Der Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen Menschen

Der Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen Menschen

Der Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen Menschen

Ein Artikel von Karsten Montag

Die Wurzeln des radikalen islamistischen Terrorismus werden von westlichen Entscheidungsträgern und Massenmedien vornehmlich in einem religiösen Fanatismus gesehen, der die säkulare Lebensweise der Menschen in Nordamerika und Europa bedroht. Dass es sich dabei auch um eine Strategie im Rahmen einer asymmetrischen Kriegsführung handelt, die in der Geschichte fast ausschließlich immer aufgrund einer Besatzung oder illegitimen Beeinflussung eines militärisch und wirtschaftlich hoffnungslos unterlegenen Landes oder Territoriums ausgelöst wurde, wird dabei unterschlagen. Eine Hoffnung auf ein dauerhaft friedliches Miteinander auch über die eigenen Landesgrenzen hinweg erscheint erst möglich, wenn die Menschheit bereit ist, die instinktiv geprägte Eigenschaft, Konflikte im Notfall mit Gewalt und Mord zu lösen, kulturell einzuhegen. Von Karsten Montag.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der in Europa und Nordamerika hauptsächlich aus den muslimischen Ländern stammende Terror wird in den einflussreichen westlichen Massenmedien vornehmlich mit den Adjektiven „radikal“, „islamistisch“, „brutal“ und „grausam“ versehen. Diese Konnotationen sollen die terroristischen Anschläge als Werke von kriminellen, menschenverachtenden sowie religiös und politisch verwirrten Tätern erscheinen lassen. Völlig ungeachtet dessen, dass das Töten und Verletzen von Zivilisten ein Verbrechen ist – sowohl durch Terroranschläge als auch durch Bomben und Granaten einer regulären Armee – werden mit diesen einfachen, ständig wiederholten Begriffen Motive, Verurteilungen und Rechtfertigungen konstruiert.

Bereits die Bezeichnung „Terror“ weist auf einen illegitimen, unmoralischen Akt hin. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia definiert den Begriff als „systematische und oftmals willkürlich erscheinende Verbreitung von Angst und Schrecken durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt, um Menschen gefügig zu machen.“ Die Zusätze „radikal“ und „islamistisch“ sollen die Motive für die Attentate erklären. Den Tätern wird vorgeworfen, die bestehende Gesellschaftsordnung auf Basis fundamentalistischer religiöser Ideologien verändern zu wollen. Die Beschreibungen „brutal“ und „grausam“ sind im Grunde tautologischer Natur, da sie bereits in der Definition von Terror enthalten sind, und sollen den menschenverachtenden Charakter der Anschläge noch deutlicher herausstellen.

Auf der anderen Seite von Terroranschlägen stehen die zumeist willkürlich attackierten Opfer sowie der Staat, der als Inhaber des Gewaltmonopols gefordert ist, die eigenen Bürger vor den Attentaten sowie ihren Verursachern zu schützen und im Extremfall die Wurzeln des Übels selbst unter Missachtung des Völkerrechts und unter Anwendung von Gewalt in den Heimatländern der Täter mit Stumpf und Stiel auszurotten. Das Ganze erinnert nicht nur zufällig an einen amerikanischen Western aus den Sechzigern oder wahlweise an aktuelle Superhelden-Comic-Verfilmungen. Darin schändet und tötet das ultimative Böse zunächst unschuldige Opfer, sodass der Held der Geschichte regelrecht gezwungen ist, die Übeltäter mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen. Das Narrativ des rückständigen, weil fundamentalistisch religiös motivierten Islamismus, gepaart mit Bildern von dunkelhäutigen, bärtigen und bedrohlich aussehenden bewaffneten Milizionären, ist ganz offensichtlich darauf ausgelegt, an das in der Kulturindustrie verbreitete Gut/Böse-Schema anzuknüpfen.

Diese Erzählung ist jedoch nur der Vorhang, hinter dem sich die grundsätzliche menschliche Eigenschaft versteckt, die Interessen von einzelnen und von Gruppen notfalls auch mit Gewalt und Mord durchzusetzen. Da dies zur Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb der eigenen Landesgrenzen streng untersagt und nur dem Staat selbst vorbehalten ist, bedarf es einer gesonderten Rechtfertigung, warum das Verbot im Ausland nicht gelten soll – selbst, wenn die militärischen Interventionen nicht durch die Vereinten Nationen, die zur Reglementierung internationaler Gewaltakte ausdrücklich geschaffen worden sind, legitimiert sind.

