Berlin: Vorwärts in die Vergangenheit – traditioneller Filz statt grüner Blase

Berlin: Vorwärts in die Vergangenheit – traditioneller Filz statt grüner Blase

Berlin: Vorwärts in die Vergangenheit – traditioneller Filz statt grüner Blase

Ein Artikel von Rainer Balcerowiak

Berlin hat wieder einmal – und diesmal zumindest gültig – gewählt. Von vielen Beobachtern werden die nun folgenden Koalitionsverhandlungen zwischen der CDU und der SPD als Überraschung gesehen, hätte die Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus doch auch für eine Fortführung der rot-grün-roten Koalition gereicht. Rainer Balcerowiak sieht dies anders. Für ihn ist Schwarz-Rot die sicherlich bequemste Koalition, wobei die auf die links-grüne Blase der Innenstadtbezirke fokussierte Politik nun wohl wieder dem traditionellen Berliner Filz und den starken wirtschaftlichen Lobbyinteressen weichen wird.

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Knapp 3 Wochen nach der Wahlwiederholung sind nunmehr die Weichen für die Bildung der künftigen Berliner Landesregierung gestellt. Nach dem Abschluss diverser Sondierungsrunden in wechselnder Besetzung haben die Vorstände der CDU und der SPD verkündet, dass sie nunmehr in Koalitionsverhandlungen eintreten werden. Erstmals seit fast 22 Jahren wird die CDU mit Kai Wegner wieder den Regierenden Bürgermeister stellen. Die bisherige Amtsinhaberin Franziska Giffey (SPD) wird voraussichtlich seine Stellvertreterin und zudem ein neu geschnittenes „Super-Ressort“ mit den Bereichen Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen und Verkehr erhalten. Zuvor hatte es so ausgesehen, dass es doch zu einer Weiterführung der „rot-grün-roten“ Regierung kommen könnte, in der Giffey weiterhin an der Spitze gestanden hätte.

Obwohl sowohl Giffey als auch die grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch auch parallel mit der CDU sondierten, ließen beide bis kurz vor Giffeys dann doch etwas überraschendem Move stets verlauten, dass „RGR“ nach wie vor ihre Präferenz sei, wenn auch mit deutlich unterschiedlichen Zungenschlägen. Beide hatten allerdings nach ihren Treffen mit der CDU auch stets betont, dass man sich da auf einem „konstruktiven Weg“ befinde und für alle kniffligen Fragen „Lösungswege“ gefunden habe. Und eigentlich wollte Giffey ja bereits nach der später für ungültig erklärten Pannen-Wahl von 26. September 2021 lieber mit CDU und der damals noch im Abgeordnetenhaus vertretenen FDP koalieren als mit Grünen und Linken. Doch bei der eigenen Basis stieß sie damit auf Granit.

Das hat sich jetzt offensichtlich geändert. Überraschend deutlich, mit 25 zu 12 Stimmen billigte der SPD-Landesvorstand am Mittwochabend Giffeys Vorschlag, mit der CDU in Koalitionsverhandlungen einzutreten. Die kärglichen Reste der Berliner SPD-Linken bliesen dann zwar mächtig die Backen auf und bemühten sich, die bedingten Reflexe gegen die CDU („rechts“, „rückwärtsgewandt“, „unsozial“, „passt nicht zu Berlin und zur SPD“) zu mobilisieren, doch das dürfte diesmal ein Stürmchen im Wasserglas bleiben. Zumal die bisherigen Ergebnisse der Sondierungen nahelegen, dass die CDU schnell kapiert hat, dass sie sich von der reaktionär-bräsigen Dumpfheit, die sie erfolgreich im Wahlkampf zelebrierte, teilweise verabschieden muss, wenn sie einen Koalitionspartner finden will. So hatte sie gefordert, nach den „Silvesterkrawallen“ die Vornamen von Verdächtigen mit deutscher Staatsbürgerschaft zu veröffentlichen, um quasi die gescheiterte Integrations- und Einwanderungspolitik zu „belegen“, weil da mit Sicherheit der eine oder andere Mehmet oder Mustafa dabei wäre. Damit konnte man zwar einige potenzielle AfD-Wähler gewinnen, doch koalitionstauglich ist das in Berlin nicht.

Für jeden etwas

Die bisher bekannten Eckpunkte zur „inneren Sicherheit“ tragen dennoch deutlich CDU-Handschrift, dürften aber beim „Giffey/Geisel/Spranger“-Flügel der SPD kaum auf Widerstand gestoßen sein. Mehr Video-Überwachung im öffentlichen Raum, mehr Polizeipräsenz, bessere Ausrüstung, eine „saubere Stadt“, Stärkung der Justizbehörden usw. Andere Punkte klingen eher nach klassischer SPD: Landesmindestlohn (wollte die CDU eigentlich abschaffen), Rekommunalisierung „light“ im Energie- und Gesundheitssektor, inklusive der wichtigen Rolle privater Partner, ein dauerhaftes 29-Euro-Ticket für den ÖPNV in Berlin. Ansonsten viele Formelkompromisse und Bekenntnisse zu Wohnen, Bauen, Bildungswesen, Klimaschutz und Gedöns („weltoffene Metropole“), was in den Koalitionsverhandlungen präzisiert werden müsste. Und eine ziemlich klare Absage an die fahrradzentrierte Verkehrspolitik, die vor allem von den Grünen auf den Weg gebracht wurde.

