Stimmen aus Ungarn: Wie der Westen die Ukraine zerschlagen lässt – Teil 2

Stimmen aus Ungarn: Wie der Westen die Ukraine zerschlagen lässt – Teil 2

Stimmen aus Ungarn: Wie der Westen die Ukraine zerschlagen lässt – Teil 2

Ein Artikel von György Varga

Ob die Ukraine in diesem Krieg als Staat erhalten bleibt, hängt davon ab, wie lange der Krieg noch geführt wird. Die Idee, Russland zu ruinieren, gehört offensichtlich der Vergangenheit an. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Ukraine zerschlagen wird. Für den ungarischen Diplomaten György Varga, spezialisiert auf den postsowjetischen Raum, ist es Zeit, innezuhalten und die Gründe zu analysieren, wie es zu diesem Konflikt gekommen ist, wer dafür die Verantwortung trägt und wie man aus dem Konflikt herauskommt.
Im Teil 2 fragt der Autor, warum für die Verluste in der Ukraine Wladimir Putin und nicht Boris Johnson und die von ihm vertretenen Politiker verantwortlich gemacht werden. Er kritisiert das systematische Missmanagement der internationalen Beziehungen, welches zu diesem Konflikt geführt hat, und beklagt das Versagen des EU-Außenministers Josep Borrell in seiner Funktion. Den ersten Teil können Sie hier auf den NachDenkSeiten nachlesen. Ein Artikel von György Varga, ins Deutsche übersetzt von Éva Péli.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Am 24. Februar 2022 startete Russland eine militärische Sonderoperation (Krieg) in der Ukraine, doch bereits am fünften Tag, dem 28. Februar, haben die beiden Staaten miteinander verhandelt, um die Militäroperation einzustellen. Die Verhandlungen in Minsk und Istanbul führten zu einem Abkommen, das von den Verhandlungsdelegationen Ende März 2022 paraphiert wurde. Die wichtigsten Punkte des Abkommens sind, dass die Ukraine ein neutrales Land bleibt, nicht der NATO beitritt und dass Russland sich aus der Ukraine zurückzieht – mit Ausnahme der Oblaste Luhansk und Donezk. Die 2014 verlorene Krim war nicht Teil des Abkommens.

Nach etwa 15 Jahren der Vorbereitung, nach vielen Investitionen und nachdem der politische Westen von der Paraphierung des Abkommens zwischen Russland und der Ukraine erfahren hatte, sah er die Gelegenheit, Russland entscheidend zu schwächen, verloren gehen.

Dawyd Arachamija, der Leiter der ukrainischen Verhandlungsdelegation, bestätigte am 25. November 2023 in einem Fernsehinterview vor aller Welt – gewissermaßen die Verantwortung von sich weisend –, dass der am 9. April 2022 in Kiew eingetroffene britische Premierminister Boris Johnson gesagt habe, die Ukraine solle „überhaupt nichts mit ihnen unterschreiben – sie sollten einfach weiterkämpfen“ („shouldn’t sign anything with them at all – and let’s just fight”).

Heute wissen wir, dass der militärische Konflikt zeitlich und räumlich hätte vermieden werden können und dass die EU die Gewinnerin eines Abkommens zwischen den beiden betroffenen Ländern gewesen wäre. Warum wird Wladimir Putin und nicht Boris Johnson – und die Politiker, die ihm die Vollmacht gaben, diese Botschaft zu überbringen – für den Tod der halben Million ukrainischer Soldaten, die seither gefallen sind, für die zerstörte und noch zu zerstörende Infrastruktur, den Verlust der beiden anderen ukrainischen Bezirke (Cherson und Saporischschja), die seither annektiert wurden, für die Millionen von Flüchtlingen und die anhaltende europäische und globale (Energie-, Finanz-, Logistik-, Agrar-, Vertrauens- usw.)Krise verantwortlich gemacht?

Ideologie statt Sicherheitspolitik

100 von 100 Sicherheitsexperten antworten mit Ja auf die Frage, ob die Vereinigten Staaten Kuba rechtmäßig zerstören würden, wenn russische Raketen im Lande auftauchen würden. Von denselben 100 Experten wird nicht einmal die Hälfte die Frage bejahen, ob die russischen Sicherheitsinteressen in der Ukraine legitim sind. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Fachwissen, sondern um religiöse Lehre. Wo wird Theorie der internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik auf diese Weise gelehrt, dass Interessen und Fähigkeiten dominieren? Das ist kommunistische Parteinahme, wenn ich trotz offensichtlicher Tatsachen und allgemein gültiger fachlicher Grundsätze im Interesse einer gemeinsamen Ideologie eine Position einnehme, die rational nicht zu rechtfertigen ist – Atlantizismus mit der Absicht, Territorium zu gewinnen.

