Eine aktuelle Masche, um das wichtige „Manifest“ von Friedenspolitikern aus der SPD zu entkräften, besteht darin, den Unterzeichnern „Realitätsverweigerung“ vorzuwerfen. Dieser Vorwurf muss als absurd bezeichnet werden, denn er trifft ganz offensichtlich auf die andere Seite viel mehr zu. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Beispiele (unter zahlreichen anderen) für den Vorwurf der „Realitätsverweigerung“ gegenüber den Initiatoren des aktuellen SPD-Friedens-Manifests finden sich etwa von Boris Pistorius hier oder in der taz hier. Diese Äußerungen sind ein klarer Fall der Taktik „Haltet den Dieb!“, denn der Vorwurf trifft selbstverständlich den Absender viel härter als den Adressaten.
Realitätsverweigerung: Unwissenheit ist Stärke
Einige Realitäten, die von den aktuell dominanten Meinungsmachern beim Thema Ukrainekrieg „verweigert“ werden, lauten: die jüngere Geschichte vor dem Ukrainekrieg; die nicht an Fakten orientierte Festlegung auf irrationale und in der Folge extrem unsoziale Rüstungsbudgets unter dem verniedlichenden Slogan „X Prozent des BIP“; die durch sture Wiederholung und nicht mit Realitäten „begründete“ Bedrohungs-Behauptung und vieles mehr. In meinen Augen ist eine Realitätsverweigerung geradezu Vorbedingung, um der offiziellen Deutung der „Zeitenwende“ und des Ukrainekonfliktes seit 2014 überhaupt folgen zu können.
Wenn man den militaristischen Meinungsmachern Realitätsverweigerung unterstellt, ist damit aber nicht „Dummheit“ gemeint – die Seite macht einen sehr zielgerichteten Eindruck und vor ihrer wirkungsvollen Propaganda muss man den Hut ziehen. In dieser mächtigen Propaganda ist aber genau die Verweigerung wichtiger Realitäten ein zentrales Mittel.
Die aktiven Propagandisten sind darum in meinen Augen als vorsätzliche Realitäts-Vernebler zu bezeichnen. Als Realitätsverweigerer würde ich eher jene schlecht informierten Bürger einordnen, die zum Teil auch noch stolz darauf sind, dass sie bestimmte Informationen nicht zur Kenntnis nehmen (denn das wäre ja Akzeptanz von „Putin-Propaganda“) – Unwissenheit kann in aktuellen Debatten auch innere Stärke bedeuten, weil die Eindeutigkeit des eigenen moralischen Konstrukts nicht durch Zweifel „gestört“ wird.
Das Verkürzen, das Weglassen und die emotionale Ablenkung
Wichtige propagandistische Taktiken bei der Durchsetzung der „Zeitenwende“ sind momentan das Verkürzen und das Weglassen sowie die emotionale Ablenkung von eben der Realität, deren Verweigerung man der Gegenseite unterstellt. Diese Arten der Verweigerung beziehen sich auf zahlreiche Ebenen:
Auf die Gegenwart: Energiekosten und viele andere soziale Verwerfungen; eine vergiftete Atmosphäre durch harte Propaganda; Tendenzen zur Zensur, zu einer Wehrpflicht und so weiter – all das sind neben der gesteigerten militärischen Gefahr negative Begleiterscheinungen der Militarisierung, die die Bürger bereits jetzt aushalten müssen. Diese realen Folgen der skrupellos umgesetzten „Zeitenwende“ in Form von Verarmung, De-Industrialisierung und sozialer Zerrüttung waren absolut voraussehbar, sie wurden trotzdem sehenden Auges und achselzuckend in Kauf genommen, in einem Akt höchst verantwortungsloser Realitätsverweigerung.
Auf die Zukunft: Die stur wiederholte Behauptung, Russland könnte im Jahr 2029 die NATO angreifen, ist eine willkürliche, also nicht an den Realitäten der Militärbudgets etc. orientierte Aussage. Diese nun gebetsmühlenartig wiederholte Bedrohungs-Behauptung wurde in den zahllosen Artikeln zum Thema an keiner einzigen Stelle angemessen mit Fakten unterlegt. Auch in diesem Fall wird die Realität verweigert und durch emotionale Meinungsmache ersetzt. Zusätzlich werden die im Vergleich zu jetzt nochmals verschärften sozialen Folgen weitgehend unterschlagen, die die geplante Hochrüstung hätte – auch die Wahrnehmung dieser drohenden sozialen Realitäten als gefährliche Folge des eigenen Handelns wird (möglichst) „verweigert“.
