Claudia Roth und der Boykott: Cancel Culture legt (nochmals) zu

Claudia Roth und der Boykott: Cancel Culture legt (nochmals) zu

Claudia Roth und der Boykott: Cancel Culture legt (nochmals) zu

Ein Artikel von: Tobias Riegel

Eine grüne Kulturstaatsministerin, die zum Boykott eines ihr nicht genehmen Künstlers aufruft und Medien, die bei der Diffamierung Andersdenkender kaum noch Grenzen und Regeln kennen, weil sie argumentativ nicht mithalten können. Inhalt ist zweitrangig: Für ein „hohes Gut“ kann man nun fast alles behaupten. Hier einige aktuelle Vorgänge zu Waters, Ganser oder Netrebko. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Immer dreister spielen sich Akteure aus Medien, Politik und „Zivilgesellschaft“ auf, die Auftritte von politischen Gegnern nicht nur kritisieren, sondern gleich ganz verhindern möchten – mutmaßlich, um sich eine inhaltliche Debatte, in der sie argumentativ unterliegen würden, zu ersparen. Manche Cancel-Kampagnen scheuen konkrete inhaltliche Beispiele, die die Vorwürfe etwa des Antisemitismus real untermauern würden, und belassen es beim Zitieren allgemeiner Urteile, die „Experten“ gefällt hätten.

In besonderer Weise trafen Versuche der politischen Zensur in den vergangenen Wochen den Historiker Daniele Ganser (Hintergründe hier) und den Musiker Roger Waters (Hintergründe hier). Dazu kam eine teils rassistisch anmutende Kampagne gegen russische Künstler. Die Art der Verleumdung von Personen, die gecancelt werden sollen – etwa durch Journalisten, Politiker oder die lokale „Zivilgesellschaft“ – verroht dabei ständig und hat nun einen für potenzielle Zensoren komfortablen Status erreicht: Sie können praktisch schreiben, was sie wollen – und sie tun das auch, schließlich dient die inhaltlich teils absurde Diffamierung ja einem hohen Gut: dem Kampf gegen „Antisemitismus“ oder gegen „russische Desinformation“. Dass durch die Willkür bei der politischen Nutzung von harten Begriffen wie „rechtsextrem“ und „antisemitisch“ diese Begriffe zunehmend entwertet werden, wird in Kauf genommen.

Roger Waters: Claudia Roth und der Konzert-Boykott

Ich stimme Roger Waters bei vielen seiner Aussagen zum Ukrainekrieg zu. Bei manchen anderen Themen bin ich aber nicht seiner Meinung, etwa bei der Corona-Politik, es kann auch Aspekte seiner Israel-Kritik betreffen. Darf ich darum ein Konzert von ihm verhindern? Nein, denn um die politischen Inhalte selber geht es hier gar nicht: Es geht um das Prinzip, dass die Kunst und die Wissenschaft alles darf, bis ein Gericht einschreitet. Meine Meinung oder die Meinung von Politikern, Journalisten oder einer beleidigten „Zivilgesellschaft“ ist bei dieser Frage vollkommen irrelevant. Politische Gegner können das Gebotene ja inhaltlich scharf kritisieren (die Kanäle dafür haben sie zur Verfügung) – aber verhindern, dass es überhaupt stattfindet, das dürfen sie nicht.

Für eine Verhinderung müssten die Akteure vor Gericht gehen und dort ihr Anliegen in der trockenen Sphäre der Gesetze vertreten – das wird aber oft gescheut, weil die Kampagnen etwa gegen Waters und Ganser auf einer emotionalen Moral beruhen, die einer sachlichen und juristischen Betrachtung wahrscheinlich nicht standhalten würden. Darum wird oft öffentlicher Druck aufgebaut, in der Hoffnung, dass private oder öffentliche Veranstalter auch ohne Gerichtsurteil unter einem Shitstorm zusammenbrechen.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat 2020 dem Münchener Stadtrat untersagt, Gruppen, die sich mit der Besatzungspolitik der israelischen Regierung und in diesem Zusammenhang auch mit der internationalen Boykottbewegung BDS befassen, öffentliche Räume zu verwehren, wie die NachDenkSeiten berichtet haben: Einem Bewerber allein wegen zu erwartender unerwünschter Meinungsäußerungen den Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung zu verwehren, verstoße gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit.

