„Er war eine Lichtgestalt“ – Wie medialer und politischer Mainstream den Kriegsverbrecher Henry Kissinger in ihren Nachrufen feiern

„Er war eine Lichtgestalt“ – Wie medialer und politischer Mainstream den Kriegsverbrecher Henry Kissinger in ihren Nachrufen feiern

„Er war eine Lichtgestalt“ – Wie medialer und politischer Mainstream den Kriegsverbrecher Henry Kissinger in ihren Nachrufen feiern

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Im Alter von 100 Jahren ist der ehemalige US-Außenminister und Nationale Sicherheitsberater in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag in seinem Haus in Connecticut gestorben. Bezeichnend bei den mittlerweile veröffentlichten Nachrufen und Stellungnahmen ist die teilweise völlig unkritisch vorgenommene Idealisierung eines Menschen, an dessen Händen das Blut hunderttausender Zivilisten in Asien und Lateinamerika klebt. Von Florian Warweg.

Dass man es mit dem Grundsatz „De mortuis nihil nisi bene“ (Über die Toten soll man nur gut sprechen) auch übertreiben kann, bezeugt eindrucksvoll die SPIEGEL-Redaktion. Diese titelte nach Bekanntwerden des Todes von Henry Kissinger zunächst:

„Er war eine Lichtgestalt der US-Politik.“

Es stellt sich die Frage, wie der verantwortliche Spiegel-Redakteur moralisch-ethisch so aufgestellt ist, um in der Lage zu sein, jemanden wie Henry Kissinger als „Lichtgestalt“ zu bezeichnen.

Eine Person, die in ihrer Rolle als US-Außenminister und US-Sicherheitsberater nachweislich verantwortlich war für eklatante Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen in Asien und Lateinamerika, denen Hundertausende unschuldige Zivilisten zum Opfer fielen. Verwiesen sei beispielhaft auf die vor der Öffentlichkeit und Legislative bis zum Schluss verborgen gehaltene Flächenbombardierung des neutralen Kambodschas ab 1969. Laut aktuellen Zahlen wurden auf Kambodscha innerhalb nur weniger Jahre 230.516 Luftangriffe mit 2,7 Millionen Tonnen Bomben auf 113.716 Orte ausgeführt. Der Befehl für diesen völkerrechtswidrigen Akt erging direkt von Kissinger, bewusst an Kongress und Senat vorbei, an den damals verantwortlichen General der US Airforce, Alexander Haig:

„Er (Nixon) will eine massive Bombenkampagne in Kambodscha. Er will nichts hören. Es ist ein Befehl, er muss ausgeführt werden. Alles, was fliegt, auf alles, was sich bewegt. Haben Sie das verstanden?“

Konservative Schätzungen gehen von 240.000 bis 310.000 Toten durch diese völkerrechts- und auch verfassungswidrigen US-Bombardierungen des neutralen Landes aus.

Kissinger unterstützte ebenso an vorderster Front die gesamte Bandbreite an den von den USA finanzierten und initiierten subversiven Aktivitäten gegen die demokratisch gewählte Allende-Regierung in Chile bis zum blutigen Putsch am 11. September 1973. Im National Security Archive einsehbare, freigegebene Akten belegen eindeutig, dass es Kissinger in seiner damaligen Position als Sicherheitsberater von US-Präsident Richard Nixon war, der diesen, gegen dessen anfänglichen Widerstand, dazu drängte, die demokratisch gewählte Regierung Allende zu stürzen. Kissingers Begründung: „Der Modelleffekt“ einer erfolgreichen sozialistischen Regierung in Chile könnte verfänglich sein für viele andere Länder.

Noch Jahre nach dem Putsch lobte Kissinger Putschgeneral Pinochet überschwänglich:

„Sie haben dem Westen mit dem Sturz von Allende einen großen Dienst erwiesen.“

Ein Putsch, in dessen Folge mindestens 3.000 politische Gegner brutal gefoltert und ermordet worden waren. Eine nicht minder zentrale Rolle spielte Kissinger nachweislich bei der Etablierung der noch weitaus blutigeren Militärdiktatur in Argentinien unter General Videla ab 1976, der nach aktuellem Forschungsstand 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Nicht nur gab Kissinger dem Militärregime Carte blanche bei Repression, Folter und Ermordung, sondern beglückwünschte auch noch Jahre später regelmäßig die Militärjunta für „die argentinischen Aktionen zur Ausmerzung des Terrorismus“ und gab zu verstehen, dass sich diese keine Sorge machen müsste in Bezug auf Kritik von der US-Regierung an der Menschenrechtsbilanz des Regimes. Auch die gemeinsam von den damaligen Militärdiktaturen in Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Bolivien und Brasilien durchgeführte „Operation Condor“, dass Verschwindenlassen von Hunderten Regimegegnern, indem man diese, oft noch lebendig, gefesselt über dem Atlantik abwarf, wurde von Kissinger aktiv unterstützt.

Ebenso ermutigte Kissinger 1975, dies belegen freigegebene Akten des National Security Archive, den indonesischen Diktatur Suharto, die sich gerade unabhängig erklärte ehemalige portugiesische Kolonie Osttimor anzugreifen und zu besetzen. Im Zuge der von Kissinger politisch unterstützten Invasion kam es zu zahlreichen Hinrichtungen und exzessiver Folter. Insgesamt fielen im Zuge der Besetzung Osttimors 200.000 Menschen den Gewalttaten des indonesischen Militärs zum Opfer.

Und was sagt die amtierende bundesdeutsche Chefdiplomatin sowie selbsternannte Vertreterin einer angeblich „wertegeleiteten Außenpolitik“ zu diesem zuvor skizzierten politischen Erbe des ehemaligen US-Außenministers und Sicherheitsberaters?

„Mit Henry Kissinger ist eine Jahrhundertgestalt der internationalen Politik von uns gegangen.“

In den Schatten gestellt wird Baerbocks Eloge allerdings von der EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Diese erklärte via der Plattform X:

„Henry Kissingers Strategie und seine herausragenden diplomatischen Fähigkeiten haben die Weltpolitik im 20. Jahrhundert geprägt. Sein Einfluss und sein Vermächtnis werden noch lange nachhallen.“

Die meisten Staaten des Globalen Südens werden diese Elogen von Baerbock und der amtierenden EU-Chefin auf Kissinger wohl eher als Drohung wahrnehmen …

Der idealisierten Einschätzung von SPIEGEL, Baerbock, von der Leyen & Co widersprechen auch zahlreiche ehemalige ranghohe Mitarbeiter von Kissinger. Beispielhaft sei auf Roger Morris verwiesen. Dieser diente unter Kissinger im Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten und erklärte, noch zu Lebzeiten von Kissinger, um eine Einschätzung zu seinem einstigen Chef gebeten:

„Meine persönliche Meinung: Wenn wir Henry Kissinger nach den gleichen Maßstäben beurteilen, wie wir es mit den anderen Staatschefs und Politikern in anderen Gesellschaften getan haben; z.B. in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg, dann wird er sicher irgendwann als Kriegsverbrecher verurteilt werden.“

Titelbild: Putschgeneral Pinochet trifft sich mit US-Außenminister Henry Kissinger – Quelle: Ministerio de Relaciones Exteriores de Chile. – Archivo General Histórico del Ministerio de Relaciones Exteriores ([1]), CC BY 2.0 cl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30547377

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