Die Sezessionskriege im damaligen Jugoslawien offenbarten angesichts moderner Massenmedien, wozu Menschen in Ausnahmesituationen, wie zum Beispiel Kriegen, fähig sind. Über Nacht wurden aus Nachbarn, Bekannten und Freunden Mörder, Vergewaltiger und Folterer. Der Bürgerkrieg übertrifft in seiner Grausamkeit häufig den klassischen zwischenstaatlichen Krieg: Aufständische gegen Regierungstruppen. Bewaffnete Gruppierungen kämpfen gegeneinander um Bodenschätze, Territorien etc. Mittendrin die Zivilbevölkerung: Frauen, Kinder, Greise und Männer, die nicht töten oder getötet werden wollen. Doch nicht alle zivilen Opfer von Bürgerkriegen werden gleich bewertet. Wer kennt in Deutschland zum Beispiel die Kriegsverbrechen, die im Jahr 1992 in den in der Gemeinde Srebrenica liegenden bosnisch-serbischen Dörfern begangen wurden? Von Alexander Neu.
Für die Bevölkerung verdichtet sich mit jedem Moment der Druck, sich zu einer Seite zu bekennen: Neutralität, Sich-Raushalten, In-Ruhe-gelassen-werden-Wollen werden immer schwieriger. Selbst in Familien wird der Riss deutlich, wenn Brüder oder Väter und Söhne sich gegeneinander positionieren – wie auch heute in der Ukraine und damals in dem auseinanderbrechenden Jugoslawien.
Nicht selten wird die religiöse Zugehörigkeit instrumentalisiert, um die „eigene“ Bevölkerung letztlich auf Linie zu bringen.
Der Ausnahmezustand des Krieges erlaubt plötzlich oder befördert gar Verhaltensweisen, die bis dahin sittlich, moralisch und gesetzlich undenkbar waren – dem „Feind“ im eigenen sozialen Umfeld maximal zu schaden: ihn zu töten, zu verstümmeln, seine Frauen zu vergewaltigen oder gar in den Besitz zu nehmen, wie der IS und andere Islamisten im Irak und Syrien es taten und immer noch tun. Und auch die bis dahin gesellschaftlichen ‚Loser‘, die Taugenichtse und Kriminelle sehen eine Chance auf ein „neues Leben“, indem sie rauben, brandschatzen, vergewaltigen und töten. Sie sind die neuen Helden bis in die Nachkriegszeit, zumindest eine Zeit lang.
Und diese menschlichen Verhaltensweisen, diese seelischen Abgründe gibt es in jedem Bürgerkrieg und bei jeder darin aktiven Kriegspartei in unterschiedlichen Ausmaßen. Die bei uns beliebte, aber faktisch mehr als infantile Dichotomisierung in Gut und Böse verhindert und soll den Blick auf das komplexe Ganze eines innerstaatlichen sowie auch zwischenstaatlichen Konfliktes verhindern. Anne Morelli publizierte vor Jahren ein Buch mit dem Titel „Die Prinzipien der Kriegspropaganda“. Darin summierte sie die immer wiederkehrenden Prinzipien in Kriegs- und Vorkriegszeiten. Die Anwendung dieser Prinzipien beschränkt sich nicht auf autoritäre oder diktatorische Systeme. Sie finden, was die politische Verfasstheit von Staaten betrifft, übergreifend statt. Drei dieser und für diese Abhandlung relevanten Prinzipien lauten:
- „Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg.“
- „Der Feind hat dämonische Züge.“
- „Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten. Wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich.“
Selbst in der Nachkriegszeit werden diese Prinzipien weiter gepflegt, um die Legitimität des Krieges und seine angebliche Alternativlosigkeit nicht nachträglich zu gefährden – schließlich hat man gewaltige Opfer erbracht. Mit einem neuen, ehrlichen Narrativ würde man lediglich das eigene Narrentum erkennen müssen. Und auch die Kriegsherren von gestern benötigen die Fortsetzung des Narrativs, um ihre Pfründe dauerhaft zu sichern – selbst dann, wenn das Land in einem Zustand verharrt, der nicht mehr Krieg, aber auch nicht Frieden ist. Eine Aufarbeitung der Ursachen des Krieges, eine Aufarbeitung der darin begangenen Kriegsverbrechen findet bevorzugt mit Blick auf den (ehemaligen) Feind statt: Der hat dies und jenes uns angetan; wir aber sind unschuldig, wir sind in den Krieg hineingezogen worden („Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld“). Ein Hinterfragen der eigenen Rolle in dem Krieg wird tunlichst vermieden – zumindest, so lange die kriegsführende Generation noch an den Hebeln der Macht sitzt; ein Zustand, der den Wiederaufbau des Landes faktisch verhindert, so wie in Bosnien.
Flucht, Vertreibung und Mord
Flucht, Vertreibung und Mord sind feste Merkmale eines Bürgerkrieges. In einem Falle werden sie als „ethnische Säuberung“ bezeichnet, im anderen Fall als „Umsiedlung“ oder „Flucht“, je nach politischer Opportunität.
