Die Bürger und der Krieg

Die Bürger und der Krieg

Die Bürger und der Krieg

Ein Artikel von Hans-Christof von Sponeck

Der ehemalige deutsche UN-Diplomat Hans von Sponeck gehört zu den profiliertesten konstruktiven Kritikern der UNO. Die NachDenkSeiten sind stolz, ihren Lesern das Manuskript einer Rede zur Lektüre vorzustellen, die von Sponeck am vorvergangenen Wochenende bei einer Veranstaltung in Frankfurt im Gewerkschaftshaus hielt.

Unsere Sprache, die Sprache der Bürger, muss direkt, mutig und friedenserfüllt sein. Wir hier, die Bürger in der Ukraine und in Russland haben eines gemeinsam: Wir alle wollen in Frieden leben. Schwarz-Weiß-Bilder gibt es keine in der Bewertung des Ukrainekonflikts. Beide Kriegsparteien haben immer wieder Völkerrecht gebrochen. Doppelmoral im Sinne von hier die Ukraine, dort Irak, Afghanistan, Serbien und andere lassen wir nicht zu. Politische Amnesie muss durch Erinnerungshilfe behandelt werden.

Bürger fordern Rechenschaftsverpflichtung für alle, die Mächtigen wie die Schwachen. Unilateralismus in jeder Form lehnen wir entschieden ab. Dazu gehört auch die west-zentrische Machtpolitik, die bis heute erheblich zu dem globalen Unfrieden, einschließlich dem in der Ukraine, beigetragen hat. Wir wehren uns gegen die vollkommen einseitige Berichterstattung der öffentlichen deutschen Medien. Frieden, nicht Krieg ist die Ultima Ratio!

Und noch etwas: Europa, besonders unser Land, muss sich vom Joch des geopolitischen Kolonialismus befreien. Wir brauchen keine Prothesen, weil wir auf eigenen Beinen stehen können! Denken wir an die Ziele der Charta der Vereinten Nationen und der 1990er-Charta von Paris und bestehen auf diesen. Plädieren wir für zwei Prozent zur Stärkung des Friedens und nicht zwei Prozent für erhöhte Waffenproduktion.

Die Regierungsparteien wie auch die Opposition müssen verstehen, dass immer mehr wahlberechtigte Menschen in unserem Land ernsthaft über die gegenwärtige soziale und politische Wirklichkeit nachdenken und Stellungnahmen sowie Entscheidungen der Abgeordneten des Bundestags aufnehmen, um zu entscheiden, wem sie in anstehenden Wahlen ihre Stimme geben wollen. Mitglieder bestehender Friedensorganisationen müssen und – ich bin sicher – werden sich, wie zum Beispiel heute, entsprechend einbringen.

Genug von Allgemeinheiten, die aber wichtig erscheinen, und hin zu drei Perspektiven, die wohl relevant sind für die Frage, welche Voraussetzungen und Möglichkeiten es gibt für ein Ende der unerträglichen Zerstörung menschlichen Lebens und menschlichen Besitzes in der Ukraine, aber auch in Russland und in der Ferne; und hin zu einer Rückkehr zu oder besser einer Einhaltung von Grundwerten, die wir Westler anderen Teilen der Welt so gerne empfehlen, aber selbst ohne Scham ignorieren.

Perspektive 1:

Da sind Rahmenbedingungen für Lösungsansätze, die für uns Bürger nicht verhandelbar sind. Völkerrecht ist kein Recht der Wahl, sondern bedeutet die Pflicht der Einhaltung; ebenso wie das deutsche Grundgesetz und die Charta der Rechte der Europäischen Union. Stellvertreterkriege sind völkerrechtswidrig und müssen, ebenso wie Angriffskriege, strafrechtlich verfolgt werden. Waffenlieferungen von Drittparteien machen diese zu Kriegsteilnehmern, verlängern den Konflikt, erhöhen die Zahl der Opfer sowie die Zerstörung auf beiden Seiten und müssen – allein schon aus humanitären Gründen – eingestellt werden. Korruption der Kriegsteilnehmer muss für alle objektiv identifiziert und verfolgt werden. Krisengespräche brauchen einen neutralen Ort, einen neutralen Mediator und einen runden Tisch, an dem – ohne Ausnahme – alle beteiligten Parteien sitzen.

