Weißrussland – was für ein Russland?

Weißrussland – was für ein Russland?

Weißrussland – was für ein Russland?

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

In den westlichen Mainstreammedien ist gelegentlich von dem Land Weißrussland – oder alternativ Belarus – zu hören. Die Berichterstattung ist in der Regel negativ konnotiert. Bereits das im Namen enthaltende „rus“ assoziiert sodann eine Verbindung mit Russland und führt zu einer negativen Wahrnehmung des Landes im Westen. Diese Negativperzeption wird verstärkt durch den Dauer-Präsidenten Alexander Lukaschenko, der seit Mitte 1994 das Land autoritär führt. Ähnlich wie auch in der Ukraine gab es 2020 den Versuch, einen Regimechange mit westlicher Unterstützung durchzuführen, um das Land aus der Einflusszone des großen Nachbarn zu ziehen. Seitdem hat die EU rund 170 Mio. Euro in Programme oppositioneller Gruppierungen investiert. Von Alexander Neu.

Anlass für die Proteste waren die Präsidentschaftswahlen 2020, die laut internationalen Wahlbeobachtern „undemokratisch“ gewesen seien. Anders als in der Ukraine scheiterte der Versuch jedoch. Sowohl Präsident Lukaschenko als auch Russland setzten alles – auch mit umfassend repressiven Mitteln – daran, den anvisierten Regimechange abzuwenden. Im Ergebnis ist Weißrussland näher an Russland gerückt als je zuvor seit seiner Unabhängigkeit im Kontext des Zerfalls der Sowjetunion 1991. Die Hintergründe des versuchten und gescheiterten Regimechange sollen indes nicht Gegenstand dieses Beitrages sein. Vielmehr fokussiert der Beitrag auf die wachsende geostrategische Relevanz dieses Landes angesichts der Eskalation des direkten Krieges zwischen Russland und der Ukraine sowie dem Noch-Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland.

Geographische Lage – geopolitische und -strategische Bedeutung Weißrusslands

Weißrussland – oder auch Belarus genannt – ist ein ostslawischer Binnenstaat zwischen Polen im Westen, Litauen und Lettland im Norden, Russland Osten und der Ukraine im Süden – das Land verfügt also nicht über einen eigenen Meereszugang.

Die Siedlungsgebiete der Weißrussen waren in der Geschichte vielmehr Objekte diverser externer Mächte wie Litauen, Polen und auch Russland. Das heutige Weißrussland ist ein post-sowjetischer Staat in den Grenzen der „Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ ab 1939/45. Die Territorialgewinne gehen auf das Zusatzprotokoll des „Deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags“ (bekannter als „Hitler-Stalin-Pakt“) und letztlich dem Ergebnis des Zweiten Weltkrieges zurück. Es handelte sich hierbei mit Blick auf die sowjetischen Territorialgewinne vorwiegend um eine Revision des „Friedensvertrages von Riga“ 1921, bei dem Polen im Osten Gebiete annektierte, in dem hauptsächlich Ostslawen (Weißrussen, Ukrainer und Russen) lebten. Diesem Umstand wurde ursprünglich durch die sogenannte „Curzon-Linie“ Rechnung getragen, die die Westgrenze des damaligen Sowjetrusslands festlegen sollte – die von Polen indes ignoriert wurde. Bedauerlicherweise werden diese Tatsachen in der westlichen Geschichtsschreibung geflissentlich übersehen.

Im Zweiten Weltkrieg war Weißrussland in der Sowjetunion die vermutlich am stärksten zerstörte Sowjetrepublik – gemessen an seiner Landes- und Bevölkerungsgröße. Die Erinnerungen an diese menschlichen, infrastrukturellen und kulturellen Verluste durch den Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands ist bis heute in der weißrussischen Gesellschaft wach – bekannterweise haben Opfer ein längeres Gedächtnis als Täter.

