Gespensterdebatten um die duale Berufsausbildung

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Letzte Woche debattierte der Bundestag über den Berufsbildungsbericht 2007 [PDF – 41.8 MB]. Es ist eine Gespensterdebatte, die hier vorgeführt wurde. Statistiken werden geschönt oder gar gefälscht, das Scheitern wird mit partiellen Erfolgsmeldungen übertüncht. Die nüchterne Wahrheit ist: Die duale Ausbildung ist nur noch ein Fetisch, weniger als die Hälfte der neu hinzukommenden Bewerber finden einen Ausbildungsplatz, für Hauptschüler werden die Chancen immer schlechter und nur noch ein Drittel aller Jugendlichen mit Migrationshintergrund können in einen Ausbildungsbetrieb vermittelt werden. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit der Jugendlichen ist doppelt so hoch wie bei den Erwachsenen. Hier sammelt sich ein sozialer Sprengstoff von bisher unbekanntem Umfang an. Wolfgang Lieb.

Alle Jahre wieder bekräftigt die Bundesregierung das Ziel, dass jeder ausbildungsfähige und ausbildungswillige Jugendliche ein Ausbildungsangebot erhalten soll. Der sog. Ausbildungspakt wird alle Jahre wieder gelobt und soll nun bis 2010 verlängert werden. Alle Jahre wieder fordert die Bundesregierung die Unternehmen auf zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Alle Jahre wieder wird das Loblied auf die duale Ausbildung gesungen. Politische Erklärungen, die nur noch hohle Phrasen sind:

Laut dem Berufsbildungsbericht 2007 der Bundesregierung wird die Nachfrage nach dualer Ausbildung auch in den nächsten Jahren hoch bleiben. Zwar werde die Zahl der Schulabgänger im Osten bis 2011 auf 110.000 Jugendliche zurückgehen, doch im Westen würden es bis ins Jahr 2015 nicht weniger als 708.000 Absolventen bleiben.
Seit Jahren wird uns das gleiche Märchen erzählt. Der Ausbildungspakt sei ein Erfolg. Von Oktober 2005 bis Oktober 2006 seien 576.153 neue Ausbildungsverträge geschlossen worden, das seien 4,7 Prozent mehr als zuvor.

Das hört sich gut an. Verschwiegen wird dabei allerdings, dass sich die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen um 5,9 Prozent erhöht hat. Selbst wenn man nur die (geschönten) offiziellen Angaben der Bundesagentur von 763.079 Bewerber und Bewerberinnen um einen Ausbildungsplatz der Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge gegenüber stellt, kann man durch einfache Subtraktion ausrechnen, dass eine riesige Lücke klafft. Nach Hochrechnungen des Bundesinstituts für Berufsausbildung und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, sind 160.000 Bewerber ohne konkretes Ausbildungsangebot geblieben sind, obwohl sie eine betriebliche Ausbildung anstrebten.

Die von der Bundesagentur ausgewiesene Ausbildungslücke ist schon deshalb geschönt, weil alle Jugendlichen, die in Warteschleifen sind oder schlicht aufgegeben haben, aus der Statistik fallen. 22% der erfolglosen Bewerber besuchten mehr oder weniger freiwillig weiter eine allgemeinbildende Schule besucht oder eine sog. berufsvorbereitende Maßnahme absolviert und der Rest landet irgendwo in „Zwischenlagern“, davon 10% als ungelernte Hilfskräfte.

Das duale System wird in der politischen Debatte wie eine heilige Monstranz angebetet. Hinter dem geheiligten Objekt verbirgt sich jedoch die desillusionierende Tatsache, dass die duale Ausbildung auf 43 Prozent der jährlichen Neuzugänge zur beruflichen Bildung zurückgefallen ist [PDF – 160 KB]. Gleichzeitig ist das Übergangssystem, in dem Jugendliche keine qualifizierte Berufsausbildung, sondern unterschiedliche Maßnahmen der Berufsvorbereitung vermittelt bekommen, auf 40 Prozent der jeweiligen Neuzugänge angewachsen ist. Das Schulberufssystem nimmt 17 Prozent auf.
Wer angesichts einer solchen Entwicklung noch das Hohelied auf die duale Berufsausbildung singt und das gar noch als international beispielhaft bejubelt, betet einen Fetisch an.
Alle Welt redet vom demografischen Problem und denkt dabei an eine Überalterung in fünfzig Jahren. Über das ganz aktuelle Problem der demografisch bedingten gestiegenen Nachfrage nach Ausbildung spricht leider kaum jemand.

Da wird vom DIHK-Präsidenten Braun, die Ausbildungslücke mit einer „Qualitätslücke“, begründet. Er will uns also vorgaukeln, dass die Tatsache, dass weniger als 25 Prozent der Betriebe, die ausbilden könnten, dies auch tun, vor allem daran liege, dass die Jugendlichen schulisch zu schlecht ausgebildet sind. Viele Unternehmensvertreter wollen uns einreden, dass mehr als 50 Prozent der Bewerberinnen und Bewerber schlicht unfähig seien, eine Ausbildung anzutreten. Gleichzeitig wird aber von den gleichen Interessenvertretern ständig um eine weitere Verkürzung der Berufsschultage gekämpft. Wer auf solch hohem Ross sitzt braucht sich dann nicht mehr über einen Fachkräftemangel beschwerden. Am liebsten würde die Wirtschaft zur Berufsausbildung – wie das für manche Ausbildungszweige schon der Fall ist – nur noch Abiturienten aufnehmen oder künftig dann die Bachelor von den Hochschulen.