Meine eigene Erfahrung ist, dass die sektiererisch denkenden Atlantiker den oben genannten Zusammenhang nicht akzeptieren. Sie argumentieren damit, dass die Ukraine ein absolut souveränes Land ist – das nicht den Kräften der internationalen Beziehungen unterworfen ist –, im Gegensatz zu Kuba, wo es legitime US-Interessen gab, gibt und geben wird. Die Einrichtung eines russisch-chinesischen Militärstützpunkts in Kuba, beispielsweise im Rahmen der BRICS-Staaten, kommt daher nicht in Frage. Oder vielleicht doch? Ist Kuba ein so souveräner Staat, dass es das tun könnte? Ich denke schon, und das Völkerrecht unterstützt meine Position, aber die US-Amerikaner sagen Nein. Und jeder vernünftige Mensch sollte erkennen, dass sie recht haben – es sei denn, wir wollen, dass sie Kuba vernichten – so, wie sie die Ukraine von den Russen zerschlagen lassen.

Massen von Menschen, die lesen können, glauben, dass der todkranke russische Präsident ohne jegliche gesellschaftliche Unterstützung die Ukraine mit (mit westlichen Waschmaschinen-Chips versehenen) Raketen und Panzern angreift, und zwar ohne jeglichen Vorwand!! Eine Ukraine, deren Führung alle ihre internationalen Verpflichtungen in gutem Glauben erfüllt hat, die weder gegen ihre eigenen ethnisch russischen Bürger noch gegen den europäischen sicherheitspolitischen Status quo verstoßen hat.

„Nach der Ukraine werden weitere Länder Putins Aggression zum Opfer fallen“. Das behaupten führende europäische Politiker und jagen damit Hunderten von Millionen Europäern schreckliche Angst ein. Mit dieser Panikmache sollen sie dazu gebracht werden, in einem verloren gehenden Krieg die Flucht nach vorne zu ergreifen. Für neue Sanktionen, Waffenlieferungen und eine weitere Eskalation muss gesellschaftliche Unterstützung geschaffen werden. Ohne eine Eskalation des Krieges scheint die Ukraine zu verlieren. Wenn die Mehrheit der europäischen Bürger Angst hat, werden sie den Krieg auf ukrainischem Territorium unterstützen, um ihre eigene Beteiligung zu vermeiden. Wir warten auf die Lieferung von F-16-Kampfjets, deutschen TAURUS-Mittelstreckenraketen (500 Kilometer Reichweite), die zu einem noch stärkeren russischen Gegenschlag führen werden. In der täglichen Kommunikation ist natürlich nicht derjenige der Barbar, der den Einsatz erhöht – als externer Beteiligter von außen drückt er dem schwächeren Kämpfer sogar ein Messer in die Hand –, sondern der direkt Beteiligte, der auf die neue Situation erwartungsgemäß härter reagiert.

Zweierlei Maß und Doppelmoral

Weil das Narrativ bisher lautete „Wenn Putin gewinnt, verlieren wir“, scheinen nun die Kriegsbefürworter zu verlieren; obwohl nur politisch, während weitere hunderttausende Ukrainer sterben – „für uns, Europa verteidigend“. Derweil hoffen die Befürworter des verabsolutierten und eskalierten „Heiligen Krieges“, dass der russische Präsident in den kommenden Jahren erkrankt oder dass das russische Volk eher als die EU-Bürger der Last des Krieges überdrüssig wird – wie EU-Hochkommissar Borrell sagte: „Lasst das Schlachtfeld entscheiden!“ Wie auch immer es ausgeht, die Verantwortung kann auf EU-Ebene versinken. Weder Ursula von der Leyen noch der EU-Kommissar Borrell sind juristisch für die ukrainischen Toten oder die Krise der europäischen Wirtschaft verantwortlich, sie werden sie den Regierungen der Mitgliedsstaaten aufbürden.

