Kann ein demokratischer Staat wie Deutschland totalitär sein?

Kann ein demokratischer Staat wie Deutschland totalitär sein?

Kann ein demokratischer Staat wie Deutschland totalitär sein?

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Totalitarismus sei kein Zufall und bilde sich nicht in einem Vakuum. Der Ursprung liege im Phänomen der „Massenbildung“, einer Art kollektiver Hypnose. Das meint der belgische Psychologe Mattias Desmet. Er sieht auch in der Corona-Politik eine Form von hypnotischer Massenbildung. Unser Autor Udo Brandes hat sein Buch „Die Psychologie des Totalitarismus“ für die NachDenkSeiten gelesen und stellt es vor.

Was ist der Unterschied zwischen einer Dikatur und einem totalitärem Staat? Mattias Desmet sieht den Unterschied auf der psychologischen Ebene und beruft sich dabei auf Hannah Arendts monumentales Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“:

„Während Diktaturen im Wesen auf dem Einflößen von Angst vor physischer Aggression beruhen – einer Angst, die so groß ist, dass der Diktator (oder das diktatorische Regime) der Bevölkerung einseitig einen sozialen Vertrag oktroyieren kann – basiert der totalitäre Staat auf dem gesellschaftlich-psychologischen Prozess der Massenbildung.“ (S. 122)

Aber was heißt das, wenn Desmet von „Massenbildung“ spricht? Er versteht darunter einen Zustand, der einer Hypnose ähnelt und der die Mehrheit der Bevölkerung erfasst. Diese macht sich eine Ideologie bzw. eine Erzählung zu eigen, weil sie davon einen psychologischen Gewinn hat: Die Abfuhr von Aggression und die Bindung bis dato „frei flottierender“ Angst an ein Objekt. Letzteres hat den Vorteil, dass die Angst psychisch beherrschbar wird, weil sie jetzt mit einem Objekt verbunden ist und man dieses Objekt bekämpfen kann, um die eigene Angst in Schach zu halten:

„Wenn (…) über die Massenmedien eine suggestive Erzählung verbreitet wird, die ein Objekt der Angst benennt – zum Beispiel die Aristokratie unter dem Stalinismus, die Juden unter dem Nationalsozialismus, das Virus und später die Impfgegner während der Coronakrise – und gleich auch eine Strategie mitliefert, wie mit diesem Objekt der Angst umzugehen ist, dann besteht eine reelle Chance, dass sie alle frei flottierende Angst an dieses Objekt koppelt und eine breite gesellschaftliche Basis dafür entsteht, die Strategie anzuwenden, um dieses Objekt der Angst zu kontrollieren.“ (S. 129)

Woher kommt die „frei flottierende“ Angst?

Aber woher kommt diese „frei flottierende“ Angst? Und woher kommt die Aggression? Ein wichtiger Faktor dafür sind Einsamkeit, soziale Isolation und verfallende soziale Bindungen. Einsamkeit betrifft nach Desmet in den modernen liberalen Industriegesellschaften ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung und nimmt stetig zu. Nicht ohne Grund wurde von der ehemaligen britischen Premierministerin Theresa May ein Ministerium für Einsamkeit eingerichtet.

Die Phänomene Einsamkeit, Isolation und Verfall der sozialen Bindungen werden nach Desmet in hohem Maße durch die modernen Kommunikationstechnologien und die Nutzung der sozialen Medien gefördert. Dazu eine persönliche Beobachtung: Offenbar beeinträchtigt die Digitalisierung auch die Fähigkeit zum sozialen Austausch. Als ich mal mit Freunden in einem Restaurant speiste, saß uns gegenüber ein Ehepaar mit zwei Kindern. Keiner der vier sprach ein Wort mit den anderen Familienmitgliedern. Alle glotzten auf ihr Smartphone und waren in irgendwelche vermutlich völlig belanglosen Nachrichten und Posts auf Facebook, Instagram oder TikTok vertieft.

Wenn diese „normale“ Einsamkeit schon zu Angstzuständen führen kann, kann man sich lebhaft vorstellen, wie die Lockdowns und die Homeoffice-Arbeit auf die Psyche der Menschen gewirkt haben. Hinzu kam in der Zeit der Coronakrise dann noch, dass die Regierung ganz bewusst die Angst vor dem Coronavirus schürte (siehe dazu den Bericht auf focus.de hier).

