Chiles Taumel zwischen demokratischer Neugründung und autoritärer Regression – Ein Kommentar

Chiles Taumel zwischen demokratischer Neugründung und autoritärer Regression – Ein Kommentar

Chiles Taumel zwischen demokratischer Neugründung und autoritärer Regression – Ein Kommentar

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Meinen vor wenigen Tagen veröffentlichten Bericht zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Chile beendete ich mit einer Allegorie aus der Geschichte der Mythen. Mit der Bildsprache sollten die deutschen LeserInnen das Gemisch von Spannung und Ohnmacht erfassen, das sich seit Wochen im fernen Andenland ausbreitet. Im Schlussabsatz schrieb ich, Chile „taumelt […] zwischen der beunruhigenden Frage des Pilgers und der chiffrierten Antwort der schweigenden Sphinx: Sind die Betroffenen und langjährigen Opfer des Systems selbst bereit, ein demokratisches und sozial gerechteres Regierungsprogramm anzunehmen, oder werden sie dem leichten, aber faulen Ruf nach ´Ordnung´ folgen?”. Von Frederico Füllgraf.

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Nun, die Mehrheit der WählerInnen folgte tatsächlich dem faulen Ruf nach „Ordnung“: Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast besiegte im ersten Durchgang den bis vor Kurzem linken Favoriten Gabriel Boric mit 28 zu 26 Prozent der Stimmen. Somit muss Chile am kommenden 19. Dezember mit einer Stichwahl sich zwischen Kast und Boric für den nächsten Präsidenten entscheiden.

Eine chilenische Legende besagt, wer aus der ersten Wahlrunde als Sieger hervorgeht, siegt auch in der Stichwahl. Die Legende hat es in sich, Kast ist zum Guten oder zum Verderb der Medienheld der Stunde, doch das Würfelspiel hat gerade erst begonnen. Eines steht jedoch fest: Wer immer von beiden im März 2022 als Staatschef die Bühne betritt, wird sich einem rigiden, neuen Parlament gegenübersehen, in dem keiner der traditionellen Parteiblöcke der rechten und Mitte-Links-Strömungen die Mehrheit besitzt. Im 50-köpfigen Oberhaus werden sich je 25 konservative und 25 Mitte-Links-Senatoren gegenseitig blockieren und in der 155 Deputierte zählenden Abgeordnetenkammer werden, grob geschätzt, 79 Mitte-Links- und 76 konservative Abgeordnete ihre Sitze belegen; darunter zum ersten Mal 15 Abgeordnete von Kasts rechtsradikaler Partido Republicano.

Das wahltechnische Patt zwischen Kast und Boric, sowie dessen Wiederholung in der Zusammensetzung des Parlaments, könnte rein rechnerisch als Spiegel des politischen Gleichgewichts erklärt werden. Doch das wäre eine törichte Auslegung. In Wahrheit spiegelt es einen besorgniserregenden psychosozialen Zustand im Andenland wider, nämlich seine Spaltung zwischen Apathie, Reformwillen und Gegenreform. Beispiele? Hier das spektakulärste und aussagekräftigste: Nur knapp 47 Prozent der 15 Millionen Wahlberechtigten gaben am vergangenen 21. November ihre Stimme ab, rund 8 Millionen blieben zuhause. Der zweite Hinweis auf den Ernst der Lage sind die knapp 2 Millionen Stimmen für den deutschstämmigen Pinochet-Verehrer Kast, dessen Wahlkampf-Taktik auf die Verbreitung von Lügen, Angst und Psychoterror setzte und Erfolg hatte.

Der gute, rechtsradikale „Riecher“ gegen gestörtes, linkes Wahrnehmungsvermögen

Doch was verbindet den Zulauf für „Doktor Angst“ (Kast) und die gigantische Wahlenthaltung von mehr als 53 Prozent? Erstere betrachten seit Jahrzehnten die Politik als Terrain der Verachtung. Zum einen wegen des nie transparent gemachten, zwischen der ausgedienten Pinochet-Diktatur und der von Christdemokraten und Sozialisten dominierten Mitte-Links-„Concertación“ ausgehandelten „Pakts des demokratischen Übergangs“ – der seit 1990 bis heute die Grundfesten des obszönen, ultraliberalen Wirtschafts- und Sozialsystems beibehielt – zum anderen wegen der seitdem grassierenden Vetternwirtschaft und Korruption.

