Deutschland ist faktisch Kriegspartei

Deutschland ist faktisch Kriegspartei

Deutschland ist faktisch Kriegspartei

Sevim Dagdelen
Ein Artikel von Sevim Dagdelen

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages gehen mit Blick auf die massive militärische Unterstützung der Ukraine durch den Westen der Frage nach, wann ein Staat zur Konfliktpartei wird. Nimmt man die Kriterien der WD ernst, ist Deutschland mit den NATO-Verbündeten angesichts der massiven Waffenlieferungen sowie den militärischen Ausbildungsprogrammen zur Verbesserung der Schlagkraft der ukrainischen Armee und kontinuierlichen nachrichtendienstlichen Informationen für die Kriegsführung Kiews inzwischen Kriegspartei, schlussfolgert Sevim Dagdelen, die die Untersuchung beauftragt hat.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Frage, ob Deutschland Kriegspartei im Ukraine-Krieg ist, hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock politisch eindeutig beantwortet. Entgegen der mantrahaften Beteuerung der Bundesregierung, die militärische Unterstützung der Ukraine mache Deutschland nicht zur Kriegspartei, stellte Baerbock Anfang des Jahres in – mutmaßlich unbedachter – Ehrlichkeit fest, „wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“. Die Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen, die massive Ausbildung ukrainischer Soldaten an westlichen Waffen sowie intensive nachrichtendienstliche und militärstrategische Zusammenarbeit geben ihr recht – Deutschland und seine NATO-Verbündeten sind maßgeblich in den Stellvertreterkrieg gegen Russland auf ukrainischem Territorium involviert. Ist Deutschland damit auch aus völkerrechtlicher Sicht Kriegspartei? Dieser Frage gehen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags (WD) in einer aktuellen, von mir beauftragten Ausarbeitung nach. Insbesondere angesichts der enormen Ausweitung der Quantität und Qualität der militärischen Unterstützung für die Ukraine geben die Ausführungen Grund zu der Annahme, dass das „Narrativ der Nichtkriegsführung“ der Bundesregierung inzwischen auch völkerrechtlich auf äußerst wackeligen Beinen steht.

Zunächst einmal stellen die Wissenschaftlichen Dienste fest, dass „die Kriterien, deren Vorliegen den Status als Konfliktpartei begründet in Literatur und Staatenpraxis nicht unumstritten“ seien. Einen völkerrechtlich verbindlichen Kriterienkatalog gebe es nicht. Zwischen militärischer Unterstützung einer Konfliktpartei und eigener Konfliktteilnahme lägen vielmehr „rechtliche Grauzonen“. Um diese Grauzone auszuleuchten, unterscheiden die Wissenschaftlichen Dienste zwischen zwei Dimensionen: Zum einen geht es um die Frage, wann ein Staat durch die Unterstützung einer Kriegspartei, etwa in Form von Waffenlieferungen, selbst unmittelbar an dem Konflikt teilnimmt, sprich: Konfliktpartei ist. Die völkerrechtliche Grundlage hierfür bildet das humanitäre Völkerrecht, das sogenannte ius in bello. Zur Diskussion steht zum anderen die Frage, wann eine militärische Unterstützungsleistung als indirekte Gewaltanwendung zu bewerten ist. Die Beurteilung hiervon fußt auf dem Friedenssicherungsrecht, dem ius ad bellum.

Aus diesen beiden Rechtsquellen ergeben sich, so die Wissenschaftlichen Dienste, Kriterien und Qualifikationsmerkmale, anhand derer bewertet werden kann, wann militärische Unterstützungsleistungen völkerrechtlich als Konfliktteilnahme des Unterstützerstaates bzw. als indirekte Gewaltanwendung gewertet werden können. Wo genau die rechtliche „Schwelle“ zwischen Konfliktunterstützung und Konfliktteilnahme bzw. Gewaltausübung liegt, werde in der Völkerrechtswissenschaft intensiv diskutiert. In jedem Fall würden, so die Autoren des Gutachtens, „politische Faustformeln“ wie „Wer lediglich Waffen liefert, wird nicht zur Konfliktpartei“ die rechtlich komplexen Debatten verkürzen und die Rechtslage nur ungenau abbilden.

Status der „Mitkriegsführung“

Laut WD vertreten Teile der wissenschaftlichen Literatur die Auffassung, dass eine „Teilnahme an Feindseligkeiten“ nicht erst dann vorliege, wenn eine Partei unmittelbare militärische Gewalt anwendet, also etwa eigene Streitkräfte entsendet, sondern bereits dann, wenn Vorbereitungs- und Unterstützungshandlungen zugunsten einer Konfliktpartei geleistet werden. Ein solches weites Verständnis von „Konfliktteilnahme“ sieht den Status der „Mitkriegsführung“ durch „die systematische oder erhebliche Bereitstellung von Kriegsmaterial, militärischen Truppen oder finanzieller Unterstützung in Verbindung, Zusammenarbeit, Hilfe oder gemeinsamer Sache mit einem anderen Kriegführenden“ erfüllt. Nach dieser Definition wäre Deutschland Konfliktpartei, kann die Lieferung von Waffen an die Ukraine in Höhe von insgesamt über zehn Milliarden doch durchaus als „erheblich“ gelten.