Die Rechtfertigung für das Morden mit überlegenen Waffen und Armeen in anderen Ländern lautet Selbstverteidigung. Die anderen haben aus niederträchtigen Gründen angefangen, und jetzt müssen die Soldaten des durch Terror angegriffenen Landes die Bedrohung beseitigen, um die eigene Bevölkerung zu schützen. Wenn man jedoch bereit ist, hinter den Vorhang zu schauen, dann weist bereits der Begriff „Terrorismus“ darauf hin, was dem gewalttätigen Konflikt vorausgegangen sein könnte.

Terrorismus ist eine Strategie der asymmetrischen Kriegsführung

Mit asymmetrischen Kriegen werden Konflikte bezeichnet, in denen eine Kriegspartei militärisch derart überlegen ist, dass die andere Partei in offenen Gefechten keine Chance auf einen Sieg hat. Letztere geht dann dazu über, den Gegner mit der Strategie der „Nadelstiche“, auch als Guerilla- oder Partisanenkampf bekannt, zu zermürben und seine Kräfte zu überdehnen.

Asymmetrische Kriege sind kein Phänomen der Gegenwart. In der Geschichte findet man etliche Beispiele für diese Form der Auseinandersetzung. Das berühmteste Ereignis dieser Art in der Antike war die Varusschlacht im damaligen Germanien, in der der Cheruskerfürst Arminius im Jahr 9 nach Christus die Armee des römischen Feldherrn Varus in einen Hinterhalt lockte, sie mit seinen militärisch unterlegenen Einheiten vernichtend schlug und so die römische Besatzung östlich des Rheins beendete.

Die Blaupause für moderne asymmetrische Kriege findet man im spanischen Unabhängigkeitskrieg zwischen 1808 und 1814 gegen die französische Besatzungsmacht zur Zeit der Herrschaft Napoleon Bonapartes über weite Teile Kontinentaleuropas. Der Kampf lokaler Milizen, die sich vornehmlich aus der zivilen Bevölkerung rekrutierten, gegen die französischen Soldaten prägte den Namen „Guerilla“ (kleiner Krieg), als Verkleinerungsform abgeleitet vom spanischen Wort „Guerra“ für Krieg. Als weitere Beispiele dieser Form der Kriegsführung sind unter vielen anderen zu nennen:

  • der unter dem Namen „Résistance“ bekannt gewordene Widerstand in Frankreich, Belgien und Luxemburg gegen den Nationalsozialismus und die mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierenden inländischen Institutionen und Bevölkerungsgruppen,
  • die Partisanenkämpfe (der Begriff „Partisan“ ist abgeleitet von „Partigiano“, italienisch für „Parteigänger“) in Italien, in Jugoslawien und in der Sowjetunion gegen die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs sowie
  • die Unabhängigkeitskriege in Indonesien 1945 bis 1949 gegen die niederländische Kolonialmacht, in Vietnam 1946 bis 1954 und in Algerien 1954 bis 1962 gegen die französische Kolonialmacht, in Vietnam gegen die US-amerikanische Besatzung Südvietnams 1964 bis 1975 sowie in Afghanistan 1979 bis 1989 gegen die sowjetische Besatzung.

Da die Widerstandskämpfer meistens aus der Deckung der Zivilbevölkerung heraus operierten, kam es immer wieder zu sogenannten „Vergeltungsmaßnahmen“ der Besatzungsmächte, in denen willkürlich ausgewählte Zivilisten ermordet wurden. Der Bundesgerichtshof entschied 2004 in einem Revisionsverfahren gegen einen ehemaligen SS-Sturmbandführer, der im Zweiten Weltkrieg während der deutschen Besatzung in Italien eine Massenerschießung italienischer Gefangener als Vergeltungsmaßnahme nach einem gegen deutsche Soldaten gerichteten Partisanenangriff befehligt hatte, dass eine solche Tat „als derart menschenverachtend einzustufen [ist], daß sie nur als rechtswidrig zu werten ist“.

Während im klassischen Guerilla- und Partisanenkampf die Besatzungsmacht hauptsächlich im okkupierten Land bekämpft wird, wird der Einsatz von Taktiken der asymmetrischen Kriegsführung, wie beispielsweise Sprengstoff- und Selbstmordanschläge, im Heimatland der Besatzungsmacht vornehmlich „Terrorismus“ genannt. So kam es im algerischen Unabhängigkeitskrieg zu zahlreichen Terroranschlägen der algerischen Befreiungsbewegung in Paris. Auch Attentate gegen zivile und militärische Einrichtungen in Algerien selbst wurden von Frankreich als Terroranschläge eingestuft.