Perspektive 2:

Jeder Verhandlungsanfang ist schwer, aber machbar. In jedem Fall drängt immer die Zeit. In der Ukrainekrise gibt es erste kleine Schritte, sowohl hinter dem Vorhang als auch davor. Die humanitären Korridore für die Ausfuhr von Nahrungs- und Düngemitteln, sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland, und der Austausch von Gefangenen sind bescheidene, aber lebenswichtige Anfänge, die erweitert werden können. ‚Deeskalation‘ durch ‚Eskalation‘ mit weiteren Waffenlieferungen? Solche Vorschläge, die aus westlichen Hauptstädten kommen, zeigen unverantwortliche geopolitische Eigeninteressen, die kurzsichtig sind und sich auf schwerwiegenden Irrwegen befinden. Es ist tragisch, dass Bundeskanzler Scholz sich – durch externen und Ampel-Druck – entschieden hat, den fehlerhaften Weg vom ‚Stahlhelm zum Panzer‘ zu gehen und nun, von ukrainischer und anderer Seite, auch noch gedrängt wird, Kampfjets zu liefern.

In der Annahme der NATO und mancher Regierung, dass die Bürger sich für dumm verkaufen lassen, wird weiterhin behauptet, dass die Allianz, Deutschland eingeschlossen, in der Ukraine nicht(!) längst zum Kriegsteilnehmer geworden ist. Das ist wahrlich skandalös! Ebenso ist es verwerflich, dass Annäherungsbereitschaften der Kriegsparteien boykottiert werden (Beispiel Großbritannien/PM Boris Johnson) und Vermittlungsangebote (Beispiel Israel/PM Naftali Benett) keine Unterstützung finden.

‚Führen durch Zusammenführen‘, eine Aussage des Kanzlers im Deutschen Bundestag vom 8. Februar 2023, sollte auch als übergreifendes Motto für die Ukrainekrise gelten. Davon will der neue Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, nichts wissen. Russland ist nicht eingeladen worden zu der diesjährigen Zusammenkunft in München. Die Konferenz ‚sei kein Podium für russische Propaganda‘, Kampfjets für die Ukraine seien aber durchaus in Ordnung

In den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland, die so dringend sind, werden Selbstverteidigung und Selbstbestimmung, beides Grundrechte im Völkerrecht, eine wichtige Rolle spielen. Die Ukraine als souveräner Staat hat das Recht, sich gegen den russischen Angriff zur Wehr zu setzen. Die ethnischen Minderheiten im Donbass-Becken haben das Recht der Selbstbestimmung der dort lebenden Bevölkerung, unter der Voraussetzung, dass sie von diesem Recht freiwillig und ohne Beeinflussung anderer Gebrauch machen können.

Perspektive 3:

Die Vereinten Nationen wurden 1945 aus der Asche des erfolglosen Völkerbundes geschaffen in der Hoffnung, dass die Welt gegen neue Kriege nachhaltig geschützt wäre und internationale Sicherheit den Menschen – allen Menschen – wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt bringen würde. Wir wissen, dass die Realität der letzten 78 Jahre anders aussieht.

Der Krieg in der Ukraine ist für die Ampelkoalition und Regierungen weltweit Gelegenheit und Pflicht zugleich, sich daran zu erinnern, dass die Charta der Vereinten Nationen den völkerrechtlichen Weg weist, wie Krisen friedlich zu lösen sind. Bürger in der Ukraine, in Russland, bei uns, überall, sehnen sich nach dem Ende der Zerstörung und dem Beginn der Kriegsruhe.

Die UNO hat den Handwerkskasten für eine Beendigung, aber der Schlüssel, um ihn zu öffnen, liegt bei den fünf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrats – besonders in Washington, Moskau und Beijing. Gemäß der UNO-Charta hat die Generalversammlung ihnen die Führung in der Beilegung von Streitigkeiten gegeben. Der Schutz und die Anwendung internationalen Rechts ist ihr Auftrag. Geopolitik, Hegemonie, Doppelstandard, Handlungsfreiheit? Sie sind nicht Teil der ihnen anvertrauten Autorität. Wohl aber sind Wahrung des ‚Weltfriedens und der internationalen Sicherheit‘ durch ‚Verhandlung, Untersuchung und Vermittlung‘ grundlegende Teile ihres Auftrags, so die UNO-Charta. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit des UN-Sicherheitsrats mit der UNO-Generalversammlung und dem UN-Generalsekretär.

