob die russische Führung derweil überhaupt die Absicht hegt, Europa anzugreifen, sei dahingestellt. Jedenfalls dementierten sowohl der russische Präsident wie auch sein Außenminister jüngst derartige Absichten und boten stattdessen an, eine gegenseitige Nichtangriffsgarantie vertraglich zu fixieren. Dieses Angebot wurde seitens der westlichen Staaten bislang nicht aufgegriffen. Das ist mehr als bedauerlich, wenn man bedenkt, dass Europa am Rande eines großen Krieges steht.

Exkurs Ende

Die Feindbildkonstruktion und in dieser Logik notwendige Aufrüstung EU-Europas obliegen meiner Meinung nach zwei Gründen, einem externen und einem internen:

Extern wird die multipolare Weltordnung nicht als Chance für einen globalen Neuanfang auf Augenhöhe, sondern vielmehr als Gefahr für die eigene traditionelle, jedoch bereits massiv schwindende Globaldominanz verstanden, der man mit allen – auch militärischen – Mitteln gegenübertreten müsse. Mehr noch: In EU-Europa scheint man richtigerweise zu ahnen, dass mit der Herausbildung einer multipolaren Weltordnung noch nicht ausgemacht ist, ob EU-Europa selbst einen Pol darstellen wird; oder ob die EU-Integration diesen globalen Neuordnungsprozess überhaupt überleben wird, womit der interne Grund deutlich wird:

Intern sollen Feinbildkonstruktion – als neue Erzählung – und Aufrüstung als Kitt für den Zusammenhalt EU-Europas dienen, denn die ursprüngliche Erzählung der europäischen Integration als Friedensprojekt und Hort des Wohlstands verliert angesichts der neuen Realitäten an Bindekraft.

Beide Gründe haben rein gar nichts mit einem aufgeklärten Realismus zu tun, sondern sind vielmehr Ausdruck eines ideologisch getriebenen Aktionismus.

Multipolarität – Stabilität im völkerrechtlichen Sinne?

„(…) da ihr so gut wißt wie wir, daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt.“ (Thukydides: „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“)

Dieser von Thukydides, einem Zeitzeugen des Peloponnesischen Krieges während der griechischen Antike, formulierte Satz offenbart, wie wenig die Menschheit sich doch unter dem zivilisatorischen Gesichtspunkt weiterentwickelt hat. Auch die kurze Epoche der unipolaren Weltordnung hat nicht zu einem beispielhaften Leuchtturmverhalten des Westens und zu einer von ihm unterstützten internationalen Rechtsstaatlichkeit geführt, sondern vielmehr blanke Macht- und Interessenpolitik – rhetorisch in einem Wertemäntelchen gepackt – offenbart.

Der aus den Denkschulen des Idealismus erwachsene zivilisatorische Gedanke, sich auch ohne Druck rechtskonform zu verhalten, einen Beitrag durch vorbildliches Verhalten zu leisten, die Staatenwelt rechtsstaatlich zu strukturieren, unterlag dem primitiven realpolitischen Machtinstinkt, in der Stunde der Gunst das Faustrecht wirken zu lassen, um sich maximale Vorteile zu verschaffen. Ein aufgeklärter Realismus hingegen hätte langfristig und strategisch gedacht. Unter dem primitiven Realismus wurde die unipolare Weltordnung zum Grabe des Völkerrechts und der UNO. Der praktizierte Rechtsnihilismus hat einen Namen: Die „regelbasierte internationale Ordnung“ – sie ist eine direkte Absage an das konsensuale Völkerrecht und die internationale Rechtsstaatlichkeit.

Die Frage ist nun: Wenn das unipolare System, geführt von einem primitiven Realismus, als vertikales/hierarchisches Machtsystem diametral zum auf Ausgleich und auf Augenhöhe stehenden UNO-Völkerrecht („souveräne Gleichheit“ gem. Art. 2 Abs. 1 UN-Charta) steht, kann eine bi- oder multipolare Weltordnung zu einem anderen Ergebnis führen?