Die Mehrheitsbevölkerung ist auch die Titularnation mit etwas über 80 Prozent Anteil, die Weißrussen. Das Land verfügt über eine Fläche von etwa 207.600 Quadratkilometer und knapp 10 Mio. Einwohner. Die Hauptstadt Minsk mit knapp 2 Mio. Einwohnern ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes. Eine zweite Stadt, die fünftgrößte Stadt, mit dem Namen Brest ist dem durchschnittlichen Bildungsbürger allenfalls in einem historischen Kontext noch bekannt und zwar dem separaten Friedensabkommen von Brest-Litowsk im März 1918 zur Beendigung des Krieges zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem neuen Staat Sowjetrussland zu Lasten des Letzterem. Die besondere geo- und militärstrategische Bedeutung Weißrusslands führt aufgrund seiner weit nach Westen vorgelagerten Positionierung zu diversen „Herausforderungen“ für die NATO einerseits und Russland andererseits:

  • Aus westlicher Bedrohungsperspektive ragt Weißrussland wie ein Bollwerk in das NATO-Territorium hinein. Es sei ein Vorposten möglicher militärischer Bedrohungen durch Russland.

    Hinzu kommt, dass Weißrussland fast eine Landbrücke zwischen Russland und der russischen Exklave Kaliningrad an der Ostsee darstellt. Diese Fast-Landbrücke wird durch die sogenannte Suwalki-Lücke (65 Kilometer Luftlinie und rund 100 Kilometer Straßenlinie) unterbrochen, die die beiden NATO-Staaten Polen und Litauen und damit das Baltikum unmittelbar verbindet.

  • Aus russischer Bedrohungsperspektive ist Weißrussland von den NATO-Staaten Polen, Litauen und Lettland halb eingekreist. Hinzu kommt die pro-westliche Ukraine, womit Weißrussland aus weißrussischer und russischer Perspektive von drei Seiten nahezu eingekreist und somit einem enormen Sicherheitsrisiko ausgesetzt sei.

Allein diese geographische Darstellung macht deutlich, wie bedeutsam im geostrategischen und militärischen Sinne die Region sowohl für die NATO und EU-Europa auf der einen sowie auch für Russland auf der anderen Seite ist. Die Suwalki-Lücke ist mindestens so anfällig für eine militärische Eskalation wie die Ostsee selbst. Zumal diese Suwalki-Lücke ein Teil des Ostseeraumes ist: Eine mögliche militärische Konfrontation in der Ostsee würde automatisch auch auf die Suwalki-Lücke übergreifen. Und umgekehrt, eine militärische Konfrontation in der Suwalki-Lücke würde auf die Ostsee übergreifen.

Im Hinblick auf die Darstellung der globalen geopolitischen Dimension ist hinzuzufügen, dass Weißrussland zum engsten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Verbündeten der Russischen Föderation – auch beschleunigt durch den gescheiterten Regimechange – geworden ist. 2024 schließlich trat Weißrussland der Schanghaier Organisation für Kooperation (SCO) bei und verfügt seit 2025 über den Status als Partnerstaat der BRICS. Damit ist Weißrussland im Bündnis mit Russland nicht nur im Orbit des globalen Nicht-Westens fest verankert, sondern erlaubt der SCO sowie der BRICS auch einen weiteren Fußabtritt in Europa.

Politische Einordnung

Weißrussland ist bis zur Unabhängigkeitserklärung 1991 nie ein eigenständiger Staat im völkerrechtlichen Sinne gewesen. Diese Tatsache spielt auch in der weißrussischen Gesellschaft eine Rolle hinsichtlich der Frage, wie weit Weißrussland sich in Russland integrieren soll: Sollte Weißrussland der Russischen Föderation beitreten und somit seine Unabhängigkeit aufgeben – die Bevölkerungsgröße Weißrusslands ist geringer als die Einwohnerzahl Moskaus – oder sollte Weißrussland seine Eigenständigkeit bewahren, aber der engste Verbündete Russlands sein?

Russland selbst präferiert wohl eine Vollintegration Weißrusslands. Der weißrussische Präsident Lukaschenko jedoch versucht die Eigenständigkeit zu wahren, wobei der versuchte Regimechange letztlich ihn dazu veranlasste, doch näher an Russland heranzurücken. Der 1999 geschaffene Unionsstaat – bestehend aus Weißrussland und Russland – wurde als ein entwicklungsoffener Weg zwischen Staatenbund und Bundesstaat betrachtet. Die gemeinsamen Institutionen sind eher intergouvernemental, weniger supranational, das gemeinsame Parlament ist paritätisch – jeweils 36 Abgeordnete aus beiden Ländern – besetzt, verfügt jedoch nicht über eine eigene Gesetzgebungskompetenz, was den Wesenskern eines Parlamentes ausmacht.