Die Einordnung des bewaffneten Widerstands als „Terrorismus“ oder „Rebellion“ ist abhängig von der Perspektive

Die Besatzungsmächte und deren Verbündete verwenden für gewalttätigen Widerstand, der gegen sie gerichtet ist, vornehmlich die Begriffe „Terror“, „Terrorismus“ und „Terroranschlag“ sowie für dessen Verursacher die Bezeichnung „Terrororganisation“. Im Gegensatz dazu werden vergleichbare Aktionen in Ländern, deren Staatsführungen von der eigenen Regierung bekämpft werden, als „Widerstand gegen das Regime“ und deren Verursacher als „Rebellen“, „Rebellengruppen“ oder einfach nur als „Gruppe“ bezeichnet.

Besonders auffällig wird diese Unterscheidung in der deutschen Berichterstattung über die militärischen Konflikte in den beiden Nachbarländern Syrien und Irak. Fast zeitgleich finden sich beispielsweise im Magazin der Spiegel ein Beitrag zum „Bürgerkrieg“ in Syrien mit dem Titel „Islamistische Rebellen erobern strategisch wichtige Stadt“, in dem die dafür verantwortliche al-Nusra-Front explizit nicht als Terrororganisation bezeichnet wird, sowie ein Beitrag über die „Plünderungen“ des Islamischen Staats im Irak mit dem Titel „IS-Fanatiker verwüsten Mossuls Museen“, in dem die Täter als „Terroristen“, „Dschihadisten“ und Angehörige einer „Terrororganisation“ bezeichnet werden. Die al-Nusra-Front ist ein Ableger von al-Qaida, und der Islamische Staat wurde mit Unterstützung von al-Qaida gegründet. Beide Vereinigungen waren bereits vor dem Zeitpunkt der Berichterstattung des Spiegels vom UN-Sicherheitsrat als „Terrororganisationen“ eingestuft worden.

Auch der radikale islamistische Terror ist Folge von Kolonialismus, illegitimer Einflussnahme sowie militärischen Interventionen durch den Westen

Obwohl der Blick in die Geschichte zeigt, dass asymmetrischen Kriegen in einem grenzübergreifenden Kontext immer ein Angriff, eine Besatzung oder eine maßgebliche Beeinflussung der Führung eines Lands durch eine militärisch und wirtschaftlich überlegene Macht vorausgegangen ist, wird dem radikalen islamistischen Terrorismus das Gegenteil unterstellt. In einem Arbeitspapier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik werden beispielsweise als Motivation für den Kampf des Islamischen Staats gegen westliche Länder jahrzehntealte „jihadistische Sehnsüchte“ eines „gemeinsamen Reichs aller Muslime unter einem geistlich-weltlichen Herrscher, das die Gebote Gottes in sämtlichen Lebensbereichen verwirklicht“, genannt.

Die Terroranschläge und die Ausrufung eines Kalifats im Irak und in Syrien erfolgten laut des Papiers allein aufgrund der Ideologie des Islamischen Staats, die USA und andere westliche Länder würden sich lediglich gegen diese Aggression zur Wehr setzen. Unterschlagen wird unterdessen die Tatsache, dass die Organisation ursprünglich von ehemaligen Offizieren des irakischen Geheimdienstes Saddam Husseins 2006 unter anderem mit dem Ziel der Vertreibung aller Invasoren und Aggressoren aus dem Irak gegründet und geführt wurde. Die Gründung des Islamischen Staats ist also eine direkte Konsequenz des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der USA, Großbritanniens und einer weiteren Gruppe von westlichen Ländern, welche „Koalition der Willigen“ genannt wird, gegen den Irak.

Auch die Terrororganisationen al-Qaida und Hamas sind ohne eine lange Phase der Kolonisation muslimischer Länder durch Großbritannien und Frankreich, völkerrechtswidrige Einflussnahmen wie beispielsweise die CIA- und MI6-Operation Ajax im Iran oder die CIA-Operation Cyclone in Afghanistan sowie die Gründung und Ausweitung des Staates Israel hauptsächlich auf dem Gebiet palästinensischer Siedler nicht denkbar.