Manche Kriege, Aggressoren und Opfer überbewerten wir, andere ignorieren wir. Der Staatsmann eines bestimmten Landes, das Aggression erleidet, erhält eine quasi ständige Mitgliedschaft in der G7, der G20, der NATO, der EU, mit fast formellen Rechten sowie Rederecht vor dem UN-Sicherheitsrat, dem Weltwirtschaftsforum in Davos, den Filmfestivals in Cannes und Hollywood, den Fußballweltmeisterschaften und den Plenarsitzungen der nationalen Parlamente des politischen Westens. Andere Länder, die ebenfalls von Aggressionen betroffen sind, werden gar nicht erwähnt. Irgendwie schaffen sie es nie, in solche „Klubs“ zu gelangen, obwohl sie Millionen von Menschenopfern haben.

Die Ukraine ist für dieses systematische Missmanagement der internationalen Beziehungen und seine Folgen nicht verantwortlich. Die jetzt zerstörten Subsysteme – die globalen Finanzmärkte, die Energie, die Schifffahrt, die Luftfahrt, der Außenhandel insgesamt – werden unter den Folgen der Manipulationen des politischen Westens bei der Bewältigung des Konflikts und dann des Krieges in der Ukraine wohl noch über Jahrzehnte leiden.

Missachtung der Diplomatie

Der vertragsrechtliche Rahmen der internationalen Beziehungen, die notwendigste Grundlage des Vertrauens zwischen Staaten, ist beschädigt. Welcher Staat wird nationale Reserven in Staatsanleihen bei anderen Staaten hinterlegen, wenn diese frei gestohlen werden können (durch Sanktionen beschlagnahmt, in ein anderes Land transferiert)? Begründet wird es mit der jeweiligen Aggression, von denen es jederzeit weltweit zehn bis 20 gibt. Oder Washington und Brüssel finden gerade keinen Gefallen an der innenpolitischen Konstellation eines Landes. Wir wenden das Prinzip der Kollektivschuld gegen alle Bürger des absolut Bösen an, wann immer wir wollen. Und wir verurteilen die Anwendung des Prinzips der Kollektivschuld auf andere Staaten, prinzipienlos, nach unserem Belieben. Wir treten für die Informations- und Meinungsfreiheit ein, aber wir können in der EU keine russischen Sender sehen. Nicht dass der EU-Bürger sich am Ende ob der Unterstützung des Krieges und der Sanktionen gegen Russland verunsichern ließe! Vielleicht kommt er noch zu dem Schluss, dass der Krieg sowohl vermeidbar als auch schnell zu beenden war, und beginnt, darüber nachzudenken, wer dafür verantwortlich ist.

Doch aus einem Krieg kommt man nur schwer wieder heraus. Josep Borrell, der „Kriegsminister“ der EU, sagte sinngemäß, dieses Spiel müsse auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden – nur die Russen nahmen es ernst. Ich habe absichtlich Kriegsminister geschrieben, denn diplomatische Bemühungen konnte man dem Hohen Vertreter der EU für auswärtige Angelegenheiten – der seinen Beruf und seine Verantwortung für 450 Millionen EU-Bürger schmäht – in den letzten zwei Jahren nicht „unterstellen“. Als Diplomat kämpft er absurderweise nicht darum, einen Konflikt zu isolieren, sondern ihn aufrechtzuerhalten, indem er die institutionellen Möglichkeiten der EU nutzt, um die Instabilität Europas aufrechtzuerhalten. Was verrät uns das über den Zustand der EU?

Sicherlich waren Nikita Chruschtschow und Fidel Castro 1962, als sie einer Eskalation der Kuba-Krise auswichen, weitaus klüger als ihre US-amerikanischen, britischen und ukrainischen Nachfolger im Jahr 2022 oder die oben genannten führenden EU-Politiker. Ihre Nationen werden sie alle nach ihren Verdiensten in Erinnerung behalten.

Dieser Artikel von György Varga ist im Original auf #moszkvater.com erschienen. Für die Übersetzung bedanken sich die NachDenkSeiten bei Éva Péli.

Dr. György Varga ist Diplomat mit Spezialisierung auf den postsowjetischen Raum. Er hat in Theorie der internationalen Beziehungen promoviert und als Universitätsdozent strategische Planung, Sicherheitspolitik und Theorie der internationalen Beziehungen gelehrt. Als Diplomat vertrat er Ungarn in der Ukraine, in Moskau, er war Botschafter in Moldawien und von 2017 bis 2021 Leiter der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Russland. In dieser Funktion verbrachte er die vier Jahre vor dem Krieg im Namen der 57-Länder-Organisation an der Grenze von Russland und dem Gebiet des Donbass, das nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert war. Er leitete eine ununterbrochene internationale Überwachung, die zur Lösung des Konflikts beitragen sollte. Varga ist Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA).

Titelbild: Shutterstock / kirill_makarov