Der Umgang der Regierung Sebastián Piñera mit der Covid-19-Pandemie vertiefte Enttäuschung, Misstrauen und Verdrossenheit. Mit dem Nachgeben auf den Druck der Unternehmerseite, die das Volk zur Arbeit trieb, machte Piñera mit der Einstimmung in die Manager-Seilschaft sich der massenhaften Virus-Ansteckung und der Verweigerung einer Pandemie bedingten Notfinanzierung von Kleinunternehmen und der Werktätigen schuldig. Millionen ChilenInnen mussten forcierte Ratenabhebungen ihrer Pensionsersparnisse durch Gerichte und Parlamente erwirken, womit nicht die Piñera-Regierung, sondern die „gesamte Politik“ in alle Ewigkeit verflucht wurde.

Einen anderen Punkt bilden die verängstigten Kast-Wähler. Sie verkörpern die „Ordnungsbürger“, die seit Ausbruch der Sozialrevolte von Ende 2019 sich landesweit zu einer Art Gegenreform sammelten.

Doch Kasts Schlachtrufe gegen „die Kriminellen“, „den Narco-Terrorismus der Mapuche“ und seine Ausfälle gegen „die Migranten“ wuchsen nicht auf eigenem Mist. Es bestehen keine Zweifel, dass die Sozialrevolte vom Oktober 2019 von gewöhnlichen Kriminellen, z.T. von organisierten Gangs, als Gelegenheit für Plünderungen und von hunderten sozialgeschädigter Jugendlicher aus Santiagos Vorstädten zur Entladung Jahre alter Frustrationen, mit Anschlägen auf Eigentum und Gegenangriffen auf die in den Armenvierteln gewalttätige und verhasste Polizei genutzt wurde, von denen Dutzende noch in Untersuchungshaft sitzen. Worauf die verblüffte Staatsführung nicht vorbereitet war und Präsident Piñera zum Verschwörungs-Garn und zur Stigmatisierung griff, die Protestbewegung sei „von internationalen Agenten“, darunter Kubas und Venezuelas, gesteuert worden; eine Unterstellung, die selbst Geheimagenten und Staatsanwälte als lächerlich bezeichneten.

Auch stammt aus der konservativen Piñera-Administration das Narrativ, der gewaltsame Widerstand einer radikalisierten, zum Teil bewaffneten Minderheit der Mapuche im südlichen Araukanien sei von „Narco-(Drogen-)Terroristen“ gesteuert. Dass politisch motivierte Brandanschläge terroristisch definiert werden und dass einzelne Mapuches in den Drogenhandel involviert sein können, ist nicht auszuschließen. Doch zwischen dem einen und dem anderen gibt es keinen erwiesenen Zusammenhang. Eher das Gegenteil, wie die über Jahre hinweg dokumentierten und von der Justiz geahndeten Beweisfälschungen und Manipulationen der Bereitschaftspolizei Carabineros bewiesen. Auch belegen offizielle Angaben über Drogenhandel- und beschlagnahme seit 2019, dass die an der Nordgrenze Chiles sichergestellten Kokainmengen mindestens das Dreifache der in Araukanien beschlagnahmten Drogen ausmachen, die für die gezielte mediale Ausschlachtung nicht taugten.

Nach der Sozialrevolte: die „Gegenreform“

Während nun Apruebo Dignidad – und hier vor allem Gabriel Borics mehrheitlich identitär-orientierter Flügel mit akademischen Wurzeln – es an Fähigkeit mangelte, die Alarmzeichen aus den von allen nur denkbaren sozialen Defiziten, von Kriminalität und Polizeigewalt geplagten Arbeitervierteln sowie aus dem tiefen Hinterland der konservativen Bauernwelt wahrzunehmen, wusste José Antonio Kast Frust und Sicherheitsunbehagen zum opportunistischen Schlachtruf zu bündeln und als rhetorische Kriegserklärung „gegen den Kommunismus“ zu nutzen. Dessen Speerspitze richtet sich gegen Boric und die mit ihm in der Koalition Apruebo Dignidad verbündete Kommunistische Partei; eine KP, so muss man sagen, die sich als bravste politische Kraft bei der Aufrechterhaltung des schwächelnden Rechtsstaates profilierte und alles andere als revolutionäre Ziele verfolgt, wie etwa die Enteignung von Privateigentum oder ein autoritäres Ein-Parteien-System.