Die Opferzahlen islamistischer Terroranschläge in westlichen Ländern im Vergleich zu den Opferzahlen des Kriegs gegen den Terror

Vergleicht man die Opferzahlen von islamistischen Terroranschlägen in westlichen Ländern und in Israel mit den Opfern des sogenannten „Krieges gegen den Terror“, wird deutlich, wer eigentlich Krieg gegen wen führt. Laut einer Studie der französischen Denkfabrik „Fondation pour l’innovation politique“ sind zwischen 2001 und 2019 in Nordamerika und Westeuropa insgesamt 3.784 Menschen an den Folgen islamistischer Terroranschläge verstorben. Darin sind auch die 3.001 Todesopfer der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA eingerechnet.

Die Anzahl der direkten einheimischen Kriegstoten durch US-Kriege in den Kriegsgebieten Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien und Jemen in den Jahren 2001 bis 2023 beläuft sich laut einer Auswertung von Statista je nach Schätzung auf maximal insgesamt etwas über 900.000. Doch neben direkten Opfern der militärischen Handlungen haben die Kriege und Sanktionen auch Folgen für die Wirtschaft, das Gesundheitswesen, die hygienischen Zustände, die Ernährung und die innere Sicherheit der betroffenen Länder. Rechnet man die langfristigen Folgen der Kriege hinzu, wächst die Opferzahl deutlich an.

Gemäß einer Studie des „Watson Institute for International and Public Affairs“ an der Brown University in Rhode Island, USA, vom Mai 2023 sind seit 2001 inklusive aller indirekten Opfer insgesamt mindestens 4,5 bis 4,7 Millionen Menschen in Afghanistan, Pakistan, im Irak, in Syrien und im Jemen an den direkten und indirekten Folgen des Krieges gegen den Terror verstorben. Um zu verdeutlichen, wie unterschiedlich die unmittelbare Gefahr dieser asymmetrischen Kriege für die jeweilige Bevölkerung ist, soll diese für Deutschland und Afghanistan einmal gesondert dargestellt werden.

Immense Risikounterschiede in Deutschland und Afghanistan

Zwischen 2001 und 2019 wurden in Deutschland 18 Todesopfer aufgrund von islamistischen Terroranschlägen verzeichnet, davon gehen allein zwölf auf das Konto des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt in Berlin 2016. Das Risiko, in Deutschland in diesem Zeitraum an den Folgen eines islamistischen Terroranschlags zu sterben, lag demnach statistisch bei eins zu 4,4 Millionen. Das bedeutet, ein Mensch von 4,4 Millionen ist in Deutschland in diesem Zeitraum durch ein derartiges Attentat ums Leben gekommen. Zum Vergleich: In Deutschland verunglücken pro Jahr im Schnitt vier Menschen aufgrund eines Blitzeinschlags tödlich. Auf den Zeitraum 2001 bis 2019 umgerechnet, lag das Risiko, in Deutschland von einem Blitz tödlich getroffen zu werden, bei eins zu 1,1 Millionen. Dieses war also vier Mal höher als das Risiko, durch einen islamistischen Terroranschlag zu sterben.

Die Vereinigung „International Physicians for the Prevention of Nuclear War“ schätzt die Anzahl der Opfer des Krieges in Afghanistan und dessen Folgen zwischen 2001 und 2021 auf 800.000. Das Risiko, in Afghanistan aufgrund des dortigen Krieges gegen den Terror und dessen Folgen in diesem Zeitraum zu versterben, lag demnach bei eins zu 38. Das bedeutet, es wird kaum einen erwachsenen Afghanen geben, der nicht mindestens einen Verwandten, Nachbarn oder Freund durch den Krieg verloren hat.

Große Risikounterschiede auch für Israelis und Palästinenser

Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) zählt in dem Konflikt zwischen Israel und Palästina auf der Seite der Israelis zwischen 2008 und dem 6. Oktober 2023 insgesamt 314 und auf der Seite der Palästinenser 6.680 Todesopfer. Gemessen an der jeweiligen Bevölkerungsgröße war das Risiko der Palästinenser, an den Folgen dieses Konflikts zu sterben, circa 40-mal höher als das Risiko der Israelis. Mit den Anschlägen der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel und den darauffolgenden militärischen Interventionen der israelischen Armee im Gazastreifen hat sich das Risiko der Palästinenser im Vergleich zu den Einwohnern Israels noch einmal deutlich erhöht.

