Shani, Netrebko, Gergiev – Bühne frei für die Doppelmoral!

Shani, Netrebko, Gergiev – Bühne frei für die Doppelmoral!

Shani, Netrebko, Gergiev – Bühne frei für die Doppelmoral!

Tobias Riegel
Ein Artikel von: Tobias Riegel

Die Debatte um die Ausladung des israelischen Dirigenten Lahav Shani von einem Musikfestival ist an Heuchelei kaum noch zu überbieten. Wo waren all die tapferen Streiter für die Freiheit der Kunst und gegen Rassismus, als russische Künstler (und Sportler) von den Bühnen „entfernt“ wurden? Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Das belgische Flanders Festival Ghent hatte ein für den 18. September geplantes Konzert der Münchner Philharmoniker unter der Leitung des israelischen Dirigenten Lahav Shani kurzfristig abgesagt. Der Schritt wurde vom Festival damit begründet, dass der in Tel Aviv geborene Shani auch Musikdirektor des Israel Philharmonic Orchestra (IPO) ist – Näheres zum IPO folgt weiter unten im Text. Im Lichte dieser Rolle von Shani beim IPO sei man nicht in der Lage, für „die nötige Klarheit“ seiner Haltung dem „genozidalen Regime“ in Israel gegenüber zu sorgen, hieß es in einer Erklärung auf der Homepage des Festivals. Und weiter:

In Übereinstimmung mit dem Aufruf des Kulturministers, des Stadtrats von Gent und des Kultursektors in Gent haben wir uns entschieden, keine Zusammenarbeit mit Partnern einzugehen, die sich nicht eindeutig von diesem Regime distanziert haben.

Pompöse Phrasen

Das Musikfest Berlin hatte die Münchner Philharmoniker und ihren künftigen Chefdirigenten daraufhin für den gestrigen 15. September zu einem – seit Tagen von pompösen Phrasen zu Antisemitismus und der Freiheit der Kunst begleiteten – Gastspiel eingeladen. Außerdem wurde er vom Bundespräsidenten empfangen und er soll Gast im Bundestag werden.

Irgendwo müssen sich all diese Streiter für die Freiheit der Kunst und gegen Rassismus, die jetzt Shani zur Seite springen, versteckt haben, als (nicht nur) russische Künstler und Sportler von den Bühnen verbannt wurden. Und auch, als total kurzsichtig bis in den wissenschaftlichen Betrieb hinein alle kulturellen Brücken nach Russland zerstört wurden. Auf den Punkt gebracht wurde diese Doppelmoral aktuell etwa in diesem Tweet, der zwei „Bild“-Überschriften gegenüberstellt:

Quelle: Screenshot/Bild-Zeitung

Bühne frei für die doppelten Standards!

Ich lehne es grundsätzlich ab, von Künstlern (unfreiwillige) öffentliche Distanzierungen von der Politik ihres Heimatlandes zu verlangen, ob das nun Deutsche, Russen, US-Amerikaner, Israelis oder wen auch immer betrifft. Darum stehe ich auch der Ausladung Shanis sehr kritisch gegenüber. In der Abwägung zwischen dem Prinzip der Freiheit der Kunst und kurzfristigen politischen Signalen würde ich Ersteres viel höher einschätzen.

Gleichzeitig sind viele kritische Reaktionen auf diese Ausladung aber Ausdruck größter Heuchelei. Bei der Diskriminierung von russischen Künstlern stillschweigende Stimmen sind plötzlich laut empört: Kulturstaatsminister Wolfram Weimer sprach von einer „Schande für Europa“. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Israelkritik würde ein Kulturboykott betrieben: „Das ist blanker Antisemitismus und ein Angriff auf die Grundlagen unserer Kultur“, sagte er. Der Zentralrat der Juden bezeichnet den Vorgang laut Medien als Attacke auf demokratische Grundwerte und kulturelle Vielfalt. „Wer einen Künstler aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder seiner jüdischen Religion ausgrenzt und diskreditiert, tritt die Werte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit Füßen“, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster. Und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte, international hätte es einen Aufschrei gegeben, wäre ein indischer, iranischer oder türkischer Dirigent einer ähnlichen Gewissensprüfung unterzogen und nach seinem Verhältnis zur Staatsregierung seines Landes befragt und bewertet worden.

