Das Desaster der SPD war vorhersehbar. Beispiel „Rente mit 67“

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Wer NachDenkSeiten liest und gelesen hatte, war früh darüber informiert, wie die SPD enden wird. Wir haben in fast schon unendlich vielen Beiträgen analysiert, was falsch läuft, und vorgeschlagen, was zu tun wäre. Hier ein Beitrag von mir aus 2002: „Sozialdemokraten haben sich als gestaltende Kraft verabschiedet“. Ein anderer von Wolfgang Lieb vom Juni 2004. Auch dass Münteferings „Rente mit 67“ sowohl sachlich falsch als auch katastrophal für das Wählerpotenzial der SPD sein wird, konnte man wissen. Beispielhaft für unsere Aufklärungsarbeit dazu verweise ich auf das Nachwort in „Machtwahn“. Albrecht Müller

Dieser Text (siehe unten) erschien im März 2006. Die Führungspersonen der SPD brauchten weitere dreieinhalb Jahre, die Niederlage vom 27. September und die Wahlabend-Analysen von Jörg Schönenborn auf der Basis von InfratestDimap-Umfragen zur Ursache des Wahldesasters, um diese Wahnsinnstat ihres Vorsitzenden Müntefering zu begreifen.
Was viele Medien jetzt verschweigen: Sie haben über die Jahre nahezu ausnahmslos behauptet, die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 sei eine kluge und notwendige Tat. Sie haben die Hinweise darauf, dass die Erhöhung des Renteneintrittsalters keinen Sinn macht, wenn Menschen mit 50 Jahren in die Arbeitslosigkeit geschickt werden, genauso missachtet wie den Aufruf der IG Metall zur Vernunft. Die SPD hat sich vom einhelligen Medienecho beeindrucken lassen, weil sie seit Jahren Politik mit dem Finger im Wind macht, statt ihre Gestaltungsaufgabe zu begreifen.

Auszug aus Albrecht Müller: „Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet“ Seiten 346f, erschienen im März 2006:

Nachwort

Der eine oder andere Leser dieses Buches mag den Eindruck ­gewonnen haben, ich sei zu harsch, zu unfreundlich und zu ­un­geduldig mit unseren Eliten umgegangen. Manches Mal hatte ich selbst den Eindruck, und es machte mir zu schaffen. Aber heute macht es mir gar nicht zu schaffen. Wenn ich heute, am 31. Januar 2006, dem Tag der Manuskriptabgabe, in die Bild-Zeitung schaue und mir die anderen Medien anschaue und nachlese, was viele Politiker für wichtig halten und was die Schlagzeilen dieser Tage bestimmt, dann bereue ich nichts und entdecke: Es wäre sogar gerechtfertigt gewesen, das Buch unter dem ursprünglich erwogenen Titel »Dumm oder korrupt« zu veröffentlichen.

Der Verlag fand diesen Titel zu hart, ich fand ihn zu arrogant. Aber die gerade laufende Debatte darüber, ob nicht erst zum Jahr 2035, sondern schon von 2029 an das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre angehoben sein soll, bestätigt: Unsere Eliten haben nichts begriffen. Oder sie lassen sich korrumpieren. Auf letzteres lässt die heutige Schlagzeile der Bild-Zeitung schließen: »Unsere Rente schrumpft schrumpft schrumpft schrumpft …« (siehe Abbildung 22, S. 293). Das ist ein neuer Akt in der Reihe der Kampagne zur Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente. Bild nutzt dazu die Debatte um die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Damit wird den heute Einundvierzigjährigen und den Jüngeren signalisiert, dass sie entweder länger arbeiten oder Abschläge von 3,6 Prozent pro Jahr auf ihre Rente hinnehmen müssen – es sei denn, sie sorgen privat vor.

Diese Agitation kann man dem Boulevardblatt, das im Verbund mit der Allianz AG für die Privatvorsorge wirbt, nicht verdenken. Es gibt viel zu verdienen. Die Interessen liegen klar auf dem Tisch.

Dass jedoch die Politiker, allen voran der Sozial- und Arbeitsminister Franz Müntefering, eine solche Wahnsinnsdiskussion gerade jetzt lostreten, das ist rational nicht mehr nachzuvollziehen. Wir haben 5 012 000 Arbeitslose – auch das eine Meldung von heute –, die effektive Altersgrenze liegt bei ungefähr 60 Jahren, ältere Menschen finden in der Regel keinen Arbeitsplatz mehr, sie werden in vielen Betrieben schon mit 50 ausgemustert. Die Planung für das Jahr 2035 oder für das Jahr 2029 und auch für das Jahr 2012, in dem die Pflicht zum Längerarbeiten schrittweise beginnen soll, ist so mit Unsicherheiten belastet, dass Entscheidungen, die bis dahin notwendig sein könnten, von vernünftigen Menschen nicht schon heute zum Thema einer öffentlichen Debatte gemacht werden sollten. Wie es nämlich dann, im Jahr 2012 oder 2035, um die Finanzen der Rentenversicherung steht, das hängt um vieles mehr vom Grad der Beschäftigung, also der Arbeitslosigkeit, und dem Grad der Erwerbstätigkeit insgesamt ab als von der Altersstruktur.

Ob wir die Arbeitslosigkeit abbauen können und ob wir älteren Menschen und Frauen, die gerne arbeiten möchten, Beschäftigungschancen bieten können, das hängt hundertmal mehr von einer pragmatischen vernünftigen Wirtschaftspolitik ab als von den Rechenkünsten unseres Sozial- und Arbeitsministers. Jetzt diese so viele Menschen verunsichernde Debatte über das Renteneintrittsalter vom Zaun zu brechen lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder die Meinungsführer haben nicht begriffen, worauf es ankommt, oder sie sind wie die Bild-Zeitung in die Interessen der privaten Versicherungswirtschaft eingebunden. Dumm oder korrupt? Werfen wir die Münze.

Wie desolat die Lage der Meinungsbildung in unserem Land ist, zeigt sich übrigens auch wieder an diesem Beispiel. Franz Müntefering ist für seinen »Mut«, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf die politische Agenda zu setzen, von den Medien über den grünen Klee gelobt worden. Wie schon bei dem Be­freiungsschlag von Schröder und Müntefering vom 22. Mai 2005, Neuwahlen anzustreben, bewundern die Medien einfach die schnelle Tat. Unabhängig von ihrem Sinn löst allein die trick­reiche Tat Begeisterung aus. Wann endlich lernen die Medien, lernen wir alle, kritisch mit diesen Eliten umzugehen!

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