Ich bin ein Tsipras-Versteher!

Jens Berger
Ein Artikel von:

So schnell kann es gehen. Vor wenigen Wochen noch war Alexis Tsipras der Hoffnungsträger für Millionen Europäer, die mit der neoliberalen Agenda nicht einverstanden sind. Heute gilt er vielen linken Kommentatoren als „Verräter“. Wer sich als „Tsipras-Versteher“ outet, gerät schnell in Verdacht, dem neoliberalen Dogma der Alternativlosigkeit das Wort zu reden. In dieser hitzig geführten Debatte gibt es jedoch kein „richtig“ und kein „falsch“ und man sollte sich hüten der einen oder anderen Seite „Verrat“ vorzuwerfen. Ein Debattenbeitrag von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wer soll das noch verstehen? Im Januar dieses Jahres gewann Syriza die griechischen Wahlen mit einem Traumergebnis. Im Gepäck hatte man ein ganzes Bündel progressiver Ideen und guter Vorschläge, um die Dauerkrise in Griechenland zu beenden und dem Diktat der Troika echte Alternativen entgegenzusetzen. Vor zwei Wochen ließ Syriza dann das griechische Volk abstimmen, das sich mit großer Mehrheit gegen das Austeritätsdiktat aus Berlin und Brüssel aussprach. Dennoch beugte sich Alexis Tsipras und unterzeichnete letzte Woche ein Diktat, das in vielen Punkten sogar noch über die Forderungen hinausgeht, die das griechische Volk abgelehnt hat. Klar, Tsipras hat seine Ideale verraten und Syriza geht nun den Weg der meisten ehemals linken oder sozialdemokratischen Parteien – so zumindest die zu erwartende Reaktion vieler deutscher Syriza-Sympathisanten. Ist es wirklich so einfach?

Wie aus tausend Alternativen Alternativlosigkeit werden kann

Natürlich gibt es Alternativen zu Hauf. Auch die NachDenkSeiten haben in den zurückliegenden Jahren immer wieder alternative Ideen publiziert und stets darauf hingewiesen, dass die Austeritätspolitik der Troika zu einer Katastrophe führen muss. Die Schar der Kritiker ist seitdem gewachsen. Heute sind die Positionen der NachDenkSeiten unter kritischen Zeitgenossen Gemeingut. Eines haben die „guten“ Ideen fast aller Kritiker an der herrschenden Politik gemein: Sie setzten voraus, dass Griechenland souverän entscheiden kann und die „Institutionen“ (also Eurogruppe, EZB und IWF) Griechenland dabei keine all zu großen Steine in den Weg legen. Mehr noch – ein Szenario, in dem Griechenland im Euro bleibt und sich gleichzeitig vom Austeritätsdiktat der Institutionen befreit, setzt zwingend voraus, dass die Institutionen diesem Szenario auch zustimmen. Der dabei wohl wichtigste Parameter ist die Frage, ob Griechenland denn nun im Euro bleibt oder nicht.

Wenn es nun um die tausend Alternativen geht, so muss man auch hier unterscheiden – welche Alternativen beinhalten ein Verbleiben im Euro, welche beinhalten ein komplettes oder zumindest punktuelles Entgegenkommen der Institutionen und welche Alternativen sehen einen Austritt aus dem Euro oder gar der EU vor. Wenn man nun aus den vorhandenen Alternativvorschlägen diejenigen aussiebt, die ein Verbleiben im Euro und ein Entgegenkommen der Institutionen beinhalten, wird es schnell eng. Und an genau dieser Stelle stand die griechische Delegation in der Endphase der letzten Verhandlungen.

Drei Viertel aller Griechen und auch die übergroße Mehrheit der Syriza-Wähler will prinzipiell im Euro bleiben. Und dies aus gutem Grund, schließlich bedeutet ein Ausschluss aus dem Euro eine ökonomische Katastrophe ersten Grades – zumal dann, wenn dieser Prozess nicht von den Institutionen begleitet wird und es keine ausgeklügelten Exit-Szenarien gibt. Und hier nähern wir uns dem Kern des Problems: Weder die Institutionen noch die griechische Regierung hatten oder haben einen echten „Plan B“. Nach allem, was wir heute wissen, war ein Grexit für Alexis Tsipras nie eine Alternative. Den ökonomischen und politischen Selbstmord scheute der Syriza-Vorsitzende und blieb zumindest in diesem Punkt auch seinen Wahlversprechungen treu. In der Endphase der Verhandlungen gab es demnach folgendes Szenario: Auf der einen Seite die griechische Regierung, die kein einziges überzeugendes Druckmittel in der Hand hat und einen Ausschluss aus der Eurozone auf jeden Fall verhindern will; und auf der anderen Seite die Institutionen, de facto angeführt von politischen Hassadeuren wie Jeroen Dijsselbloem und Wolfgang Schäuble, die fest entschlossen waren, kein Jota von ihren Forderungen abzurücken und notfalls einen ungeordneten Grexit zu provozieren. Und nun die entscheidende, wenn auch rhetorische, Frage: Welche Alternative hatte Alexis Tsipras in diesem Szenario?