Und wie sieht das bei Russen aus, wenn die für die Politik Russlands geradestehen müssen? Wo war der Aufschrei beim Fall des aus ideologischen Gründen geschassten russischen Dirigenten Valery Gergiev oder als die Sängerin Anna Netrebko wegen ihrer Herkunft bedrängt wurde? Zur Erinnerung: Bis März 2022 war Valery Gergiev der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker – ehe ihm durch Oberbürgermeister Dieter Reiter ein Ultimatum auferlegt wurde, sich „eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg“ Russlands zu distanzieren. Gergiev ließ die gesetzte Frist unbeantwortet auslaufen und verlor (unter anderem) sein Engagement in München. Empörung damals im Blätterwald? Keine Spur.

„Frontalangriff auf die Kunstfreiheit“

Jetzt hingegen: Die Deutsche Botschaft in Belgien hat wegen der Ausladung Shanis die Zusammenarbeit mit dem Flanders Festival in Gent beendet. Auch der belgische Premierminister Bart De Wever reagierte mit scharfer Kritik. „Jemandem allein aufgrund seiner Herkunft ein Berufsverbot aufzuerlegen, ist sowohl rücksichtslos als auch unverantwortlich“, schrieb De Wever auf X. Der Historiker Meron Mendel sagte: „Leute darf man nicht in Kollektivhaftung nehmen.“ Der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, warf den Veranstaltern einen „Frontalangriff auf die Kunstfreiheit“ vor.

Wer hat eigentlich jemals den beim Canceln russischer Künstler mitschwingenden antirussischen Rassismus verurteilt oder eine „Kollektivhaftung“? Und wie viele US-Künstler hätte man in den letzten Jahrzehnten wegen den zahlreichen unprovozierten Angriffskriegen der US-Armee ausladen und beschämen müssen, hätte man an sie die gleichen Maßstäbe angelegt wie an Russen? Ich finde es gut, dass US-Künstler weitgehend unbehelligt blieben, der Skandal entsteht hier meiner Meinung nach erst durch die Ungleichbehandlung.

Künstler und Propaganda

Wie aber ist die Situation, wenn Künstler selber Kulturbühnen für staatliche Propaganda nutzen – sieht die Sache dann nicht anders aus? Befürworter der Ausladung Shanis sehen das bei ihm gegeben, weil er sich durch seine Rolle als Dirigent des Israel Philharmonic Orchestras (IPO) als „Kulturbotschafter“ des Staates Israel verstehen würde. Das IPO sei auch schon als „Frontunterhalter“ isrealischer Truppen aufgetreten, wie Susann Witt-Stahl in diesem Tweet schreibt. Demnach habe Shani 2023 auf einem „Salute to Israel“-Konzert eine Ansprache gehalten und gesagt: „Wir stehen zu den Soldaten“, und „Wir sind enorm inspiriert von den vielen heroischen Taten der freiwilligen Soldaten“. Außerdem habe er sich beim damaligen US-Präsidenten Joe Biden für die Unterstützung bedankt.

Ich kann nachvollziehen, wenn man hier die Grenze zur direkten Kollaboration mit einer schrecklichen Kriegsmaschine überschritten sieht. Ich sehe die politisch begründete Ausladung trotzdem, wie gesagt, kritisch. Und wo soll das hinführen? Nun gibt es Forderungen, israelische Künstler beim ESC oder israelische Sportler von internationalen Sportveranstaltungen auszuschließen. Ich habe große Zweifel, dass dadurch die „richtigen“ Personen getroffen werden würden. Und: Sollten solche „unpolitischen“ Bühnen nicht zum einen unpolitisch bleiben und zum anderen als letzte Foren einer Völkerverständigung auch in Kriegszeiten erhalten bleiben? Oder sollen auch sie politisiert und mit gegenseitigen Boykotten belegt werden? Und legt nicht jeder Boykott und jedes Canceln die Steilvorlage für die Retourkutsche?

Eine einzige Heuchelei

Unabhängig davon, zu welchem Urteil man bei diesen Fragen kommt – fest steht: Die Aufregung über den Vorgang um Shani ist angesichts des Verhaltens gegenüber russischen Künstlern und Sportlern als eine einzige Heuchelei zu bezeichnen.

Titelbild: „Dieser Inhalt wurde von einem Algorithmus mit künstlicher Intelligenz (KI) erstellt.“ / Shutterstock AI

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