100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion – Wie in Russland heute über den Marxismus diskutiert wird

100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion – Wie in Russland heute über den Marxismus diskutiert wird

100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion – Wie in Russland heute über den Marxismus diskutiert wird

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Immer wieder gibt es in Russland Anläufe, die sowjetische Epoche historisch einzuordnen. Das ist nicht einfach, denn Russland ist ständig fundamentalen Herausforderungen ausgesetzt, Änderung der Wirtschaftsweise, außenpolitische Neuorientierungen, Wirtschaftskrisen. Das 100. Jubiläum der Gründung der Sowjetunion 1922 war wieder ein Anlass für russische Wissenschaftler und Politiker, Russlands Standort in der Geschichte der Menschheit zu bestimmen. Wladimir Medinski, ein Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, stellte auf einer Konferenz in der Moskauer „Manege“ fest, die Gründung der Sowjetunion sei trotz Fehlern eine „zivilisatorische Leistung“ gewesen. Einen Tag später, auf dem „Zweiten Marxistischen Forum“ in der Moskauer Universität (MGU), ging man in 150 Vorträgen der Frage nach, was am sowjetischen Marxismus positiv und was falsch war. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

Schon länger gibt es in Russland eine Debatte darüber, ob die Oktoberrevolution eine Verirrung und der Marxismus etwas „von außen Eingeschlepptes“ war. Immer wieder taucht in russischen Medien auch die Forderung auf, den Staatsgründer Lenin, der immer noch im Mausoleum liegt, „endlich zu beerdigen“.

Doch in letzter Zeit sind die Stimmen, die eine Beerdigung fordern, seltener zu hören. Eine Beerdigung von Lenin würde auch ein merkwürdiges Bild abgeben. Denn es würde sich eine Parallele zur Ukraine aufdrängen, wo in den letzten acht Jahren alle Lenin-Denkmäler gestürzt wurden.

Was man im Kreml heute über die sowjetische Epoche denkt, konnte man am 23. November in der Moskauer Manege – in unmittelbarer Nähe zum Kreml – hören. Dort gab es eine Veranstaltung unter dem Motto „Geschichte für die Zukunft – zum 100. Jahrestag der Sowjetunion“.

Geleitet wurde die Konferenz von Wladimir Medinski, bis 2020 Kulturminister Russlands, jetzt Berater von Wladimir Putin und Vorsitzender der russischen militärisch-historischen Gesellschaft. Medinski erklärte, „wir haben immer gesagt, dass es zur sowjetischen Epoche eine starke Nostalgie gibt. Menschlich ist das verständlich. Dem Menschen ist es zu eigen, sich an das Gute zu erinnern. An das Böse, die Ungerechtigkeit, historische Altersschwäche und alles mögliche Unrecht dagegen erinnern wir uns nicht.“

Wie man aber auch zum sowjetischen System stehe, sei „jeder damit einverstanden, dass es der erste große Versuch war, auf staatlich-zivilisatorischem – nicht auf innerem, geistigem – Niveau zu versuchen, eine Gesellschaft aufzubauen, auf der Basis der Prinzipien des Guten und der Gerechtigkeit“.

Was sagen die einfachen Russen?

Nach einer im November 2021 veröffentlichten Meinungsumfrage des Levada-Meinungsforschungsinstituts bedauern 63 Prozent der Russen die Auflösung der Sowjetunion.

Wenn ich mit Russen – unpolitischen und politischen – über die Sowjetunion rede, dann höre ich immer wieder das Bedauern, dass man nicht mehr „in einem großen Land“ lebt. „Das große Land“ habe eine funktionierende Volkswirtschaft gehabt und sei von anderen Mächten geachtet worden.

Insbesondere die älteren Menschen erinnern sich an die soziale Stabilität, weil der Staat für die Befriedigung aller Grundbedürfnisse sorgte. Häufig als positiv genannt wird auch die Qualität der Ausbildung, die Leistungen auf wissenschaftlichem Gebiet und die volkswirtschaftlichen Erfolge seit dem Bestehen der Sowjetunion.

Marxismus als etwas von außen Eingeschlepptes

Unter russischen Intellektuellen und Medien-Machern gibt es seit einigen Jahren die Tendenz, dass man den Marxismus als etwas von außen Eingeschlepptes bezeichnet. Dass Lenin mit Hilfe des kaiserlichen Deutschland nach Russland geschleust wurde, gilt vielen als Beleg dafür, dass der Marxismus etwas Fremdes ist, was nur mit ausländischem Geld in Russland Wurzeln fassen konnte.