Aktuellen Meldungen zufolge sind im Gazastreifen bis zum 14. Dezember 2023 knapp 18.800 Einwohner dem Krieg zwischen Hamas und der israelischen Armee zum Opfer gefallen. Wahrscheinlich ist die Opferzahl noch deutlich höher, da Verschüttete, die unter den zerbombten Häusern liegen, bisher nicht in die Statistik eingegangen sind. Zwei Drittel der Toten sind Frauen und insbesondere Kinder. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt bezüglich der zivilen Opfer:

Die hohe Zahl ziviler Opfer nährt Vorwürfe, die israelische Führung wolle Rache nehmen an der Bevölkerung für die Taten der Hamas. Auch die scharfe antipalästinensische Rhetorik der Staatsführung trägt dazu bei. So hat Israels Präsident Isaac Herzog die für das Völkerrecht wichtige Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern infrage gestellt. Die gesamte palästinensische Nation sei verantwortlich für die Taten der Hamas, sagte Herzog an einer Pressekonferenz am 13. Oktober. Es gebe keine unbeteiligten Zivilisten in Gaza.“

Im Gegensatz dazu sind während des Terrorangriffs der Hamas auf Israel 1.200 Menschen ums Leben gekommen. Die ursprüngliche Opferzahl von 1.400 wurde nach unten korrigiert, da unter den Toten auch viele Hamas-Kämpfer zu verzeichnen waren. Des Weiteren sind bei den Kämpfen im Gazastreifen bisher circa 100 israelische Soldaten ums Leben gekommen. Bezogen auf die Einwohnerzahl ist das Risiko für Bewohner des Gazastreifens, in dem aktuellen Konflikt ums Leben zu kommen, 65-mal höher als das der israelischen Bevölkerung.

In einem Krieg haben sich immer beide Seiten für die Gewalt entschieden

In einem Krieg haben sich beide Konfliktparteien dafür entschieden, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Doch während die eine Seite eine gigantische Propagandamaschine und im Grunde erstaunlich unlogische und widersprüchliche Slogans wie „Krieg gegen den Terror“ benötigt, um die Gewalt vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen, hat die andere Seite trotz eines hohen individuellen Risikos kaum Schwierigkeiten, neue Kämpfer für die eigene Sache zu rekrutieren.

Man kann keinen Krieg gegen eine Strategie in einem asymmetrischen Konflikt führen, sondern nur gegen Menschen. Wenn Menschen in einem militärischen Konflikt unmittelbar erleben müssen, wie um sie herum Verwandte, Freunde, Nachbarn und Kinder Opfer von Bomben, Granaten und Gewehrkugeln werden und sie selbst ihres eigenen Lebens kaum sicher sein können, ist ihre Motivation, sich gegen die Gewalt physisch zur Wehr zu setzen, deutlich größer, als wenn sie sicher und satt vor dem Fernseher beim Betrachten von „Infotainment-Sendungen“ von der Notwendigkeit militärischen Eingreifens überzeugt werden müssen. Und so ist es schwierig, in der Geschichte Beispiele für Befreiungskämpfe zu finden, die heute noch negativ gewertet werden.

Niemand käme in der aktuellen Geschichtsschreibung auf die Idee, Arminius und seine verbündeten germanischen Stämme als „Terroristen“ zu bezeichnen – selbst die derzeitigen Bewohner der Stadt Rom nicht. Das Römische Imperium ist schon lange untergegangen, und es existiert keine politische Elite in Mittelitalien mehr, welche die eigene arbeitende Bevölkerung davon überzeugen muss, Geld und Menschenleben zu opfern, um die Interessen Roms gegen die Interessen germanischer Stämme mit Gewalt durchzusetzen. Genauso wenig kommt heutzutage kein Franzose auf die Idee, den spanischen Widerstand während der Zeit der Besatzung durch Napoleons Armeen als „Terrorismus“ zu bezeichnen, und keinem Deutschen würde es einfallen, die französische Résistance im Zweiten Weltkrieg mit „Terrororganisation“ zu beschreiben.

Nähert man sich jedoch der aktuellen Zeitgeschichte und damit den derzeit bestehenden Interessenkonflikten, gehen diese Begriffe bei der Beschreibung eines vermeintlichen Gegners in einem asymmetrischen Krieg deutlich leichter über die Lippen. Dabei muss man sich jedoch gewahr machen, dass sich die Mitglieder der al-Qaida, des Islamischen Staats und der Hamas ganz sicher nicht selbst als Terroristen, sondern als Freiheitskämpfer sehen. Diese unterschiedlichen Ausdrücke beschreiben im Grunde lediglich einen Interessenkonflikt, der mit Gewalt ausgetragen wird. Bei diesen Interessen geht es, wie immer im Laufe der Geschichte, um Macht, Ressourcen und geopolitischen Einfluss.

