Krebs, Krieg und Krise

Krebs, Krieg und Krise

Krebs, Krieg und Krise

Roberto De Lapuente
Ein Artikel von Roberto De Lapuente

Vom Krebs, vom Krieg und vom Medienversagen: Davon handelt Arno Luiks Buch „Rauhnächte“. Es ist ein recht einzigartiges Zeitdokument.
Am Ende des letzten Sommers erfuhr Arno Luik, dass er Darmkrebs hat. Die Diagnose kam aus dem Nichts. Luik ist ehemaliger Chefredakteur der taz, später wurde er als Deutschlands härtester Interviewer beim Stern bekannt. Mit dem Krebs begann er etwas, was er – der Schreibende – vormals noch nie getan hatte: Er machte sich daran, ein Tagebuch zu schreiben. Darin betrachtete er sich und die Welt: also, was der Krebs mit ihm macht und der Krieg mit uns allen. Darüber hinaus hielt er Rückblick, schaute auf sein Journalistenleben und skizzierte Episoden medialen Versagens, das er im Laufe der Jahre beobachten konnte. Eine Rezension von Roberto De Lapuente.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Arno Luik blieb auch in dieser dramatischen Lebensphase ein Zoon politikon, ein politisches, ja ein politisierendes Lebewesen. Er berichtet davon, wie ihn die Krankheit weit wegrücken lässt von Politik und Krieg, gleichzeitig kann er nicht wegschauen, als zeitgleich mit den ersten Wochen seiner Krankheit das Land in einen neuen Kriegsmodus taumelt. So entstand eine Mixtur aus (Kranken-)Tagebuch und Zeitenwende-Chronik, aus medizinischer Anamnese und gesellschaftlichem Sittenverfall – man könnte auch sagen, so entstand ein vielleicht einzigartiges Zeitdokument.

W-Fragen des Haderns

„Rauhnächte“ hat Arno Luik seine Betrachtungen genannt. Damit sind jene Nächte des Jahreswechsels gemeint, die man auch als Nächte des Übergangs anschauen könnte, wo das alte Jahr ausdient und das neue Jahr Erwartungen und Hoffnungen weckt. Luiks Buch dokumentiert Übergänge auf mannigfache Art und Weise: Sie vollziehen sich von Gesundheit zu Krankheit und von politischer Ordnung zu ideologisch verblendetem Chaos. All das in einer Öffentlichkeit, die schon längst den Übergang vollzogen hat: zu einem Debattenraum, der kaum noch abweichende Meinungen verträgt und totalitäre Züge annimmt, als sei das eine Selbstverständlichkeit.

Hauptgegenstand der Betrachtungen des Autors ist zuallererst jener Schicksalsschlag, der sein Leben von einem Moment auf den anderen veränderte. Der Krebs bereitet ihm schlaflose Nächte, die von ruhelosen Tagen abgelöst werden. Immer ist er da, seine Psyche ist stark angeknackst: Warum er? Warum jetzt? Warum überhaupt? W-Fragen des Haderns, die sich einstellten, nachdem er eine Darmspiegelung machen ließ. Das „garstige Viech“ in ihm, wie Luik den Krebs nennt, besetzt fast alle seine Gedanken, alles andere: nur Nebensächlichkeit. Bitte, es soll wieder wie früher sein, hofft er – das ist sein treibender Gedanke.

Luik hat in seinem Journalistenleben häufig mit Menschen das Gespräch gesucht, die ans Ende ihrer Tage gelangten. Manfred Rommel etwa, ehemaliger Stuttgarter Bürgermeister, schien erstaunlich gelassen gewesen zu sein, als Luik ihn in den letzten Tagen seines Lebens besuchte. An jene Todkranken erinnert er auch in seinem Tagebuch.

Eines der Interviews mit schwerkranken Menschen ist jenes mit der Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff. Luik traf sie 2008 in Berlin. Schrobsdorff sprach über ihr Leben und Leiden in einer schonungslosen Offenheit und mit einer so harten Gleichgültigkeit, dass es selbst für den Fragesteller nur schwer erträglich schien. Schrobsdorff erklärte beispielsweise, dass sie die „völlige Auslöschung“ für sich wünsche, sie wolle „spurlos verschwinden“, nichts soll von ihr übrig bleiben, an sie erinnern. Aber Luik ließ dieses Gespräch nicht zu einem weinerlichen Frage- und Antwortspiel werden, sondern kitzelte bewegende Szenen hervor: berührend und zugleich in ihrer Brutalität empörend.

