Bertelsmann-Studie: „Die volkswirtschaftlichen Kosten unzureichender Bildung sind gewaltig“

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„Die Tatsache, dass in Deutschland etwa jeder fünfte Jugendliche eine nur unzureichende Bildung erhält, zieht volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von rund 2,8 Billionen Euro (2.800.000.000.000 Euro) nach sich“, so fassen die Autoren Ludger Wößmann und Marc Piopiunik vom Münchner Ifo-Institut das Ergebnis ihrer Projektionsanalyse im Auftrag der Bertelsmann Stiftung [PDF – 1.3 MB] zusammen . Eine solche Projektion, die Bildung auf zusätzliche PISA-Punkte reduziert und im Kern die langfristige Wachstumsrate mit einer Verbesserung um 100 zusätzlichen PISA-Punkten korreliert und diese beiden Annahmen dann noch bis ins Jahr 2090 hoch rechnet, kann man für problematisch und unzureichend halten, aber immerhin macht die Studie deutlich, dass die volkswirtschaftlichen Kosten einer unzureichenden Bildung horrend sind. Wolfgang Lieb

Die Autoren der Studie ermitteln die Folgekosten unzureichender Bildung, indem sie die Wachstumseffekte einer Reform berechnen, welche die unzureichende Bildung innerhalb der nächsten zehn Jahre schrittweise reduziert. Das Wirtschaftswachstum mit Bildungsreform wird dann über einen Betrachtungszeitraum von 80 Jahren – der durchschnittlichen Lebenserwartung eines heute geborenen Kindes – mit dem Wirtschaftswachstum ohne Bildungsreform verglichen. Die Studie zeigt, dass durch eine Bildungsreform Erträge in Höhe von 2.808 Milliarden Euro bis ins Jahr 2090 möglich sind – mehr als das gesamte heutige Bruttoinlandsprodukt Deutschlands. Diese Erträge entsprechen spiegelbildlich den Folgekosten unzureichender Bildung durch entgangenes Wirtschaftswachstum.

An der Studie ist positiv zu bewerten, dass sie die Bedeutung von Bildung für das Wirtschaftswachstum darzustellen versucht und (didaktisch wohl gewollt) die Dringlichkeit des Reformbedarfs mit dem riesigen Ausmaß der volkswirtschaftlichen Kosten einer unzureichenden Bildung vor Augen führen möchte.

Wichtig ist auch, dass die Studie das Augenmerk vor allem auf die Gruppe der in der PISA Studie so genannten „Risikoschüler“ richtet und in der Reduktion „der unzureichenden Bildung in Deutschland eine der Zukunftsfragen unserer Gesellschaft“ sieht – und zwar sowohl was den Wohlstand als auch den sozialen Zusammenhalt anbetrifft. Die Projektion modelliert eine Bildungsreform, die die unzureichende Bildung zwar nicht vollkommen beseitigt, aber immerhin – beginnend im Jahr 2010 – im Verlaufe der kommenden 10 Jahre das Ausmaß an unzureichender Bildung um 90 Prozent verringert.

Sätze wie die folgenden kann man nur unterstreichen:

„Die Lebens- und Lernbedingungen der Risikoschüler und ihrer häufig sozial benachteiligten Familien müssen dringend verbessert werden. Ihre Heterogenität und kulturelle Vielfalt – viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund – sollten wir als eine Bereicherung unserer Gesellschaft wertschätzen und zum Ausgangspunkt allen Handelns in den verschiedenen Bildungsorten machen. Das erfordert an vielen Stellen des Bildungssystems Veränderungen und Paradigmenwechsel. Es muss zum Selbstverständnis der Pädagogen gehören, jedes Kind individuell zu fördern und bestmöglich in seiner Entwicklung zu unterstützen. Kinder und Jugendliche sollten länger gemeinsam in heterogenen Gruppen lernen. Lehrer und Schulen müssen verstärkt Verantwortung für den Schulerfolg übernehmen, statt die schwächeren Schüler durch Sitzenbleiben oder Abschulen abzuschieben. Schule ist als sozialer Ort gefordert, an dem Vielfalt geschätzt und soziales Miteinander aller – Kinder, Pädagogen, Eltern und Nachbarschaft – erfahrbar wird. Hierfür ist auch die Entwicklung hin zu Ganztagsschulen ein wichtiger Schritt. Da Kinder am besten von anderen Kindern lernen, brauchen sie erfolgreiche Vorbilder – gerade auch aus ihren eigenen Milieus.
Eine entscheidende Rolle bei der Aufgabe, die Bildungsbiographien von Risikoschülern besonders in den Blick zu nehmen, kommt der intensiven Kooperation zwischen Bildungseinrichtungen und Eltern zu. Sie kann die Lebens- und Bildungssituation von Kindern nachhaltig verbessern. Kindertageseinrichtungen und Schulen allein können diese Aufgabe nicht bewältigen. Gefragt sind hier Angebote und Service-Leistungen im Sozialraum, dem direkten Umfeld der Familien und Kinder.“