Jedes Jahr im Juli (kürzlich war der 30. Jahrestag) wird politisch und medial auf internationaler Ebene an die Massaker von Srebrenica erinnert: Etwa 8.000 muslimische Männer und Jugendliche wurden von Frauen, Kindern und Greisen getrennt und von bosnischen Serben hingerichtet. Es gilt als das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Wer aber kennt die Kriegsverbrechen, die im Jahr 1992 in den in der Gemeinde Srebrenica liegenden Dörfern begangen wurden? Dort wurden bosnische Serben – die Zahlen variieren, je nach „Quelle“ zwischen 400 bis über 1.000 Zivilisten (Männer, Frauen und Kinder) – von bosnisch-muslimischen Einheiten massakriert. Nein, es ist keine Rechtfertigung oder Relativierung („Whataboutism“) für das Massaker an bosnisch-muslimischen Männern 1995. Die Darlegung auch dieses Massakers an der Gegenseite ist ein Teil des Gesamtbildes, ein Teil der Wahrheit und gehört selbstverständlich zum Gesamtbild dazu. Wer versucht, das Zeichnen des Gesamtbildes zu diffamieren, zeigt, wo er wirklich steht. Wer Gräueltaten, Mord und Vertreibung selektiv zur Kenntnis nimmt und verurteilt, der ist kein Humanist, sondern der verfolgt eine politische Agenda mit humanistischem Feigenblatt. Wer Humanismus instrumentalisiert, degradiert den Humanismus zur Propagandawaffe – damals wie heute.
„Oluja“ – der Sturm der Guten gegen die Bösen
In wenigen Tagen jährt sich die kroatische Offensive „Oluja“ („Sturm“) ebenfalls zum 30. Mal. Eine massenmediale Berichterstattung hierzu ist in Deutschland nicht zu erwarten; und wenn, dann doch eher wie in der Vergangenheit im Sinne der Prinzipien der Kriegspropaganda von Anne Morelli: Hier Regel Nummer 1: „Das feindliche Lager trägt alleinig die Schuld am Krieg“ und hat somit auch die Konsequenzen zu tragen einschließlich der eigenen Opfer, die es ja selbst zu verschulden hat, so die zwischen den Zeilen zu lesende Subbotschaft.
Und Regel Nummer 2: „Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten. Wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich“ – selbstverständlich, möchte man mit einem Unterton an Sarkasmus ergänzen, wie auch sonst. Und sollte die Faktenlage das Gegenteil offenkundig machen, so siehe Regel Nummer 1. Jedenfalls wurden mit dieser Offensive rund 200.000 in Kroatien lebende Serben (sogenannte Krajina-Serben) aus der kroatischen Region Krajina vertrieben oder sahen sich zur Flucht genötigt. Andere wurden vor Ort erschossen. Die künstliche, weil an der Wirklichkeit vorbeigehende Trennschärfe zwischen Flucht und Vertreibung wird propagandistisch gerne fundiert. Die Bevölkerung sei ja ohne Not geflüchtet. Der kroatische Rechtsstaat habe den Serben Sicherheit versprochen, doch diese habe sich lieber auf die Propaganda aus Belgrad verlassen, womit die „Massenflucht“ (von Vertreibung natürlich keine Rede) der Serben erklärt wurde. So auch eine seinerzeit in diesem Sinne gemachte Aussage des Moderators im „heute journal“ des ZDF – und es war keine Aussage unter der Rubrik „Kommentar“, sondern blanker journalistischer Zynismus.
So oder so ähnlich lauten die gängigen Argumente bis heute im post-jugoslawischen Raum und weltweilt unter den diversen Konfliktparteien, während tatsächlich am Ort des Geschehens die Rahmenbedingungen (Tötung von Zivilisten, Zerstörung der Wohnungen und Häuser, sexualisierte Gewalt) so gestaltet werden, dass die Menschen aus Angst um ihr Leben „fliehen“, also faktisch vertrieben werden.
Im Englischen gibt es hierfür den passenden Begriff der „displaced persons“. Das heißt so viel wie „um ihre Heimat, ihr Zuhause gebrachte Menschen“. Diese Formulierung verneint die Möglichkeit klarer Trennschärfen zwischen Flucht und Vertreibung, was den Realitäten in (Bürger-)Kriegen näher kommt.