Ein Rückblick in die europäische Geschichte der letzten 200 Jahre erlaubt zumindest eine Tendenzaussage:

  • Der Wiener Kongress 1815 in Folge der Napoleonischen Kriege: Es wurde ein Mächtegleichgewicht (Europäisches Mächtekonzert, also eine multipolare Ordnung) in Europa vereinbart. Dieses schuf für über 50 Jahre, je nach Betrachtung auch für fast 100 Jahre eine relative Stabilität auf dem Kontinent. Diese Ordnung basierte auf einer relativen Ausgewogenheit der Machtpotenziale ihrer fünf Staaten – Preußen, Österreich, Russland, Frankreich und Großbritannien.
  • Die Phase der bipolaren Weltordnung 1945 bis 1990: Die militärische Macht beider Blöcke zwang sie zu erhöhter, wenn auch nicht absoluter Disziplin, die internationalen Rechtsnormen, wenn vielleicht nicht aus tiefer Rechtsüberzeugung, so doch aus Furcht vor der Vergeltung des anderen Blocks, weitgehend zu respektieren. Der NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien wäre unter den Bedingungen des Kalten Krieges mit hoher Wahrscheinlichkeit nur um den Preis eines Weltkrieges möglich gewesen. Der Vietnamkrieg hingegen war weit weg von Europa, die US-amerikanischen Rechtsbrüche in Südostasien waren zwar offensichtlich; aber Vietnam hatte für die UdSSR nicht den Stellenwert, einen Stellvertreterkrieg zu einem Weltkrieg eskalieren zu lassen.

Die politische Macht – sich primär speisend aus ökonomischen und militärischen Potenzialen – ist letztlich der entscheidende Faktor für oder gegen die Disziplin, Recht zu respektieren.

Diese Macht ist es, die im Zweifelsfall die Respektierung des Rechts erzwingt und nicht der „gute Glaube“ („bona fide“) an das Einhalten von Verpflichtungen oder Versprechungen, wie beispielsweise die Nichterweiterung der NATO gegenüber einem an Macht schwindenden Akteur wie der UdSSR bzw. Russland.

Eine bi- oder multipolare Weltordnung ist keine Garantie für ein Wiedererstarken, für eine Blüte des modernen Völkerrechts, für eine internationale Rechtsstaatlichkeit und damit einhergehend für den „Ewigen Frieden“ in Anlehnung an Kant. Die Wahrscheinlichkeit, multilateral getroffene Entscheidungen und Regeln einzuhalten, ist angesichts einer oder mehrerer sich ausgleichender Gegenmächte wahrscheinlicher als in einer unipolaren Weltordnung. Diese Erkenntnis gilt heute so wie vor 2.500 Jahren in der griechischen Antike unter Thukydides.

Der aufgeklärte Realismus für eine friedliche Welt bedeutet:

  1. Den Begriff des „Realismus“ im Sinne der politikwissenschaftlichen Denkschule zu verstehen. Das heißt, dass Macht und ihre Akkumulation durch Staaten eine Realität sind und dass eine Einhegung derselben nicht durch nette Worte gelingt, sondern durch Gegenmacht (Bi- oder Multipolarität). Zwar handelt es sich damit nicht um einen paradiesischen Friedenszustand, nicht um einen Frieden seiner selbst willen, sondern um einen aufgedrückten Frieden angesichts der Machtverhältnisse. Genau dieses Verständnis unterscheidet den aufgeklärten Realismus vom primitiven Realismus sowie vom naiven Idealismus. Die friedliche Koexistenz der Staaten ist sodann die Mindestanforderung für Stabilität und Frieden.
  2. Die weltpolitische Zäsur, den Umbruch nicht als Gefahr zu verstehen, gegen die man aufrüsten und Krieg führen müsse, sondern als Chance, an der sich unabweislich neu formierenden Weltordnung vernunftgeleitet und aus ureigenstem Interesse gleichberechtigt mitzuwirken, statt die Forderungen nach Selbstbestimmungsrecht, Souveränität und Interaktion auf Augenhöhe anderer Völker und Staaten als Angriff auf „unsere Lebensweise“ zu behaupten.

Titelbild: Natalya Bardushka / Shutterstock

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