Eine engere Definition, die laut WD von weiten Teilen der Völkerrechtslehre vertreten werde, führt für das Überschreiten der Schwelle zur Konfliktteilnahme zwei Kriterien ins Feld: Zum einen müsse die Unterstützungshandlung zu einer kausalen und direkten Schädigung des Gegners beitragen, in zeitlicher und geographischer Nähe zum Schadensereignis stehen sowie eine gewisse Intensitätsschwelle überschreiten. Zum anderen bedürfe es eines gemeinsamen koordinierten Vorgehens, etwa durch Unterstützung bei der Zielauswahl, dem sogenannten „targeting“.

Auch mit Blick auf diese engere Definition kann man zu dem Ergebnis kommen, dass das Agieren der Bundesregierung die Kriterien zur Konfliktteilnahme erfüllt. Schließlich steht wohl außer Frage, dass die von Deutschland gelieferten Panzerhaubitzen, Mehrfachraketenwerfer, Schützen- und Kampfpanzer schwere Schäden bei der Konfliktpartei hervorrufen können. Auch ist bekannt, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) die Ukraine mit militärisch nutzbaren Geheimdienstinformationen, sogenannten „targeting-fähigen Informationen“, wie Satellitenbilder versorgt. Inwieweit die Behauptung des BND zutrifft, diese wären „nicht unmittelbar“ für Planung und Steuerung tödlicher Angriffe nutzbar, lässt sich nicht zweifelsfrei überprüfen.

Einfluss auf Gewaltanwendung

Noch eindeutiger erscheint die Antwort auf die zweite Frage, nämlich ob der Umfang und die Substanz der Waffenlieferungen westlicher Staaten an die Ukraine mittlerweile die Qualität einer „indirekten“ Gewaltanwendung erreicht haben. In diesem Zusammenhang beziehen sich die Wissenschaftlichen Dienste auf ein Gutachten der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom Februar 2023. Hiernach verliefe die Schwelle zwischen militärischer Unterstützung und „indirekter“ Gewaltanwendung dort, „wo die Waffen unmittelbar bei der Gewaltanwendung gegen den Drittstaat zum Einsatz kommen und wo die Lieferung insgesamt so substantiell ist, dass der liefernde Staat dadurch tatsächlich Einfluss auf die Gewaltanwendung nimmt“. Zudem müsse der liefernde Staat „seinerseits die Absicht haben, mittels der Waffenlieferungen dazu beizutragen, dass der Drittstaat zu einem bestimmten Verhalten gezwungen wird“.

Laut WD besteht das zentrale Kriterium für das Vorliegen einer indirekten Gewaltanwendung darin, ob die Unterstützungsleistungen das Geschehen auf dem Schlachtfeld in einer Weise prägen, dass der unterstützte Staat ohne sie nicht in der Lage wäre, Gewalt von vergleichbarer Intensität und Effektivität auszuüben. Dass die Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine dieses Kriterium erfüllen, legt eine Einschätzung der Stiftung Wissenschaft und Politik nahe: „Die Schlagkraft der ukrainischen Streitkräfte hängt wesentlich von dauerhaftem Waffennachschub aus dem Ausland ab. Und auch die Ausbildung, die ukrainische Soldatinnen und Soldaten in Partnerländern erhalten, ist – ebenso wie die nachrichtendienstlichen Informationen, die von westlichen Geheimdiensten übermittelt werden – von essentieller Bedeutung für den Erfolg der Truppen auf dem Schlachtfeld. Man muss sogar davon ausgehen, dass westliche Staaten durch die Bereitstellung wachsender Mengen an schlagkräftigen Waffensystemen immer mehr Einfluss auf den Kriegsverlauf nehmen und nehmen wollen.“

Gewisses „Unbehagen“

Völkerrechtlich ist eine indirekte Gewaltanwendung zwar nicht mit einer Konfliktteilnahme deckungsgleich. Die Beobachtung, dass die NATO mit ihrer militärischen und geheimdienstlichen Unterstützung maßgeblich Einfluss auf die Kriegsführung der Ukraine nimmt, lässt jedoch nur eine Schlussfolgerung zu: Der Westen ist im Krieg gegen Russland faktisch Kriegspartei. Auch wenn in dem Gutachten selbst eine klare völkerrechtliche Festlegung zu dieser Frage vermieden wird, können die WD „ein gewisses ‚Unbehagen‘ an der juristischen und rhetorischen ‚Orchestrierung‘ der westlichen Unterstützung kaum verhehlen“. Das gilt etwa für das politische Schlagwort von der „Kampfjetallianz“, das, so die Autoren des Gutachtens, jedenfalls „schon rein semantisch über den logistischen Vorgang einer Lieferung von Flugzeugen hinaus[geht]“.

Laut einer Schätzung des US-Außenministeriums im April 2023 haben die fast 50 Unterstützerstaaten der Ukraine seit Kriegsausbruch militärische Hilfe in Höhe von annähernd 50 Milliarden Dollar geleistet. Während die Quantität der Waffenlieferungen aberwitzige Ausmaße annimmt, fällt bei der Qualität der Waffenlieferungen ein Tabu nach dem nächsten. Anstatt politisch wie völkerrechtlich immer weiter in Richtung direkter Kriegsbeteiligung zu schlittern, dürfen die Bundesregierung und ihre westlichen Verbündeten Verhandlungsinitiativen für einen bedingungslosen Waffenstillstand und eine Friedenslösung nicht länger boykottieren.

Sevim Dagdelen ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages.

Titelbild: Screenshot bundestag.de