Gibt es eine Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden?

Imperien und geopolitische Allianzen sind keine Besonderheiten in der Menschheitsgeschichte. Es hat ein Reich Alexander des Großen gegeben, ein Römisches Reich, ein Heiliges Römisches Reich, ein Kaiserreich China, ein Osmanisches Reich, ein Britisches Weltreich, ein Sowjetreich, und es wäre aus historischer Sicht angemessen, aktuell von einem US-amerikanischen Imperium zu sprechen, mit dem ein Großteil der Länder der Europäischen Union ein intensives wirtschaftliches und militärisches Bündnis eingegangen ist. Allen Weltreichen ist es gemein, dass es in ihrem Inneren einen lang anhaltenden Frieden und an ihren Außengrenzen immer wieder aufflammende militärische Konflikte gab.

Alle historischen Weltreiche haben auf Dauer ihren geopolitischen Einfluss verloren, weil sich außerhalb ihres Einflussgebietes Allianzen gebildet haben, die am Ende wirtschaftlich und militärisch stärker waren. Der Zusammenschluss der BRICS-Staaten sowie dessen Erweiterung könnte das Ende des US-amerikanischen Imperiums einläuten. Die Folge wären intensivere militärische Konflikte an dessen Außengrenzen, ein Zerfall der Bündnisse mit anderen Ländern sowie am Ende der Verlust von Stabilität und Sicherheit in dessen Inneren.

Doch damit würde im Grunde nur ein neues Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen werden. Die Terroristen von heute werden in einer zukünftigen Geschichtsschreibung eventuell als Freiheitskämpfer beschrieben, oder der Begriff „Terrorist“ erhält eine neutrale oder gar positive Bedeutung, genauso wie „Guerillero“ oder „Partisan“. So lange Menschen jedoch aufgrund ihrer tief in ihren Instinkten verankerten Eigenschaften bereit sind, Interessenkonflikte auch mit Gewalt zu lösen, werden sich höchstens die Begriffe und ihre Bedeutungen ändern.

Angesichts der Jahreswende und der einhergehenden christlichen Feierlichkeiten zu Ehren eines Mannes, der vor 2000 Jahren laut Überlieferung vorgeschlagen haben soll, bei der Lösung von Interessenkonflikten grundsätzlich auf den Einsatz von physischer Gewalt zu verzichten, könnten sich die Angehörigen dieses Kulturkreises einmal fragen, was eigentlich in der Zwischenzeit schief gelaufen ist, dass seine Lehren bis heute so missverstanden, missinterpretiert und missbraucht wurden und immer noch werden. Was müsste eigentlich geschehen, dass Konflikte nicht nur innerhalb der eigenen Landesgrenzen größtenteils friedlich gelöst werden, sondern auch darüber hinaus? Benötigen die Vereinten Nationen auch die notwendige militärische Macht, um Sanktionen gegen den Verstoß des Gewaltverbotes zu verhängen, egal, wer diesen begangen hat? Wer stellt dann sicher, dass diese Macht nicht zugunsten eines Staates missbraucht wird?

Oder bedarf es einer Graswurzelbewegung, in der jeder und jede Einzelne mit kultureller Unterstützung verinnerlicht, dass ein dauerhaftes Zusammenleben der Spezies Mensch mit derart vielen Individuen und Waffen, die die zum Überleben notwendige Umwelt gleich mehrfach zerstören können, auf diesem Planeten nur möglich ist, wenn man friedlich miteinander kooperiert, anstatt gewaltsam zu konkurrieren? Diese Erkenntnis fällt deutlich leichter, wenn man sich und seine Umgebung in relativer Sicherheit wiegt und lediglich Orwell‘sche Neusprech-Manipulationen wie „Panzer retten Leben“ kritisch hinterfragen muss. Dafür reicht es, die verfügbaren Medien nicht allein als Konsumobjekt, sondern als Wissensdatenbank zu nutzen und sich des eigenen gesunden Menschenverstands zu bedienen. Deutlich schwieriger ist diese Erkenntnis zu erlangen, wenn man ohnmächtig vor einem Panzer steht, der gerade das eigene Heim und die darin wohnenden nächsten Verwandten zerschossen hat.

Titelbild: quetions123/shutterstock.com