Wenig hilfreich sind in diesem Kontext übrigens die Ausführungen von Yanis Varoufakis. Die „Optionen“, die er in einem Interview mit dem New Statesman nennt (Ausgabe von Schuldscheinen, Übernahme der griechischen Zentralbank), sind freilich mehr oder weniger sinnvolle Alternativen – aber eben keine Alternativen, die dem oben genannten Szenario entsprechen, da sie – da kann es kaum Zweifel geben – zu einem Rückzug der Institutionen und einem Auslaufen der ELA-Kredite geführt hätten … also zum ersten Schritt eines nicht mehr vermeidbaren Grexit.

Wenn man also die von Tsipras gewählte oberste Direktive, nach der es unter Syriza keinen Grexit geben wird, ernst nimmt, hat es zu diesem Zeitpunkt keine echte Alternative mehr gegeben. Friss oder stirb! Die einzige Alternative, die Tsipras und Co. noch hatten und haben, ist, geschlossen zurückzutreten und es einer anderen Regierung zu überlassen, die Vorgaben umzusetzen, an die bei Syriza niemand glaubt. Über diesen Punkt lässt sich freilich vortrefflich streiten. Tsipras und seine Anhänger argumentieren hier [PDF – 113 KB], dass sie als linke Regierung zumindest im begrenzten Rahmen dafür sorgen würden, dass man das Beste aus dem zerstörerischen Diktat aus Brüssel machen und die schlimmsten Folgen abfedern könnte. Ob dies nicht nur ein Wunschtraum ist? Dem Land wäre jedenfalls keinesfalls damit geholfen, wenn nun wieder die alten Eliten das Ruder übernehmen und Brüssels Vorgaben in ihrem Sinne umsetzen. Egal, wie Syriza sich entscheidet – es kommt für die griechische Bevölkerung entweder dick oder knüppeldick; kein angenehmer Gedanke und ganz sicher kein Wunschergebnis.

Wie immer man diese konkrete Entscheidung auch bewertet – Alexis Tsipras „Verrat“ vorzuwerfen, ist unredlich und feige. Dass der Posten des griechischen Ministerpräsidenten nicht vergnügungssteuerpflichtig ist, steht außer Frage. Tsipras zeigt jedoch vor allem, dass er die Verantwortung, die auf ihm lastet, ernst nimmt. Es ist leicht daher gesagt, man solle die Troika doch vom Hofe jagen, die Schulden einfach nicht zurückzahlen, sich dem Diktat widersetzen und die Souveränität zurückerlangen. Schneidig hört sich das ja alles an. Aber was wären die Folgen eines derartigen Handelns? Was nutzt es, das “Richtige” getan zu haben, wenn der Preis dafür nicht nur das eigene Leben, sondern gleich das Leben von Millionen Schutzbefohlenen ist? Und ein ungeordneter Grexit wäre für das Land eine noch größere Katastrophe als es eine Fortführung der katastrophalen Austeritätspolitik ist – so viel sollte klar sein.

Wer trägt die Schuld? Wer die Verantwortung?

Kommen wir zum „Blame-Game“; wer trägt denn nun die Verantwortung dafür, dass Griechenland nur die Wahl zwischen einem großen und einem sehr großen Übel hat? Der griechischen Seite kann man jedenfalls keine nennenswerten Vorwürfe machen. Es mutet zumindest mir grotesk an, wenn der ansonsten so vernünftige Ökonom Paul Krugman sich in einem Interview „enttäuscht“ von Syriza zeigt, da diese keinen „Plan B [hatten], wenn die Finanzhilfen ausblieben“. Wie sollte denn dieser „Plan B“ aussehen? Wie oben angeführt, setzt jeder halbwegs sinnvolle „Plan B“ ein zumindest teilweises Entgegenkommen der Institutionen voraus, das jedoch ganz offensichtlich nicht vorhanden war. Auch Krugman vergisst, dass Griechenland eben kein souveräner Staat ist, der finanzpolitisch souverän agieren kann. Das ist so, als werfe man einem neu eingesetzten Geschäftsführer einer Firma, die kurz vor dem Bankrott steht, vor, die Vorgaben der Gläubiger und des Insolvenzverwalters zu befolgen und keinen „Plan B“ in der Tasche zu haben. Man hat nur dann Handlungsoptionen, wenn man souverän ist. Griechenland ist aber nicht souverän.