Dass man eine umfassende Verwaltungsreform anstrebt, versteht sich von selbst und wird eh von allen Berliner Parteien seit Jahren gefordert, ohne dass das jemals ernsthaft in Angriff genommen wurde. Das ist auch jetzt nicht zu erwarten, denn die historisch gewachsene mehrstufige Verwaltung mit ihren Doppelstrukturen zwischen Stadt und Bezirken ist zwar erkennbar dysfunktional, aber mit ihren aufgeblähten Apparaten als Basis für die Pfründe der „Traditionsparteien“ CDU und SPD unverzichtbar.

Sogar für den Umgang mit dem ungeliebten Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienkonzerne, den eigentlich weder die CDU noch die SPD umsetzen wollen, hat man einen Formelkompromiss gefunden, um „Respekt vor dem Votum der Bürger“ zu bekunden. Es soll ein sogenanntes „Vergesellschaftungsrahmengesetz“ erarbeitet werden, wenn die vom noch amtierenden Senat eingesetzte Expertenkommission zu dem Ergebnis kommt, dass Vergesellschaftungen prinzipiell möglich sind. Die Formulierung ist allerdings so schwammig, dass offenbleibt, ob tatsächlich ein Vergesellschaftungsgesetz erarbeitet werden wird. Wer gerne wettet, kann aber getrost einen hohen Betrag darauf setzen, dass das nicht passieren wird.

In beiden Parteien soll der ausgehandelte Koalitionsvertrag dann Parteitagen oder allen Mitgliedern zur Entscheidung vorgelegt werden und die hochbezahlten Formulierungsprofis werden schon dafür sorgen, dass da nix übermäßig Anstößiges, dafür aber jede Menge Bonbons für die jeweilige Klientel drinsteht. Die Zeichen stehen für den Rest der Legislaturperiode, also bis September 2026, jedenfalls eindeutig auf „Schwarz-Rot“.

Die Grünen haben sich verzockt

Während sich die LINKE mehr oder weniger ergeben in ihr Schicksal fügt und ohnehin mehr mit sich selbst als mit Stadtpolitik beschäftigt ist, wurden die Grünen von dem Giffey-Move offenbar kalt erwischt und reagierten ausgesprochen harsch. Von „Täuschung“ oder gar „Verrat“ war die Rede. Alles geschenkt: Es war ein politisches Pokerspiel und die Grünen haben sich offensichtlich verzockt. Denn in den RGR-Sondierungen haben sie mehr oder weniger unverblümt eine Art institutionelle Fußfessel für die Regierende Bürgermeisterin verlangt, was bei Giffey und anderen Sozialdemokraten offenbar das Fass zum Überlaufen brachte. Und auch der grüne Plan B einer Koalition mit der CDU löste sich dann binnen Stunden in Luft auf.

Von allen nach der Wiederholungswahl denkbaren Koalitionen ist Schwarz-Rot sicherlich die bequemste. Die Giffey-SPD hat tatsächlich große Schnittmengen mit der CDU. Ohnehin ist das die traditionelle (West-)Berliner Filzpartnerschaft, die besonders auf den mittleren Ebenen der Verwaltung nie aufgehört hat. Von daher: Alles ganz normal.

Logischer wäre allerdings Schwarz-Grün gewesen als eine Art provisorische Klammer für die hippe, grün-dominierte Innenstadt und die eher konservativ bis reaktionär tickenden Bezirke außerhalb. Wegner und einige andere CDU-Größen hätten das wohl auch gerne gemacht, doch aus der stockreaktionären, tendenziell rassistischen Nummer, die seine Partei im Wahlkampf abgezogen hat, und den damit verbundenen Erwartungen der CDU-Anhänger kommt er jetzt nicht so einfach raus. Zumal die soziokulturellen Gräben zwischen CDU- und Grünen-Anhängern wohl nirgends so tief sind wie in Berlin.

Die Wellen der Empörung in der „links-grün-alternativen Blase“ werden allmählich verebben. Es wird noch einige Aufwallungen geben, wenn der neue Senat dieser Szene ein paar besonders beliebte Spielzeuge wegnimmt wie etwa die Sperrung eines Teils der Friedrichstraße für den Autoverkehr und weitere merkwürdige Verkehrsexperimente. Man wird irgendwann zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich diese Blase auf einen recht überschaubaren Innenstadtbereich der Stadt konzentriert, mit weniger als einer Million Bewohnern (von insgesamt fast vier Millionen). Es ist vor allem die grüne Hybris, die sich mit dem Gestus der unanfechtbaren moralischen Überlegenheit wie Mehltau über die Politik der Stadt gelegt hat, die viele Berliner schlicht ankotzt.

Die neue „Koalition der Vernunft“, die sich vor allem „Pragmatismus“ auf die Fahnen geschrieben hat, müsste allerdings bald liefern. Aber wirklich kohärente Pläne für die Lösung der drängendsten Probleme der Stadt – wachsende soziale Spaltung, dramatische Wohnungsnot und erodierende öffentliche Daseinsvorsorge – sind nicht mal in Ansätzen zu erkennen. Vielmehr deutet sich an, dass es zwar mit der links-grünen Klientelpolitik vorbei sein wird, dafür aber eine neue und eigentlich alte Klientelpolitik wieder Raum greift – vor allem im Sinne von starken wirtschaftlichen Lobbyinteressen. Das werden die genervten Berliner natürlich irgendwann merken. Was dann passiert? Keine Ahnung, aber wirklich gut sieht das alles nicht aus.

Titelbild: S. Hanusch/shutterstock.com