Und zur Wahrheit gehört auch: Zu Beginn des Krieges wurden laut Berichten rund 170.000 Kroaten aus der Krajina von Serben zu „displaced persons“ gemacht, also zur Flucht genötigt bzw. vertrieben. Diese vorangegangene Vertreibung der Kroaten kann die abschließende Vertreibung der Serben erklären, sie darf sie aber nicht rechtfertigen. Genauso, wie die von bosnischen Muslimen an Serben begangenen Massaker in der Region Srebrenica 1992 nicht das Massaker von bosnischen Serben an bosnischen Muslimen drei Jahre später rechtfertigen darf; oder die Vertreibung und zur Flucht genötigten Kosovo-Serben (etwa 230.000) durch Kosovo-Albaner unter den Augen und der Duldung der NATO 1999/2000 nach Ende des Krieges. Angesprochen auf die faktische Duldung der Vertreibung, hieß es immer wieder: „Wir (K-FOR, also eigentlich NATO) können nicht hinter jedem Serben einen NATO-Soldaten zu seinem Schutz abstellen“ – dieses Argument habe ich selbst mehrfach während meiner Missionszeit bei der OSZE im Kosovo zu hören bekommen, wenn ich die Missstände ansprach.
Nein, man konnte nicht hinter jedem Serben einen NATO-Soldaten stellen, aber man konnte Serbien 77 Tage lang dafür bombardieren, dass es das sogenannte Rambouillet-Abkommen ablehnte, welches faktisch ein Ultimatum an Belgrad war, der Abspaltung des Kosovo von Serbien auch noch zuzustimmen. Und ja, auch Serbien hat Hunderttausende Albaner aus seiner Provinz Kosovo vertrieben – abgesehen von den kosovo-albanischen Binnenflüchtlingen vor der NATO-Bombardierung. Denn die Massenvertreibung aus dem Kosovo begann nachweislich nach Beginn des NATO-Krieges, nicht vorher, wie man der westlichen Öffentlichkeit gerne verkaufen wollte. Und da dieses Narrativ in sich zusammenbrach, kreierte der damalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping den „Hufeisenplan“, der die Planung der Vertreibung belegen sollte. Das Narrativ der humanitären Intervention zur Verhinderung des „erfolgten“ oder „drohenden“ Genozids war der offizielle Kriegsgrund der NATO. Auch dieses Notnarrativ „Hufeisenplan“ brach in sich zusammen, da es sich um eine Fälschung handelte. Und auch hier sage ich: Die Vertreibung der albanischen Bevölkerungsanteile im Kosovo durch Serbien ist durch nichts zu rechtfertigen gewesen; ebenso wenig wie die anschließende und bis heute weiterhin praktizierte Vertreibung der Serben aus dem Kosovo.
Ein kleines sprachliches Experiment
Klar aber muss sein: Unter humanistischem Gesichtspunkt darf es keine Zwei-Klassen-Opfer geben, keine guten Opfer versus schlechte Opfer – zumindest nicht, wenn es um Zivilisten geht. Und hier ein Experiment:
Satz 1: „So, wie jedes ukrainische Kind ein Recht auf Leben hat, muss auch jedem russischen Kind das Recht auf Leben zugestanden werden.“
Satz 2: „So, wie jedes russische Kind ein Recht auf Leben hat, muss auch jedem ukrainischen Kind das Recht auf Leben zugestanden werden.“
Obwohl die Aussagen auf den ersten Blick identisch sind (alle Kinder haben ein Recht auf Leben), wird durch die Wortstellung und Reihenfolge jeweils eine andere Perspektive geboten.
Zwei Sätze mit zwei für einen Humanisten selbstverständlichen Forderungen. Nur, wer parteiisch ist, wird stocken und überlegen, was ihm an dieser oder jener Aussage nicht so ganz gefällt. Nur er oder sie wird beginnen mit den Worten: „Ja, aber …“, um dennoch die Opfer der anderen Seite zu relativieren.
Hier die Auflösung:
Satz 1 fordert Empathie für russische Kinder, der Satz 2 hingegen für ukrainische Kinder – je nachdem, welche Nationalität der Kinder zuerst genannt wird, wird sie zur Referenzgruppe.
In Satz 1 liegt die Empathie und vermutlich auch Sympathie eher bei der russischen Konfliktpartei, und der Sprecher suggeriert eine Ungleichbehandlung der russischen Kinder im Vergleich zu den ukrainischen Kindern.
Und in Satz 2 ist es genau umgekehrt: Die Empathie und vermutlich auch Sympathie liegt eher bei der ukrainischen Konfliktpartei, und der Sprecher suggeriert eine Ungleichbehandlung der ukrainischen Kinder im Vergleich zu den russischen Kindern.
Dieses Experiment lässt sich universell anwenden: Auf Kroaten und Serben, Bosnier und Kroaten, auf Serben und Albaner, auf Israelis und Palästinenser, auf Ukrainer und Russen etc., etc.
Nur wenn man alle Opfer als gleichberechtigte Opfer – ungeachtet der jeweiligen dahinterstehenden politischen Motive ihrer kriegsführenden Regierungen – betrachtet, nur wenn man keine Zwei-Klassen-Opfer-Politik praktiziert, kann man moralische und humanistische Überzeugungen für sich beanspruchen. Alles andere ist Doppelmoral.
Titelbild: Shutterstock / Nr Stock
Dokumente zur Neubelebung der Kriegsteilnahme unseres Landes
Bundesregierung zum 25. Jahrestag des NATO-Angriffs auf Jugoslawien: War alles völkerrechtskonform