Interessant ist, dass die Studie – anders als das in vielen Eliteleitbildern der derzeitigen Bildungsreformkonzepte unterstellt wird – an Hand von spezifizierten Kombinationen zu dem Ergebnis kommt, dass nicht nur die Spitzenleistungen von Schülern, sondern gerade auch der Anteil der Schüler, die zumindest Grundfähigkeiten erzielen, einen signifikanten Einfluss auf das Wirtschaftswachstum haben. „Es kommt also sowohl auf die Spitze als auch auf die Breite an“ heißt es da.

Über den Versuch zwischen Bildungskompetenzen und Wirtschaftskompetenzen nicht nur eine Korrelation zu erkennen sondern auch auf einen kausalen Effekt zu schließen, lässt sich trefflich streiten, zumal wenn als Maßstab für Bildung die PISA-Ergebnisse zugrunde gelegt werden (Siehe kritisch dazu: Jochen Krautz: Ware Bildung). Aber dass die Durchschnittskompetenzen in der Bevölkerung mit dem langfristigen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf zusammenhängen, wird auch von PISA-Kritikern nicht bestritten.

Bei der Modellierung der langfristigen Wachstumseffekte werden in der Studie im Wesentlichen nur zwei Parameter zusammengeführt: erstens eine Verbesserung des PISA-Durchschnitts (die sich aus den geforderten Bildungsreformen ergeben soll) mit zweitens einem Wachstumskoeffizient. Eine Kompetenzerhöhung von zusätzlich 100 PISA-Punkten soll danach mit einem zusätzlichen jährlichen Wachstum von 1,265 Prozentpunkten einhergehen. Zusammen mit den „Zinseffekten“ errechnet sich dann langfristig die gewaltige Summe an zusätzlichem Sozialprodukt. (Bevölkerungsrückgang eingerechnet und bei konstant angenommener Lebensarbeitszeit)

Das mag man für eine zu grobe Vereinfachung halten, aber immerhin ist es bemerkenswert, dass das zwischen 1960 und 2000 gemessene durchschnittliche Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf umso höher liegt, je besser in den jeweiligen Ländern die Leistungen in den zurückliegenden internationalen Schülerleistungstests waren.

Es wirkt immer etwas weltfremd, wenn in ökonometrischen Modellen Aussagen über extrem langfristige Zeiträume getroffen werden. In dieser Studie werden die Kosten von unzureichender Bildung mit 2,8 Billionen Euro gar bis zum Jahr 2090, also in über 80 Jahren errechnet. Der Wachstumsgewinn läge höher als das gesamte heutige BIP von 2,5 Billionen Euro. Laut Studie „liegt das BIP aufgrund der Reform ab dem Jahr 2048 um mindestens 2,6 Prozent höher als ohne die Reform… im Jahr 2070 um 6,5 Prozent, im Jahr 2080 um 8,4 Prozent und im Jahr 2090 um 10,3 Prozent über dem BIP, das in diesen Jahren ohne die Bildungsreform erreicht würde.“
Würde es gelingen, die deutschen Schüler im Durchschnitt auf das finnische Durchschnittsniveau anzuheben, so beliefen sich die Erträge dieser Reform sogar auf 9,6 Billionen Euro, heißt es in der Studie.

Pro Kopf der heutigen Bevölkerung entgehe einem heute geborenen Kind über die nächsten 80 Jahre aufgrund der unzureichenden Bildung mehr als ein Wert von 34.000 Euro an zusätzlichem BIP.

Solche On-the-long-run-Modelle können in diesem Fall zumindest deutlich machen, dass Bildungsreformen vor allem langfristig wirken und einen ziemlich langen Atem brauchen. In den ersten beiden Jahrzehnten nach Reformbeginn seien die wirtschaftlichen Reformerträge noch relativ gering: Zunächst müsse die Reform im Bildungssystem voll umgesetzt werden, dann müssten die Kinder und Jugendlichen das verbesserte Schulsystem durchlaufen, anschließend müssten die besser gebildeten Jugendlichen in den Arbeitsmarkt eintreten – „und bis die unzureichende Bildung in der gesamten arbeitenden Bevölkerung weitgehend beseitigt ist, vergeht sogar rund ein halbes Jahrhundert.“

Die Studie macht keine Aussage über die Kosten, die durch die Bildungsreformen entstünden. Dazu findet sich nur der abwiegelnde Satz konservativer Bildungspolitiker: „Mehr Geld bringt nicht automatisch bessere Leistungen hervor.“ Aber immerhin wird errechnet, dass sich aus den Reformerträgen ab 2048 – Jahr für Jahr – die gesamten öffentlichen Bildungsausgaben im Elementar- und im allgemeinbildenden Schulbereich finanzieren ließen.