Kasts Vorsprung hat indes noch einen anderen entscheidenden Grund, nämlich die von Medien kolportierten, endlosen Attacken der rechtsradikalen und neo-faschistischen Szene gegen den seit Jahresmitte tagenden und von Chiles Progressiven dominierten Verfassungskonvent. Analysten wie Marta Lagos erinnern daran, dass selbst der Auftakt des Konvents von der Regierung Piñera behindert wurde. Erstens, weil sie gegen eine neue Verfassung war, und zweitens, weil sie kein Interesse an einem Konvent mit großer Bürgerbeteiligung und Legitimierung hatte.

Monatelange Verzögerung und Ablenkung durch drei Wahlen innerhalb eines einzigen Jahres – das Referendum vom Oktober 2020, die Wahl des Konvents vom Mai 2021 sowie die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen – dazu Prestigeeinbußen bedrohen Dynamik und Leistungsfähigkeit der Delegierten. Seine liberale und linke Mehrheit signalisierte bereits, dass der Konvent eventuell nicht in der Lage sein werde, die neue demokratische Verfassung zum Juli 2022 abzuliefern; deren Annahme wiederum von einem neuen Referendum in der zweiten Jahreshälfte 2022 abhängig ist. José Antonio Kast drohte nun, solle er am 19. Dezember gewählt werden, dann könne er per Ermächtigungserlass den ungeliebten Konvent auflösen und die Pinochet-Verfassung von 1980 in Kraft lassen. Die Drohung erfolgte nach neuer Pulsfühlung: Während im Oktober 2020 nahezu 80 Prozent der ChilenInnen für eine neue Verfassung stimmten, erklärten ein Jahr später 25 Prozent der Wähler, sie bereuen ihre Zustimmung.

Der Konvent läuft Gefahr und mit ihm eine neue, progressive Regierung

Weniger als 48 Stunden nach Kasts Sieg in der ersten Wahlrunde sagte die Sozialistin und Salvador Allendes Enkelin Maya Fernández dem Kandidaten Gabriel Boric ihre Unterstützung zu. Ihr folgte die gesamte Sozialistische Partei. Borics Rivalin und linksliberale Christdemokratin Yasna Provoste meldete Zweifel an, doch die eher rechtsgerichtete Führung der Christdemokraten kam Provoste zuvor und beeilte sich ebenfalls, dem linken Präsidenten-Bewerber ihre Unterstützung zuzusichern, auch Marco Enrique Ominamis PRO-Partei.

Doch Ironie des Schicksals: Es fehlt noch die offizielle Erklärung der liberalen Radikalen Partei und damit hätte Boric die gesamte ehemalige Mitte-Links-Concertación hinter sich, die seine Frente Amplio so arg als „neoliberal und dekadent“ beschimpfte, sich von ihr absetzte und die sie nun so dringend braucht. Und nicht nur sie, sondern mindestens die Hälfte der Stimmen von Franco Parisis Partido de la Gente (Partei der Leute), eine rechtsgerichtete, bisherige Splitterpartei, die im Norden Chiles mit einer rabiaten Kampagne gegen Migranten mehr als 12 Prozent der Stimmen erzielte. Boric hat einen harten Monat vor sich: Er muss sich mit Abstrichen aus seinem Programm und einer 90-prozentigen Gratwanderung dem politischen Zentrum zuwenden und gleichzeitig in der Lage sein, eine üble, mit Lügen und Provokationen gespickte, schmutzige Kampagne des deutschstämmigen Pinochet-Verehrers José Antonio Kast zu konterkarieren.

Wie die ChilenInnen am 19. Dezember abstimmen werden, das weiß nur die Sphinx in der schillernden Volksseele.

Titelbild: abriendomundo/shutterstock.com

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