Die diversen politischen Felder sind unterschiedlich integriert. So gibt es eine Zollunion zwischen beiden Staaten, jedoch keine gemeinsame Währung. Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist hingegen in den letzten Jahren stärker integriert worden.

Militärische Integration

Zwar beteiligt sich Weißrussland nicht direkt an dem Krieg gegen die Ukraine, jedoch kann die russische Armee weißrussisches Territorium – einschließlich des Luftraums – für seine Operationen in der Ukraine nutzen. Des Weiteren rückt Weißrussland in der 2024 aktualisierten Nukleardoktrin („GRUNDLAGEN der staatlichen Politik der Russischen Föderation zu Nuklearen Abschreckung“) Russlands unter den russischen Nuklearschirm:

„d) eine Aggression gegen die Russische Föderation und/oder Weißrussland mit dem Einsatz herkömmlicher Waffen, wenn die staatliche Existenz selbst bedroht“ werde.

Wenige Monate zuvor trat darüber hinaus eine neue weißrussische Militärdoktrin in Kraft, die die Stationierung russischer Atomwaffen als Element der Abschreckung bezeichnet.

Bereits 2022 wurde der Status des „atomwaffenfreien“ Landes aus der Verfassung Weißrusslands gestrichen. Mit dieser verfassungsrechtlichen Veränderung und der zwischenzeitlich vollzogenen Stationierung von taktischen Atomsprengköpfen sind Russland und Weißrussland dem NATO-Beispiel der Stationierung von taktischen Atomwaffen auf dem Gebiet eines Verbündeten gefolgt. Der nukleare Schutzschirm Russlands wird auf diese Weise nicht nur über Weißrussland gespannt, sondern in Weißrussland selbst sind nun taktische Atomsprengköpfe stationiert.

Ungeklärt ist der atomare Status Weißrusslands: Kann Weißrussland über die Atomwaffen gänzlich alleine verfügen, womit das Land ein neuer Atomwaffenstaat in der internationalen Arena wäre? Oder gibt es eine restriktive Verfügungsqualität ähnlich wie bei der technisch-nuklearen Teilhabe in der NATO, soll heißen, entscheidet Moskau in letzter Instanz politisch und technisch über den Einsatz; wer hat also den roten Knopf – Minsk oder Moskau? Die Aussagen Putins und Lukaschenkos widersprechen sich, wobei die Unklarheit vielleicht auch als psychologisches Abschreckungselement gegen die NATO gewollt ist.

Wie auch immer, in beiden Fällen wäre es ein eindeutiger Verstoß Russlands und Weißrusslands gegen den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag, wie auch die USA und die NATO-Staaten mit der technisch-nuklearen Teilhabe gegen den Vertrag verstoßen. Im nuklearen Nichtverbreitungsvertrag heißt es unzweideutig:

„Artikel I

Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben und einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen noch zu veranlassen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen oder sonstwie zu erwerben oder die Verfügungsgewalt darüber zu erlangen“

sowie

„Artikel II

Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen.“

Es wird immer deutlicher, dass internationale Abkommen zur Rüstungskontrolle und -begrenzung zunehmend in die Galerie mit dem Titel „Wir hatten zumindest eine gute Absicht“ abgeschoben werden.

Als Trägersysteme kommen die Iskander-M-Raketensysteme (Kurzstreckenrakete bis 500 Kilometer Reichweite) sowie Kampfbomber in Betracht. Ab Dezember 2025 soll auch die neueste Hyperschall-Waffe, die Mittelstreckenrakete „Oreschnik“ in Weißrussland stationiert werden, womit der Wirkradius – ob konventionell oder atomar – noch weiter nach Westeuropa ausgedehnt wird. Ob die bereits gelagerten taktisch-nuklearen Sprengköpfe auch auf die Oreschnik montiert werden sollen, ist mir nicht bekannt.

All dies offenbart die äußerst gefährliche Eskalation in Europa durch militärtechnische Maßnahmen und Gegenmaßnahmen der Konfliktseiten in dem Krieg der Ukraine und um den Krieg um die Ukraine.

Titelbild: Pinky En Pe / Shutterstock

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