Gibt es im Gazastreifen fünfzig Gerechte?

Gibt es im Gazastreifen fünfzig Gerechte?

Gibt es im Gazastreifen fünfzig Gerechte?

Oskar Lafontaine
Ein Artikel von Oskar Lafontaine

Die Herzen der Menschen erreicht eine Politik nur dann, wenn sie mit allen Opfern leidet. Auf das Massaker der Hamas in Israel folgt das Massaker Israels im Gazastreifen. Die jetzt vereinbarte Feuerpause und der Geiselaustausch sind ein Silberstreif am Horizont der Mitmenschlichkeit. Aber danach soll das sinnlose Morden weitergehen. Dass das Vorgehen Israels mit dem Völkerrecht nicht vereinbar ist, ist offenkundig, und auch die Genfer Konventionen verbieten einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Dabei ist die Frage, ob man Unschuldige für Verbrechen anderer bestrafen kann, uralt. Schon im Alten Testament wird eine Antwort gegeben. Von Oskar Lafontaine.

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Auflösung in einem einzigen Satz

Als Gott Sodom und Gomorrha dem Erdboden gleichmachen wollte, um die Einwohner für ihre Sünden zu bestrafen, sagte Abraham zu ihm: «Willst du auch den Gerechten mit den Ruchlosen töten? Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte in der Stadt. Willst du auch sie wegraffen und nicht doch dem Ort vergeben wegen der fünfzig Gerechten dort? Das kann man doch nicht tun, die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen […] Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten?» – Da sprach der Herr: «Wenn ich in Sodom in der Stadt fünfzig Gerechte finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben.»

Gerechte darf man nicht töten, um Ruchlose zu bestrafen! An diesem alttestamentarischen Gebot ändert auch die Fortsetzung der biblischen Erzählung nichts. Sodom und Gomorrha wurden letztlich doch zerstört, nachdem der Gerechte Lot mit seiner Familie die Stadt verlassen hatte. In diesem Versuch Abrahams, selbst gegenüber der Macht Gottes menschlich zu bleiben, liege das eigentliche Erbe des ethischen Monotheismus, schreibt der New Yorker Philosoph Omri Boehm. Es gehe Abraham nicht nur darum, die Existenz eines einzigen wahren Gottes zu behaupten, sondern darum, die Instanz der Gerechtigkeit universell zu setzen. Ergänzt man diesen Ansatz um die zentrale Botschaft des Christentums, nach der alle Menschen Gotteskinder und damit gleich sind, dann hat man den Weg der Auflösung des Nahostkonflikts in einem einzigen Satz: Die Würde aller Menschen ist unantastbar.

Dass die israelische Regierung das Alte Testament kennt, darf unterstellt werden, aber sie handelt nicht danach. Der ehemalige israelische Botschafter Schimon Stein urteilte, die Regierung Netanjahu sei halbfaschistisch. Finanzminister Bezalel Smotrich nennt sich selbst einen faschistischen Homophoben. Verteidigungsminister Joaw Galant triumphierte: «Kein Strom, kein Essen, kein Sprit, alles ist abgeriegelt. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln dementsprechend.» Das ist in der Tat die Sprache des Faschismus. Immer mehr Israeli und Freunde Israels fordern jetzt, man müsse das Land vor sich selbst schützen und dem Morden ein Ende bereiten, um dem täglich stärker werdenden Antisemitismus entgegenzutreten. Und vereinzelt taucht in den Medien auch die bittere Wahrheit auf: Die Hamas wurde lange Jahre von der israelischen Regierung unterstützt, an erster Stelle von Benjamin Netanjahu, um einen palästinensischen Staat zu verhindern. Wie die USA al-Qaida, so förderte Israel die Hamas und wurde jetzt mit den schrecklichen Folgen der eigenen Politik konfrontiert. Die Mehrheit der Israeli fordert längst die Ablösung der Regierung Netanjahu, deren Vorgehen im Gazastreifen unendlichen Hass sät und immer neue Kämpfer für die Hamas und den militanten Islamismus hervorbringt. «Die Hamas lässt sich nicht auslöschen. Sie ist eine Ideologie, die bestehen bleibt, solange sie einen Nährboden hat», sagt die jüdische Bestsellerautorin Deborah Feldman.

Empörende Empathielosigkeit

In ihrem Bemühen, Israel und damit die israelische Regierung bedingungslos zu unterstützen und das wachsende Leid der Palästinenser nicht zum Anlass zu nehmen, einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern, erreicht die Bundesregierung vor allem eines: Der Antisemitismus in Deutschland wächst wieder. Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem bekannten, leidenschaftslosen Tonfall wiederholt, er gehe davon aus, dass die israelische Regierung das Völkerrecht beachte, auch wenn mittlerweile über 10 000 Palästinenser von der israelischen Armee getötet wurden, die Hälfte davon Kinder, dann stößt eine solche Empathielosigkeit auf Empörung. Und wenn im Zuge der sich immer weiter ausbreitenden Cancel-Culture pauschal propalästinensische Demonstrationen verboten und für Palästina Partei ergreifende Künstler ausgeladen werden, dann wächst die Wut, und die Leidtragenden in Deutschland sind vor allem die Juden.

Die Herzen der Menschen erreicht eine Politik nur dann, wenn sie auf wirklicher Menschlichkeit gründet und mit allen Opfern leidet, nicht nur mit den israelischen Opfern. Wir brauchen jetzt eine große Demonstration in Deutschland, in der ein sofortiger Waffenstillstand gefordert und der israelischen und der palästinensischen Opfer gedacht wird.

Titelbild: Anas-Mohammed/shutterstock.com

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