Marxismus-Konferenz mit 400 Teilnehmern und 150 Referenten

Abschottung bringt nichts. Das war wohl auch die Überlegung von Moskauer Professoren und Dozenten, die vom 24. bis 26. November an der Philosophischen Fakultät der Moskauer Universität (MGU) das „Zweite Marxistische Forum“ durchführten. Für das Forum hatten sich online 400 Teilnehmer registriert. Mit Vorträgen traten vor allem Wissenschaftler aus Russland, aber auch aus den USA, aus Kanada, Europa, China und Lateinamerika auf. Etwa 70 Personen waren am Eröffnungstag in einem Saal im Schuwalow-Gebäude der Moskauer Universität anwesend.

Wie der Organisator der Konferenz, Wirtschaftswissenschaftler Professor Aleksandr Busgalin, während der Eröffnung erklärte, gab es während des sowjetischen Marxismus „Probleme, Verbrechen und Lügen, aber auch große Errungenschaften, die nicht schlechter waren als in der übrigen Welt“.

Busgalin wies darauf hin, dass das „Marxistische Forum“ mit Unterstützung der Universität stattfindet. Vor vier Jahren wurde zum 200. Geburtstag von Karl Marx das „Erste Marxistische Forum“ an der Moskauer Uni durchgeführt. Damals wurde das Forum vom Rektor der Moskauer Universität, Viktor Sadownitschi, eröffnet. Der Rektor hatte damals erklärt, der Marxismus habe kein Monopol auf die Wahrheit, aber der Marxismus sei als Wissenschaft in der Forschung und der Lehre unverzichtbar.

Aufruf zum Kompromiss mit den Unternehmern

Wie breit das politische Spektrum auf dem diesjährigen „Zweiten Marxistischen Forum“ war, zeigten die per Video übermittelten Begrüßungsworte von Ruslan Grinberg, dem Leiter des Instituts für Ökonomie an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Grinberg sagte, „Marx war ein großer Mensch, der unabhängig von seinen Fehlern das Schicksal der Menschheit bestimmt hat“. Aber Marx sei ihm „als Mensch nicht sympathisch, weil er „die Unterdrücker mehr hasste, als er die Arbeiterklasse liebte“.

Die Zeit heute sei – so Grinberg – „sehr ähnlich wie zur Zeit der Blüte des wilden Kapitalismus“. Nach empirischen Forschungen sei die Ungleichheit heute so groß wie vor 150 Jahren. „Aber“ – so Grinberg – „ich denke nicht, dass Revolution gut ist.“ Allerdings habe John F. Kennedy gesagt, „dass wenn man keine friedliche Revolution zulasse, erhalte man eine gewalttätige Revolution.“ Kennedy habe wohl recht gehabt. Heute gebe es aber einen „moralisch-ethischen Fortschritt“. Deshalb müsse man heute „einen Kompromiss finden“.

Erinnerung an Entlassung ostdeutscher Geisteswissenschaftler

Konferenzleiter Busgalin forderte die Teilnehmer auf, zu applaudieren, konnte sich dann aber eine Replik auf den Vorredner nicht verkneifen. Busgalin erinnerte daran, dass das von dem Kollegen Grinberg so hochgelobte „sozialdemokratische Deutschland“ Anfang der 1990er Jahre „alle Geisteswissenschaftler aus Ostdeutschland in den Ruhestand geschickt hat“. Das sei eine „sehr demokratische Maßnahme“ gewesen, bemerkte Busgalin in süffisantem Ton.

Die Konferenz in Moskau war der Versuch, in schwierigen Zeiten eine internationale, offene Debatte fortzuführen. Und es zeigte sich, dass es zwischen russischen und westlichen Marx-Forschern ein ähnliches Herangehen gibt. Man versuchte, die heutige Situation in der Welt mit der marxistischen Lehre zu erklären, diese Lehre aber auch weiterzuentwickeln.

Der Krieg in der Ukraine kam am ersten Konferenztag nicht zur Sprache. Aber Aleksandr Busgalin machte eine Bemerkung zu dem in den russischen Medien erhobenen Vorwurf, der Marxismus sei etwas von außen Eingeschlepptes. Russophobie – so Busgalin – könne man Marx nicht unterstellen. Immerhin habe der deutsche Philosoph Russisch gelernt, Kontakt zu Russen gehabt und die 1. Internationale gegründet.

Mit marxistischen Begriffen in den wilden Kapitalismus

In einem der Einleitungsreferate setzte sich Michail Tschernisch, Direktor des soziologischen Zentrums der Russischen Akademie der Wissenschaften, mit den neoliberalen „Reformern“ Anatoli Tschubais und Jegor Gajdar auseinander, die Russland in einer Schocktherapie in den Kapitalismus führten. Durch diese „Reformen“ sei – so Tschernisch – „der soziale Staat, wie er damals existierte, zerstört“ worden.