Die Folgen des Verfalls sozialer Bindungen

Eine weitere Ursache für eine hypnotische Massenbildung hängt eng mit den zuerst genannten zusammen: Der Verfall sozialer Bindungen, so Desmet, führt zu einem Mangel an Sinngebung im Leben:

„Der Mensch als soziales Wesen par excellence, lebt für den Anderen. Geht die Bindung zum Anderen verloren, wird das Leben als sinnlos erfahren.“ (S. 127)

Einsamkeit, Isolation, fehlende soziale Bindungen und das daraus entstehende Gefühl der Sinnlosigkeit führten zu einer „frei flottierenden“ Angst. Darunter versteht Desmet eine Angst, die nicht an etwas Konkretes gebunden ist (es fehlt also ein konkreter Angstauslöser wie Gewitter, Spinnen, Schlangen, Krieg, Armut usw.). So entstehen viel ungebundene Frustration und Aggression:

„Der Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Reizbarkeit ist logisch und wurde auch empirisch nachgewiesen. Der Mensch, gequält von sozialer Abstumpfung, Mangel an Sinngebung, unbestimmter Angst und Unbehagen, fühlt sich in der Regel zunehmend reizbar, frustiert und/oder aggressiv und sucht nach Objekten, an denen er seine Angst abreagieren kann. (…). Was Massenbildung beschleunigt, sind nicht so sehr die Frustration und die Aggression, die tatsächlich abreagiert werden, sondern es ist vielmehr das Potenzial an nicht abreagierter Aggression, das in der Bevölkerung vorhanden ist, der Aggression, die noch auf der Suche nach einem Objekt ist.“ ( S. 129)

An dieser Stelle wird auch deutlich, welche psychologischen Folgen es hat, wenn es keine wirklich funktionierende Opposition gibt oder eine demokratische Opposition in der Bevölkerung (man denke an die Demonstration im bayrischen Erding gegen das neue Heizungsgesetz) von den Medien und den liberalen Eliten regelmäßig als rechtsradikal und verfassungsfeindlich denunziert wird: Die Aggression steigt natürlich. Umgekehrt läge ein enormes Befriedungspotenzial für die Gesellschaft darin, wenn es wirklich wieder alternative politische Angebote gäbe und nicht die seit Jahren existierende neoliberale Querfront, die von den Grünen und der SPD über FDP und CDU/CSU bis zur AfD reicht. Und dabei habe ich die neoliberalen Tendenzen in der Linkspartei noch gütigerweise nicht miteinbezogen. Man stelle sich vor, man könnte im Bundestag harte Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Regierung über echte politische Alternativen sehen und hören, wie es zu Zeiten von Brandt, Wehner, Strauß und Kohl der Fall war. Es hätte etwas enorm Befreiendes.

Eine enorme Befriedigung, die sich die Masse so leicht nicht nehmen lässt“

Was passiert nun, wenn die „frei flottierende“ Angst sich an ein Objekt binden kann? Es führt auf mehreren Ebenen zu einem psychologischen Gewinn: Einerseits wird die Angst psychisch beherrschbar, weil sie jetzt mit einem Objekt verbunden ist und man dieses Objekt bekämpfen oder auch meiden kann. Dies wiederum hat weitere psychologische Vorteile:

„Zweitens findet die auseinanderfallende Gesellschaft durch den gemeinsamen Kampf gegen ‚den Feind‘ wieder zu minimalem Zusammenhalt, Energie und rudimentärer Sinngebung. Der Kampf gegen das Objekt der Angst wird dadurch zu einer mit Pathos und Gruppenheroik geladenen Mission (siehe die von der belgischen Regierung initiierte Kampagne ‚1 Team von 11 Millionen‘, welches gegen das Coronavirus zu Felde zieht). Drittens kann in diesem Kampf alle latent schwelende Frustration und Aggression abreagiert werden – insbesondere an der Gruppe, die sich der Erzählung und der Massenbildung nicht anschließen will – was eine enorme Befriedigung mit sich bringt, die sich die Masse so leicht nicht nehmen lässt.“ (S. 129-130)