Auf die Vergangenheit: NATO-Osterweiterung, Maidan-Umsturz, Aufrüstung der Ukraine, Toleranz gegenüber „unseren“ Rechtsradikalen, der westliche „Betrug von Minsk“, Beschuss des Donbass, aggressive Rhetorik, Wirtschaftskrieg etc.. Zieht man unter anderem diese Realitäten in Betracht, ist die offizielle moralische Eindeutigkeit bezüglich des vorsätzlich von einem Regionalkonflikt zu einem potenziellen Großkrieg eskalierten Ukrainekonfliktes unhaltbar.
Es gilt (nicht) das gesprochene Wort
Mit dem Verweis auf die westlichen Zuspitzungen vor dem Krieg rechtfertigt man selbstverständlich nicht den russischen Einmarsch, auch wenn Friedenspolitikern das immer wieder unterstellt wird. Diese absichtlichen Fehlinterpretationen von friedenspolitischen Äußerungen führen zum nächsten Punkt.
Die Realitätsverweigerung vieler Militaristen in Medien und Politik bezieht sich auch auf das gesprochene Wort der Andersdenkenden: Seriösen Kritikern wird immer wieder einfach das Wort im Munde herumgedreht, eine Sicherheitsordnung mit Russland wird zur Kapitulation umgedichtet, das Eintreten für unsere eigenen Interessen wird zu einem „Dienst an Russland“ verdreht – dazu kommt häufig die Widerlegung von Dingen, die gar nicht gefordert werden: So fordert keine seriöse Stimme eine Auflösung unserer „Verteidigungsstrukturen“ oder eine naive Unterwerfung unter Russland – weder militärisch noch ideologisch.
Der Verweis auf die Tatsache, dass die Eskalationen, die zum Ukrainekrieg geführt haben, vor allem von westlicher Seite ausgingen und dass der Krieg leicht hätte verhindert werden können, ändert auch nichts daran, dass Russland jetzt meiner Meinung nach in der Pflicht ist, alles zu tun, damit schnellstens die Waffen schweigen, wie ich in diesem Artikel geschrieben habe. Die Existenz solcher verschiedener (gleichzeitiger) Ebenen wird aber in einem Akt der inakzeptablen Vereinfachung oft verneint.
Zu guter Letzt ist auch eine parteitaktische Realitätsverweigerung bei den militaristischen Falken innerhalb der SPD zu beobachten. Der aktuell verfolgte Kurs bezüglich Aufrüstung und Russland (auch, was die wieder zu belebenden Wirtschaftsbeziehungen und Energielieferungen angeht) fügt der SPD schweren Schaden zu. Das hat das Ergebnis der letzten Bundestagswahl deutlich gezeigt.
Gehässige Reaktionen
Meiner Meinung nach haben die momentan parteiübergreifend so dominanten Militaristen in Medien und Politik nichts Konstruktives anzubieten für die Zeit nach dem Ukrainekrieg. Und je offener ihr Mangel an belastbaren Argumenten und an Bezug zur selber beschworenen „Realität“ zutage tritt, umso gehässiger werden ihre Reaktionen gegenüber Andersdenkenden, die die komfortable propagandistische Eindeutigkeit infrage stellen. Aber: Dass man im Meinungskampf weit überlegen ist, weil man die großen Medien und die angepassten Mainstream-Journalisten auf seiner Seite hat, bedeutet noch lange nicht, dass man in der Sache im Recht ist.
Wichtig: Um den mutigen Initiatoren des SPD-Papiers Rückenwind zu geben, wäre es hilfreich, wenn viele Bürger die aktuelle Petition zur Unterstützung des SPD-„Manifestes“ unterzeichnen würden – sie findet sich unter diesem Link.
Titelbild: Vectorium / Shutterstock