Wirkliche Liberale im Westen hätten sich von den „russischen Reformern“ distanziert. Die wirklichen Liberalen hätten gefordert, in Russland zunächst eine effektive staatliche Lenkung zu schaffen und erst dann mit Reformen zu beginnen.

Jeffrey Sachs, einer der sogenannten „Chicago Boys“, habe in einem Text über seine Beratertätigkeit Anfang der 1990er Jahre in Russland geschrieben, dass die „russischen Reformer“ nicht das durchführten, wozu er geraten hatte. Sachs schrieb, er habe in Russland einen starken Staat erhalten wollen. Der Staat sollte die Kontrolle über die wichtigsten Industriebetriebe behalten. Nur so könne die Finanzierung des sozialen Sektors in Russland sichergestellt werden.

Nach Meinung des Soziologen Tschernisch bedienten sich die „russischen Reformer“, die alle in der sowjetischen Bürokratie sozialisiert wurden, einer vulgären Interpretation des Marxismus. Sie gebrauchten marxistischen Begriffe, hätten aber konterrevolutionär agiert.

Wichtigstes Ziel des damaligen Premierministers Jegor Gajdar sei die Schaffung einer Klasse von Großunternehmern gewesen. Gajdar sprach damals von der notwendigen „ursprünglichen Akkumulation“, ein Begriff von Marx. Dieser Begriff war aber – so Tschernisch – in einem entwickelten Industriestaat wie der Sowjetunion absurd.

Die „russischen Reformer“ hätten auch vom „Absterben des Staates“ gesprochen. Marx hatte dieses „Absterben“ für eine kommunistische Gesellschaft vorausgesagt. Für die „russischen Reformer“ bedeutete „Absterben des Staates“ aber nichts weiter als die Befreiung des Staates von allen sozialen Transferzahlungen an die Bevölkerung.

Debatte über Humanismus

Die in Sowjetzeiten übliche Verengung der Lehre von Marx auf Begriffe wie „Macht“ und „Produktionsmittel“ wurde auf dem „Zweiten Marxistischen Forum“ allseits als unzulässige Vereinfachung kritisiert.

Referenten wiesen auch darauf hin, dass der sowjetische Marxismus nicht monolithisch war. Seit den 1960er Jahren – einige meinten sogar seit den 1930er Jahren – habe es unter den Marx-Forschern in der Sowjetunion Debatten über unterschiedliche Positionen gegeben.

Die Philosophie-Professorin Ljudmilla Bulawka-Busgalina referierte zum Thema „Humanismus im sowjetischen Marxismus“. Sie zitierte einen sowjetischen Wissenschaftler, der von einer doppelten Natur des Humanismus sprach. Demnach könne ein Mensch eine subjektiv als ungeistig empfundene Tätigkeit ausüben, „objektiv“ aber im Rahmen der Humanisierung tätig sein.

Hauptziel der Sowjetunion sei nicht „Freiheit“ gewesen, sondern „Befreiung von der Entfremdung“. Die Menschen in der Sowjetunion hätten die Entfremdung im Arbeitsprozess überwunden, „indem sie an der Schaffung einer neuen Gesellschaft mitwirkten“.

Subjektivität – so Bulawka – sei immer eine wichtige Konstante in der sowjetischen Kultur gewesen. Die Pioniere dieser Denkrichtung seien aber nicht sowjetische Philosophen gewesen, sondern die Künstler und Denker der Epoche in der Renaissance in Europa. Bulawka: „Sie sprachen die Formel von Majakowski (dem sowjetischen Poeten): Ich selbst.“ Sie hätten nicht Gott als „Schöpfer“ negiert, aber auch für sich die Rolle eines Subjekts beansprucht.

„Theoretische Fehler kosten Blut und Niederlage“

Dass auf dem Marxismus-Forum fast keine Vertreter bekannter kommunistischer und linker Strömungen und Organisationen vertreten waren, führte Konferenzleiter Busgalin im persönlichen Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen darauf zurück, dass sie „die Wichtigkeit der Beschäftigung mit Grundsatzfragen nicht verstanden haben“. Die Oktoberrevolution wäre nicht möglich gewesen, wenn Lenin, Bucharin, Trotzki und Dserschinski sich nicht mit allen möglichen Philosophen auseinandergesetzt hätten. Diese geistige Auseinandersetzung sei auch heute wichtig, denn „theoretische Fehler kosten Blut und Niederlage“.

Hier der live-stream vom ersten Tag der Moskauer Marxismus-Konferenz.

Hier das Programm der Konferenz.

Titelbild: alekseenko / Shutterstock

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