Mutmaßlich, weil es gegen die Auftritte von politisch Andersdenkenden oft keine juristische Handhabe gibt, hat sich etwa im Fall Waters die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) in skandalöser Weise öffentlich gegen einen Künstler gestellt, den sie gemäß ihres Amtes eher vor politischen Angriffen und Versuchen der Zensur hätte beschützen müssen – auch wenn sie politisch nicht seiner Meinung ist. Die „Berliner Zeitung“ zitiert Roth gar mit einer öffentlichen Forderung nach Boykott gegen die Waters-Konzerte:

„Roth sieht im Kampf gegen Antisemitismus eine ‚gesamtgesellschaftliche Aufgabe’ und wünscht sich deshalb, dass Veranstalter auf Konzerte mit Roger Waters verzichten, ‚und wenn sie dennoch stattfinden sollten, dass er vor leeren Hallen spielt‘. Sie wünscht sich also einen Boykott.“

Dass dieses Handeln Roths weitgehend unbeachtet bleibt, obwohl dadurch sogar Rücktrittsforderungen gegen die Politikerin berechtigt wären, ist ein Zeichen der Zeit. In dieser Zeit kann mit härtesten Behauptungen zum „antisemitischen“ Charakter von politischen Standpunkten einfach um sich geworfen werden, um die Meinungsfreiheit einzuschränken, schließlich geht es um ein hohes Gut. Der „Rolling Stone“ berichtet über die Tirade der Frau des Ex-Band-Kollegen David Gilmour gegen Waters, die ihn als „antisemitisch bis ins Mark“ bezeichnet. Die „Jüdische Allgemeine“ nennt Waters einen „Hassbarden“, seine Konzerte seien „Judenhass auf Tour“. Die „Deutsche Welle“ fragt, ob Waters nicht als „Propaganda-Instrument für Moskau“ zu bezeichnen wäre. Die „Süddeutsche Zeitung“ attestiert Waters, „ein perfider Mann“ zu sein, der „mit einem Wahnwitz wie aus dem Petersburger Troll-Handbuch“ argumentieren würde. Es gibt zahlreiche weitere Beiträge dieser Art.

Messen kann man solche Vorwürfe etwa an der Rede, die Roger Waters gerade vor dem UN-Sicherheitsrat gehalten hat. Oder an seinen Konzerten – wenn sie denn stattfinden.

Daniele Ganser: „Verschwörungsfantast“ und „Verschwörungsunternehmer“

Das Phänomen, dass für den Kampf für ein „hohes Gut“ wichtige Regeln des Anstands missachtet werden und die politische Kommunikation verroht, wird am Beispiel Daniele Ganser noch deutlicher. Die „HAZ“ bezeichnet ihn als „Verschwörungsfantast“, dem „Kritiker“ vorwerfen würden, „seine Bücher und Vorträge steckten voller antisemitischer Klischees und Verschwörungserzählungen“. Eine gewisse Obsession mit Ganser kann man dem Medium „T-Online“ bescheinigen. In zahlreichen Artikeln (unter anderem hier oder hier oder hier) wird vor dem „laut Experten“ so gefährlichen Historiker gewarnt.

Diese Liste mit diffamierenden und dabei höchst unseriösen Artikeln gegen Ganser, die für die schweren Vorwürfe nur selten konkrete Beispiele anführen, ließe sich noch lange fortsetzen, auch mit Beispielen aus der Lokalpresse. Das Magazin „Hintergrund“ schreibt zur „Treibjagd auf Daniele Ganser“:

„Natürlich sind auch Olaf Scholz, Annalena Baerbock oder Robert Habeck umstritten. Aber im Mainstream ist es, wenn überhaupt, ihre Politik. Wer auf der ‚anderen‘ Seite steht, gilt als Person umstritten. Und er verkündet – in der nächsten Steigerungsstufe – ‚Verschwörungstheorien‘, agiert als ‚Verschwörungserzähler‘, ‚Verschwörungs-Unternehmer‘ oder ist gar ein ‚Verschwörungsguru‘. Bietet jemand mehr? Die Verleumdungsskala des Mainstream scheint nach oben offen.“

Einen Kontrapunkt gegen die Kampagne hat ein Veranstalter von Ganser-Auftritten gesetzt, der sich unter diesem Link geäußert hat.

Festival steht zu Anna Netrebko

Doch es gibt auch gute Nachrichten im Zusammenhang mit versuchter Cancel Culture: Das Staatstheater in Wiesbaden hält – gegen den Willen der Stadt Wiesbaden – an dem Auftritt der russischen Sängerin Anna Netrebko fest, wie Medien berichten.

Dem Intendanten der Maifestspiele Wiesbaden, Uwe Eric Laufenberg, gebührt Respekt für seine Standhaftigkeit angesichts des massiven Drucks gegen den Auftritt. Eine gute Erklärung des Festivals zu Netrebko haben wir kürzlich hier vorgestellt. Am Handeln des Wiesbadener Festivals könnten sich andere Veranstalter und Intendanten ein Beispiel nehmen, denn die Cancel Culture funktioniert auch darum, weil manche Verantwortliche dem Druck von potenziellen Zensoren zu schnell nachgeben.

Titelbild: 360b / Shutterstock