Ach ja, das Thema akuter Fachkräftemangel, das angesichts eines zarten Konjunkturpflänzleins schon wieder als Wachstumsbremse vorgeschoben wird. Ein vielstimmiger Chor bis hin zur OECD ruft nach der Anwerbung von ausländischen Fachkräften. Martin Baethge hat in seiner schon zitierten Studie dazu einmal ein paar erhellende Zahlen gegeneinander gestellt: „Zwischen 2005 und 2006 stieg der Bestand an offenen Stellen in den wichtigsten Metallberufen um 80%, bei den Elektrikberufen um 92%. In diesen Berufsgruppen sanken die Ausbildungsneuverträge seit Mitte der 1980er Jahre um 60 bis 80 Prozentpunkte. Ähnliches gilt für den Baubereich. Das zeigt: Die sich abzeichnende Fachkräftelücke ist hausgemacht.“

Jeder Fünfte eines Altersjahrgangs landet nach der Schule in einem „Übergangssystem“ [PDF – 140 KB]. Wer ohne Schulabschluss ist – und das werden immer mehr – hat schon überhaupt keine Chance auf eine Ausbildung (84 Prozent landen im Abseits), nur jeder dritte Jugendliche mit einem Migrationshintergund findet einen Aubildungsplatz und sogar weit über die Hälfte aller Jugendlichen mit Hauptschulabschluss gehen in irgendwelche Warteschleifen oder verschwinden irgendwann aus der Statistik.
Laut Berufsbildungsbericht sind dass derzeit 1,3 Millionen Schulabgänger im Alter bis zu 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung – Tendenz stark ansteigend. Kein Wunder, dass die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen mit 15 Prozent inzwischen schon doppelt so hoch ist, wie bei den Erwachsenen.
Hier sammelt sich eine demografische und soziale Zeitbombe, gegenüber der die Hysterie vor der Überalterung sich eher als Aprilscherz darstellt.

An dieser Stelle können keine Vorschläge zur Abhilfe gemacht werden, dazu hat aber etwa Wolf-Michal Catenhusen, ehemals Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, einige richtige Anstöße gegeben [PDF, wie zuvor – 140 KB].

Weil eine Ausbildungsplatzumlage für die SPD in der Großen Koalition ein Tabu bleibt, hat Arbeitsminister Müntefering in der Debatte um den Berufsbildungsbericht nun „Vergünstigungen“ für Unternehmen, die überdurchschnittlich viel ausbilden, angeregt. «Diejenigen, die ausbilden, sollten daraus einen Vorteil haben», sagte der Ressortchef.

Während also in der Sozialpolitik und vor allem gegenüber den Arbeitslosen – die am wenigsten für ihre Arbeitslosigkeit können – vor allem das Prinzip „Fordern“ angewandt wird, soll also gegenüber den Unternehmen – die jedenfalls in ihrer Gesamtheit von Fachkräfteausbildung profitieren – ausschließlich das Prinzip „Fördern“ zur Anwendung kommen. Über 500.000 Betriebe, die ausbildungsfähig wären, aber nicht ausbilden bleiben also „ungefordert“ und können sich beruhigt zurück lehnen und diejenigen Unternehmen, die ausbilden sollen einen Obolus bekommen.
„Anreizkompatibilität“ wird so etwas in der neoklassischen Wirtschaftstheorie genannt; will sagen, die Unternehmen brauchen (pekuniäre) Anreize um zu einem auch in ihrem Interesse liegenden Handeln veranlasst zu werden. Die arbeitlosen Jugendlichen müssen dagegen über Hartz IV und entsprechende Sanktionen bestraft werden, damit sie sich als verwendbare Arbeitnehmer qualifizieren lassen.

Es ist schon grotesk: Da hat schon längst eine schleichende Verstaatlichung der beruflichen Ausbildung stattgefunden, indem der Staat schon jährlich über 8 Milliarden allein für das Übergangssystem aufwendet, und jetzt sollen mit öffentlichen Geldern auch noch die Betriebe subventioniert werden, die den Ersatzbedarf für sich und für diejenigen ausbilden, die sich bequem zurücklehnen.

Geradezu unverschämt ist allerdings, dass diese Subventionen auch noch aus der Arbeitslosenversicherung, zur Hälfte also von den Arbeitnehmern finanziert werden sollen. Darüber solle bei der künftigen Gestaltung der Arbeitslosenversicherung gesprochen werden, regte Müntefering an.
Die Arbeitslosenversicherung also als Kriegskasse zum Stopfen für Haushaltslöcher, als Spartopf für die Pflegeversicherung, als Subventionsquelle für ausbildende Betriebe, man darf gespannt sein, wofür die Versicherungsbeiträge sonst noch missbraucht werden.

Wer allerdings Glauben machen will, mit solchen „Anreizen“ an ausbildende Betriebe die Ausbildungsmisere beheben zu können, der täuscht einmal mehr sich und andere.

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