Man sollte sich Luik nicht als unglücklichen Menschen vorstellen

An diese Gespräche denkt der Autor zurück, wenn er nachts keinen Schlaf findet. Die Gelassenheit vieler, die er an der Schwelle zum Lebensende befragte, beschäftigt ihn.

Überhaupt berichtet er immer wieder aus seinem Berufsleben, spürt dem Erlebten nach und entführt seine Leser in eine Zeit, da der Journalismus in einen Umbruch geriet und eigentlich handwerklich guter Journalismus durch eine redaktionell betreute Form von Macht-PR transformierte. Als Interviewer in jener Zeit legte er in langen, gut vorbereiteten Gesprächen die Menschlichkeit der Befragten blank. Dazu benötigte er Einfühlungsvermögen und Gespür: Der berüchtigtste Interviewer der Republik war nicht einfach nur der unangenehme Fragensteller – er war auch auf den Punkt vorbereitet, widmete den Befragten viele Stunden akribischer Recherche. Häufig entriss er mancher Machtperson die Maske, ließ auf den Menschen dahinter blicken: immer mit einem Gewinn für die Leser.

Man sollte sich Luik in seinem Buch auf keinen Fall als unglücklichen Menschen vorstellen, denn seine Gier nach Leben macht sich deutlich bemerkbar. Der Krebs ist eine Hürde, die er überspringen möchte, ein unglücklicher Zwischenfall, der überwindbar ist, überwindbar sein muss – dass ihm das auch gelingen wird, steht eigentlich nicht zur Debatte.

Nachdem der Autor anfänglich zwar darlegt, dass alles, was ihm einst wichtig war, insbesondere auch die Politik, nicht mehr den früheren Stellenwert für ihn hat, weil er natürlich mit sich selbst beschäftigt ist, läuft er dann doch zur Form eines durch und durch kritischen Journalisten auf. Denn Luiks Krankheit fällt in eine unglaubliche Zeit. Deutschland will wieder jemand sein in der Welt, mächtig in einen Krieg einsteigen, der das Potenzial dazu hat, sich zu einem Weltkrieg zu entäußern. Zwischen langen Nächten und Chemotherapie rechnet Luik mit diesem ganzen Wahnsinn ab.

Ein Buch über das Leben

Dieser Wahnsinn spielt sich zwischen einer Medienlandschaft ab, die als Hofberichterstattung wirkt, und politischen Parteien – im Speziellen den Grünen –, die längst ihre Ursprünge hinter sich gelassen haben. Luik erinnert in seinem Buch daran, dass die Grünen nicht erst neulich zu einer Partei mutierten, die sich zwar pazifistisch nennt, aber stets kriegsbereit ist. Damals im Jugoslawien-Krieg manifestierte sich dieser Kurs bereits. Und die taz flankierte diesen schizophrenen Kurs: Luik packte damals seinen Koffer und ließ das „linke“ Blatt hinter sich.

Es ist ein krankes Land, das der Autor in seinem Krankentagebuch präsentiert: ein krankes Land, mit dem er abrechnet. Arno Luik ist Pazifist, seine räumliche – und zeitliche – Herkunft machten ihn dazu. Was sich jetzt ereignet, man spürt, wie es ihn empört, beschäftigt – ja, man spürt, wie ihn diese Empörung von seiner Krankheit ablenkt.

Der Passage mit der oben genannten Autorin Schrobsdorff stellt Luik eine Leserreaktion nach, die da lautete: „Ich habe in meinem Leben noch nie etwas so Menschliches gelesen.“ Dem Rezensenten geht es an dieser Stelle wie jenem unbekannten Leser: Er hat noch nie so etwas Menschliches gelesen wie jene „Rauhnächte“ von Arno Luik. Letzterer buhlt in seinem Buch nicht um Mitleid, er betreibt keine billige „Menschelei“: Solche Bücher gibt es viele. Seines ist trotz Schicksalsschlag souverän. Der Mensch Luik schimmert dennoch durch, kommt zwischen Analyse und Abrechnung zum Vorschein.

Letztlich haben wir es hier nicht mit einem Buch über den Tod zu tun, auch wenn man das vielleicht annehmen könnte. Das Gegenteil stimmt. Es ist ein Buch über das Leben. Die Betrachtung dieses Buches lässt sich nur mit einem Satz beenden, einer persönlichen Schlussnote: Lieber Arno Luik, von Herzen beste Genesung!

Titelbild: Westend Verlag

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