Ganz exakt dies konnte man in Deutschland beobachten. Ich kenne Fälle, in denen Ungeimpfte als asoziale Kriminelle beschimpft wurden. In Gesprächen, die ich beobachtet habe, wurde über das Impfen gesprochen, als handle es sich um einen religiösen Akt von Gläubigen – als ginge es um Gottes Segen. Und wie bei einer Religion wollten die Gläubigen die Ungläubigen am liebsten exkommunizieren (aus der Gemeinschaft ausschließen). So zum Beispiel der Journalist Nikolaus Blome. Er ist Ressortleiter Politik und Gesellschaft bei der Zentralredaktion der RTL-Mediengruppe Deutschland und Kolumnist bei spiegel.de. Sie werden ihn vielleicht schon mal im Fernsehen in Talkshows gesehen haben. Er schrieb in einer Kolumne auf spiegel.de (siehe hier) Folgendes:

„Ich hingegen möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“

Mit anderen Worten: Blome forderte dazu auf, Menschen, die ihr Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in Anspruch nahmen, zu diskriminieren und vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Er ist ein gutes Beispiel für die Psychologie der Massenbildung, die Desmet in seinem Buch beschreibt. An seinem Beispiel kann man noch etwas erkennen: Auch gebildete, kultivierte und intelligente Menschen, und natürlich auch Wissenschaftler, sind anfällig dafür, mit der Masse mitzulaufen – ein Aspekt, der einem in Bezug auf politische Bildung zu denken geben sollte. Rationale Argumentation und Information haben offenbar ihre Grenzen und bewirken keineswegs immer etwas. Der Fairness halber möchte ich noch anmerken: Blome war bei Weitem nicht der einzige Journalist, Intellektuelle, Wissenschaftler oder Künstler, der in derartiger Weise gegen Mitbürger gehetzt hat.

Das Gemeinschaftserlebnis ist der Motor der Massenbildung

Zurück zum psychologischen Gewinn der Massenbildung: Desmet beschreibt diesen wie folgt:

„So schwenkt ein Individuum von einem höchst aversiven (widerständigen; UB) und schmerzlichen psychologischen Zustand der sozialen Isolation um in die maximale Verbundenheit, die in der Masse existiert. Das sorgt für eine Art Rausch, der die eigentliche Motivation ist, dem massenbildenden Narrativ zu folgen.“ (S. 130)

Dabei, so Desmet, spiele es gar keine Rolle, was genau der Inhalt ist, um den es geht. Entscheidend sei nicht, was gedacht werde, sondern dass man es zusammen denkt:

„Auf diese Weise wird die Masse dazu gebracht, selbst die absurdesten Ideen für wahr zu halten oder doch zumindest so zu handeln, als ob sie wahr wären. (…) Die Masse ‚glaubt‘ an die Erzählung, nicht weil sie wahr ist, sondern weil sie ein neues Gefühl der Verbundenheit erzeugt.“ (S. 130-131)

Und wie in der Religion geht es dabei um Rituale, die den Gruppenzusammenhalt stärken. Rituale seien ein symbolisches Verhalten, das dem Ziel diene, das Individuum der Gruppe zu unterwerfen:

„Man denke an die rituellen Opfer von Speisen, Tieren und Menschen in primitiven Gesellschaften. Das ist genau der Grund, warum die Absurdität der Coronamaßnahmen bei einem bestimmten Teil der Bevölkerung auf keinerlei Widerstand stieß. In gewissem Sinne kann man sogar sagen: Je absurder die Maßnahmen und je mehr sie einem abverlangen, desto besser erfüllen sie die Funktion eines Rituals und desto enthusiastischer werden diese Menschen ihnen folgen (man denke nur an die Tatsache, dass manche eine Maske tragen, wenn sie allein im Auto sitzen) (S. 131). Anmerkung UB: Desmet schreibt dies in der Gegenwartsform, weil er sein Buch während der Coronazeit schrieb.