Natürlich haben Krugman und andere Ökonomen vollkommen Recht, wenn sie darauf verweisen, dass die Eurozone eine Fehlkonstruktion ist und ein Verbleiben in diesem Euro auch keine sinnvolle Alternative sein kann. Es ist auch wichtig und richtig, dass von Ökonomen alternative Modelle und notwenige Reformen an der Konstruktion der Eurozone angemahnt werden. Doch was nutzt dies den Griechen in der konkreten Situation? Dies sind allesamt Vorschläge, die mittel- bis langfristig wirken und mit dem konkreten Verhandlungsgegenstand nichts zu tun haben. Oder meint irgendwer ernsthaft, dass sich die Herren Dijsselbloem und Schäuble von einem griechischen Finanzminister Verbesserungsvorschläge am Konstrukt der Eurozone anhören würden? Man kann und muss die vorhandene Borniertheit kritisieren. Leider muss man sie jedoch auch als gegeben akzeptieren – zumindest dann, wenn es um die konkreten Verhandlungen im Rahmen der „Hilfsgelder“ geht. Mit guten und vollkommen richtigen Argumenten aus dem Elfenbeinturm kommt man hier leider nicht weiter. Die ideologische Verbohrtheit der Deutschen ist vor allem dann unangenehm, wenn Deutschland die Hebel in der Hand hält. Dies war und ist bei den Verhandlungen mit Griechenland der Fall.

Trägt dann also Deutschland die Verantwortung? Ja natürlich! In Zusammenarbeit mit der „Koalition der Willigen“, den „wahren“ Finnen, Slowaken und Litauern, hat vor allem die vollends vernagelte und verbohrte Linie der deutschen Regierung dazu geführt, dass die griechische Regierung mit sämtlichen Alternativvorschlägen noch nicht einmal angehört wurde. Es ist ja auch grotesk – da will auf griechischer Seite ein smarter und überaus qualifizierter Ökonom wie Yanis Varoufakis seine Verhandlungspartner mit (guten) Argumenten überzeugen und die Verhandlungspartner hören ihm noch nicht einmal zu. Aber was hat Varoufakis sich denn gedacht? Dass Wolfgang Schäuble ob der gewonnen Erkenntnisse „Heureka!“ schreit, aus dem Rollstuhl aufspringt und die Austeritätspolitik für gescheitert erklärt? Sehen wir es doch einmal resignativ realistisch – von dieser deutschen Regierung ist kein Hauch von Vernunft zu erwarten, wir haben es mit bornierten Überzeugungstätern zu tun, die nur dann von ihrer „reinen Lehre“ ablassen, wenn sie dazu gezwungen werden.

Griechenland hatte und hat jedoch keinen Hebel, Deutschland zu irgendetwas zu zwingen. Wobei wir bei den eigentlichen Verantwortlichen sind: Warum scheiterte Griechenland denn in den Verhandlungen? Vor allem deshalb, weil es keine Verbündeten finden konnte. Wo waren denn die „Sozialdemokraten“ aus Frankreich oder Italien, die durchaus einen Hebel auf Deutschland haben? Wo war Monsieur Hollande? Wo war Signore Renzi? Maulhelden, die hinter den Kulissen das grausame Spiel der Deutschen mitspielen und es nicht wagen, die Berliner Allmacht zu hinterfragen. Und wo waren die deutschen Sozialdemokraten? Ach, lassen wir das. Die Antwort kennen Sie. Wer nach „Verrätern“ sucht, wird nicht in Athen, sondern in Paris, Rom und im Willy-Brandt-Haus fündig. Auch wenn man ihm nicht in jedem Punkt zustimmen muss und auch wenn er einige vermeidbare Fehler gemacht hat – Alexis Tsipras ist kein Verräter, er erweist sich auf dem Scheitelpunkt der Krise vielmehr als echter Landesvater, der seine hoffnungslose Lage anerkennen musste und dennoch das Schicksal seines Volkes ernst nimmt. Und damit gehört er wohl auf die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Arten.

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