Alle rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen für eine solche Zusammenarbeit sind gegeben. Gebraucht wird politischer Wille, diese zu nutzen im Bewusstsein der Dringlichkeit, da die Katastrophe in der Ukraine von Tag zu Tag schlimmer wird und damit auch die Gefahr der Ausweitung des Krieges, inklusive des Einsatzes von Nuklearwaffen.

Was können und müssen die Vereinten Nationen tun? Hierzu folgende Überlegungen:

  1. Generalsekretär Guterres hat per Charta das Recht, den Sicherheitsrat aufzufordern, seinen Pflichten bezüglich der Ukraine nachzukommen. Von diesem Recht sollte er jeden Tag Gebrauch machen!
  2. Als Bürger meine ich, dass die Generalversammlung den permanenten Mitgliedern im Sicherheitsrat das Führungsrecht, welches die Generalversammlung ihnen zugeordnet hat, entziehen sollte, wenn diese sich nicht als multilaterales Team für den Frieden einbringen. Die Anwendung einer entsprechenden Resolution aus dem Jahr 1950 würde hierbei hilfreich sein.
  3. Erfolge auf dem Schlachtfeld bedeuten keinen Sieg. Sicherheitsrat und Generalversammlung müssen gemeinsam den Kriegsparteien und den Ländern, die sie unterstützen, deutlich machen, dass eine sich entwickelnde Pattsituation die Basis für die Aufnahme von Verhandlungen sein kann – mit der UNO als Mediator.
  4. Das erste Ziel solcher Verhandlungen würde ein vom Sicherheitsrat einstimmig unterstützter Waffenstillstand sein.
  5. Der UNO-Gerichtshof sollte als juristischer Berater zu allen Vorgängen einbezogen werden. Der Internationale Strafgerichtshof, der nicht der UNO angehört, sollte vollkommen getrennt seine Untersuchungen von möglichen Kriegsverbrechen duchführen.
  6. Die Generalversammlung wird durch sechs Komitees unterstützt. Hinzukommen sollte ein Ukraine-Sonderkomitee, dessen einzige Aufgabe es sein würde, den Verhandlungsprozess zu verfolgen und Bestandsaufnahmen der Generalversammlung vorzulegen.
  7. Der Generalsekretär würde als Brückenbauer eng mit der Generalversammlung, dem Sicherheitsrat und den Hauptstädten der fünf permanenten Mitglieder in der Erreichung der Verhandlungsziele zusammenarbeiten, ebenso wie mit den Kriegsparteien. Sein Austausch mit Vertretern der Zivilgesellschaft sollte einen wichtigen Platz einnehmen.
  8. Ausserdem sollte der Generalsekretär einen Sonderbeauftragten für die Ukraine ernennen, der für ihn alle geopolitischen Entwicklungen bezüglich der Ukraine identifizieren würde.
  9. Vom Waffenstillstand zu Friedensverhandlungen ist es ein weiter und schwieriger Weg, der von der UNO schützend begleitet werden soll. Der Katalog der entgegengesetzten Erwartungen der Kriegsparteien hat viele Seiten, muss aber bedacht werden, und dies mit Geduld, Wahrhaftigkeit und Kompromissbereitschaft aller Beteiligten im Namen einer Rückkehr zum Frieden.
  10. Parallel zu den politischen Verhandlungen müsste die UNO-Zentrale in New York die sofortige humanitäre Hilfe erheblich erhöhen und den längerfristigen Wiederaufbau der Ukraine mit anderen UNO-Einrichtungen wie UNICEF, WHO, UNDP, UNESCO, WFP – mit Vorsicht auch mit der Weltbank-Gruppe – planen und mit nicht-staatlichen Organisationen unter Absprache mit der ukrainischen Regierung koordinieren.

Sicher ist eins: Wir, die Bürger, müssen sichtbarer werden, müssen uns besser integrieren und viel schneller reagieren. Der große irische Schriftsteller Samuel Beckett hat hierzu einen bewegenden Vorschlag gemacht:

„Immer versucht. Immer gescheitert.
Einerlei.
Wieder versuchen. Wieder scheitern.
Besser scheitern.“

Hans von Sponeck
Frankfurt, 19. Februar 2023