Man muss kein Anhänger der um das Humankapital erweiterten neoklassischen Wachstumsmodelle sein, auch andere Modelle kommen zum Ergebnis, dass sich Investitionen in Bildungsreformen selbst erwirtschaften. Die Erträge einer erfolgreichen Bildungsreform übersteigen – so die Autoren – die Kosten bei weitem. „Selbst wenn wir zur Erreichung des Ziels einer Verringerung der unzureichenden Bildung um 90 Prozent die Bildungsausgaben für jeden der heutigen Risikoschüler dauerhaft verdoppeln müssten, würden diese Kosten der Reform immer noch nur ein Viertel ihrer wirtschaftlichen Erträge ausmachen.“
Und: Mit den bis ins Jahr 2074 anfallenden Erträgen ließe sich die gesamte heutige Staatsverschuldung von rund 1,7 Billionen Euro komplett tilgen, errechnen die Autoren.

Die Projektionen in der Studie können nichts darüber aussagen, wie eine Beseitigung unzureichender Bildung erreicht werden könnte. Sie belegen nur die horrenden Kosten, wenn nichts geschieht.

Bei ihren Vorschlägen, welche bildungspolitischen Maßnahmen am vielversprechendsten sein könnten, um eine weitgehende Beseitigung von unzureichender Bildung zu erreichen, stützen sich die Autoren auf Erkenntnisse der bildungsökonomischen Forschung, die nicht von ihnen selbst stammen und schon gar nicht Ergebnis ihrer Studien sind.

Sie schließen sich etwa den Befunden an, dass Bildungsmaßnahmen gerade bei benachteiligten Kindern umso höhere Erträge erzielen können, je früher sie ansetzen und fordern dementsprechend eine qualitativ hochwertige frühkindliche und vorschulische Bildung für alle Kinder.
Zweitens plädieren sie für einen Unterricht in heterogenen Lerngruppen, der sich durch ein längeres gemeinsames Lernen unter einem Schuldach ergeben würde. Die empirische Bildungsforschung belege, dass davon gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten profitieren würden, ohne dass die besseren Schüler darunter leiden würden. In einem solchen System müsste gleichwohl jeder Schüler individuell optimal gefördert werden. Diesen Befunden dürften auch fortschrittliche Bildungspolitiker zustimmen.

Ein Tribut an den Auftraggeber, die Bertelsmann Stiftung, ist aber wohl die Empfehlung, dass die Schulen mehr Selbständigkeit erhalten und die Bildungsergebnisse regelmäßig extern evaluiert werden sollten. Warum nun gerade eine größere Selbstständigkeit und eine regelmäßige Evaluierung der Bildungseinrichtungen dazu beitragen sollten, dass sie auf die jeweiligen Bedürfnisse ihrer Schüler besser eingehen könnten, das sind Behauptung, die wohl eher der Mission der Bertelsmann Stiftung für die „selbstständige Schule“ (kritisch dazu: „Ökonomisierung von Bildung und Privatisierung von Bildungspolitik – Pädagogische An- und Einsprüche“ und deren Evaluationsprojekte à la „SEIS macht Schule“ (Siehe dazu „Bertelsmann bestimmt die Qualität unserer Schulen“ ) entsprechen, als empirischer Bildungsforschung.

Geradezu im Widerspruch zum Ziel der Studie, steht die Forderung nach „Schulen in freier Trägerschaft“, die „den Wettbewerb um die geeignetsten Ideen stärken, wie unzureichende Bildung am besten beseitigt werden“ könne. Die Wirklichkeit beweist das Gegenteil: Nahezu überall in den industrialisierten Ländern, wo Privatschulen einen hohen Anteil unter den allgemeinbildenden Schulen ausmachen, tragen sie zu einer hohen sozialen Auslese und zur Elitebildung bei. (Siehe auch Liberal-Konservative Elitenproduktion und Auf dem Weg zur „Bürgerschule“)

Fazit: Bertelsmann hat eine Studie in Auftrag gegeben, die die volkswirtschaftliche Bedeutung von Bildung bestätigt. Die Studie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Reduktion unzureichender Bildung und verdeutlicht die langfristige Wirkung und die Rentabilität von Bildungsreformen in der Zukunft.
Bei den bildungsreformerischen Vorschlägen der Autoren, die gar nicht auf ihrem „eigenen Mist“ gewachsen sind, folgen sie jedoch weitgehend der bildungspolitischen Mission ihres Auftraggebers.
Die Bertelsmann Stiftung wird daraus wieder Honig für ihre bildungspolitischen Kampagnen für die „selbstständige Schule“ und für ihre inzwischen kommerziellen Evaluationsangebote an die Schulen saugen, auch wenn die Anlage und Methode der Studie dafür gar keinen Ansatz bieten.

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