Der psychogene Tod – die Wirkung psychischer Faktoren auf den Körper

Interessant in diesem Zusammenhang: Desmet zeigt anhand konkreter Beispiele, dass Menschen allein an geistigen Vorstellungen sterben können:

„In der Anthropologie ist es eine bekannte Tatsache, dass in sogenannten primitiven Gesellschaften Menschen sterben können, nachdem ein Schamane einen Fluch über sie verhängt hat. (…) Derartige Todesfälle wurden vielfach beobachtet und sind in der Literatur als ‚psychogener Tod‘ bekannt. Henri Ellenberger führt präzisierend an, dass es wichtig sei, dass die ganze Gemeinschaft, zu der Schamane und Opfer gehören, an die Autorität des Schamanen glaubt. (…) Vielleicht gilt das ja für einen irrationalen Primitiven, der dem magischen Denken noch nicht entwachsen ist, aber doch nicht für einen rationalen westlichen Menschen im 21. Jahrhundert? Nichts ist weniger wahr. Es gibt zahlreiche Beobachtungen, die zeigen, dass der westliche Mensch in seinem körperlichen Funktionieren solchen Phänomenen ebenso unterworfen ist.“ (S. 218-219)

Desmet führt dann als Beispiele den Placebo- und Nonplaceboeffekt an. Er berichtet von einer Anästhesistin, die an der Universitätsklinik Lüttich Patienten auch für große Operationen wirkungsvoll mittels Hypnose betäubt. Oder dass Ärzte im Zweiten Weltkrieg, als ihnen das Morphium ausging, auf die Idee kamen, Soldaten vor der Amputation wenigstens ein bisschen mit einer gespritzten Kochsalzlösung zu beruhigen – und dann erstaunt feststellten, dass die meisten Soldaten genauso gut betäubt waren wie mit Morphium. Wenn man das liest, kommt einen der Gedanke, dass wir ja auch „Schamanen“ haben. Nur dass unsere Schamanen „Ärzte“, „Wissenschaftler“ oder „Experten“ heißen. Und tatsächlich schreibt Desmet:

„Der Mechanismus beim psychogenen Tod, bei der hypnotischen Sedierung und bei Placebos ist, näher betrachtet, immer derselbe: Eine Autoritätsfigur erweckt eine starke mentale Vorstellung beim adressierten Individuum. Diese Vorstellung kann positiv (z. B. Heilung) oder negativ (sterben, krank werden…) sein, aber sie muss lebendig und klar im Erleben präsent sein und sie muss die Aufmerksamkeit von allen anderen Vorstellungen abziehen. Daraufhin ‚schmilzt‘ der Körper gleichsam in diese Vorstellung hinein; er nimmt die Form oder den Zustand dieser Vorstellung an, das heißt, er wird gesund, er stirbt, er wird krank usw.“ (S. 221)

Insofern ist die Vermutung nicht abwegig, dass die von der Bundesregierung bewusst geförderte Angst in Bezug auf das Coronavirus bei vielen Menschen das Immunsystem geschwächt und die Ausbreitung des Virus gefördert hat.

Resümee

Es gäbe noch sehr viel Interessantes aus Desmets Buch zu erzählen, aber das würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Ich kann hier nur auf einen Ausschnitt des Buches eingehen. Deshalb meine Empfehlung: Lesen Sie das Buch. Es lohnt sich! Sie werden vieles plötzlich verstehen und mit anderen Augen sehen.

Das Buch ist aber auch eine deutliche Warnung, und damit komme ich auf meine Frage in der Überschrift zurück: Kann ein demokratisches Land wie Deutschland totalitär sein? Und ergänzend: War die Coronapolitik eine totalitäre Politik? Man muss leider beide Fragen mit „Ja“ beantworten. In der Coronakrise haben wir eindeutig eine Phase gefährlich totalitärer Politik erlebt, wie sie es in einem demokratischen Staat eigentlich nicht hätte geben dürfen. Leider gilt noch immer der Brecht’sche Satz: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch. Und dabei sollte man eines zur Kenntnis nehmen: Die begeistertsten Anhänger einer totalitären Corona-Politik fanden sich nicht bei den üblichen Verdächtigen auf der rechten Seite des politischen Spektrums, sondern ausgerechnet bei den „linksliberalen“ Eliten. Diese sind offenbar sehr anfällig für eine autoritär-repressive Politik und das Phänomen der Massenbildung.

Mattias Desmet: Die Psychologie des Totalitarismus, Europaverlag 2023, 270 Seiten, 24,00 Euro

Udo Brandes ist Diplom-Politologe, Journalist und Buchautor. Im Juli erschien sein Buch „Wenn die Jagd nach Erfolg das Leben zur Hölle macht“, das über Amazon bestellt werden kann. Das erste Kapitel können Sie auch hier auf den NachDenkSeiten lesen. Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über das Thema „Macht“.