Vor zehn Jahren: Ukrainische Soldaten beschießen Demonstration zum 9. Mai und Polizei-Zentrale in Mariupol

Vor zehn Jahren: Ukrainische Soldaten beschießen Demonstration zum 9. Mai und Polizei-Zentrale in Mariupol

Vor zehn Jahren: Ukrainische Soldaten beschießen Demonstration zum 9. Mai und Polizei-Zentrale in Mariupol

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Der Angriff ukrainischer Soldaten, Nationalgardisten und Asow-Mitglieder auf eine Demonstration zum Tag des Sieges über Hitler-Deutschland am 9. Mai 2014 in Mariupol und die Beschießung der örtlichen Polizeizentrale, wo sich meuternde Polizisten verbarrikadiert hatten, am gleichen Tag waren nach dem Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa ein weiterer Zündfunken im ukrainischen Bürgerkrieg. In Mariupol starben am 9. Mai 2014 durch die Kugeln ukrainischer Sicherheitskräfte 26 Menschen. 35 Personen wurden verletzt. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Gewalt in Mariupol war Folge des ukrainischen Bürgerkrieges, der nach dem Staatsstreich in Kiew am 22. Februar 2014 begann. Am 23. Februar wurde von der Werchowna Rada das Gesetz über die Regionalsprachen zurückgerufen. Nach dem Gesetz war die russische Sprache in den Regionen, in denen mehr als zehn Prozent der Einwohner russischer Abstammung waren, zweite offizielle Sprache. In die neue ukrainische Regierung wurden mehrere Minister der rechtsradikalen Partei Swoboda berufen.

Im vorwiegend russischsprachigen Südosten der Ukraine kochten die Emotionen nach diesen Entscheidungen hoch. Am 6. April 2014 besetzten im Anschluss an große Demonstrationen Anti-Maidan-Aktivisten die Gebietsverwaltungen der Städte Charkow, Lugansk und Donezk.

Am 12. April 2014 besuchte der CIA-Direktor John Brennan Kiew. Bei den Beratungen mit der ukrainischen Regierung wurde offenbar der Beschluss gefasst, eine Anti-Terror-Operation in der Südost-Ukraine zu starten. Am Tag darauf gab der geschäftsführende ukrainische Präsident, Aleksandr Turtschinow, den Beginn einer Anti-Terror-Operation im Südosten der Ukraine bekannt.

Den 9. Mai 2014 wird man in Mariupol nie vergessen

In Mariupol hatte es schon seit Mitte April 2014 gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der am 7. April ausgerufenen „Volksrepublik Donezk“ und ukrainischen Sicherheitskräften gegeben. Am 13. April besetzten Anhänger der Volksrepublik die Stadtverwaltung von Mariupol. Am 7. Mai eroberten ukrainische Sicherheitskräfte unter Einsatz von Tränengas die besetzte Stadtverwaltung zurück und verhafteten die Besetzer.

Die Spannung in der Industriestadt Mariupol stieg von Tag zu Tag. In die Stadt waren ukrainische Militäreinheiten der 72. Brigade, Einheiten der Nationalgarde und des neu gegründeten rechtsradikalen Freiwilligenbataillons Asow eingerückt.

Mariupol gehörte zum ukrainischen Verwaltungsgebiet Donezk. Für den 11. Mai 2014 hatten die Aufständischen, die in Donezk und Lugansk bereits Regierungsgebäude besetzt hatten, ein Referendum über die Unabhängigkeit der Volksrepublik Donezk und Lugansk angesetzt. Diese Referenden versuchte die Regierung in Kiew durch den Einsatz von Militär zu verhindern.

Als am 9. Mai im Zentrum von Mariupol eine Demonstration zum Tag des Sieges über Hitler-Deutschland stattfand, schossen ukrainische Soldaten und Sicherheitskräfte wahllos auf unbewaffnete Demonstranten und Passanten, säuberten die Gebietsverwaltung, schüchterten die Anwohner der Stadt mit Gewehrsalven ein und jagten mit ihren Schützenpanzern über von Anwohnern errichtete Barrikaden. Anwohner versuchten, mit nackten Händen ukrainische Schützenpanzer aufzuhalten und Soldaten zum Rückzug zu überreden.

Bereits am Morgen des 9. Mai hatten ukrainische Soldaten die Polizei-Zentrale von Mariupol mit schweren Waffen beschossen. Ukrainisches Militär brach mit gepanzerten Fahrzeugen Breschen in die Polizei-Zentrale. Das Gebäude geriet in Brand. Polizisten versuchten, sich mit einem Sprung aus dem Fenster zu retten. Das offizielle Kiew begründete die Beschießung damit, dass 60 Separatisten die Polizei-Zentrale angegriffen hätten. Der wahre Grund für den Angriff auf die Polizeizentrale war jedoch, dass die Polizisten sich geweigert hatten, auf die Teilnehmer der Demonstration zum Siegestag zu schießen.

Auslöser für die Beschießung der Polizeizentrale von Mariupol war der Hilferuf des städtischen Polizei-Chefs Waleri Andrustschik gewesen. Dieser war erst am 1. Mai 2014 von der Regierung in Kiew als neuer Polizei-Chef eingesetzt worden. Als er seinen Untergebenen befahl, auf „Provokateure“, die angeblich in großer Zahl an der Parade zum Siegestag teilnehmen, ohne Vorwarnung zu schießen, wollten seine Untergebenen den Befehl nicht ausführen. Um sich Respekt zu verschaffen, soll der Polizei-Chef dann angeblich einen seiner Untergebenen mit einem Schuss aus der Dienstwaffe verletzt und sich danach in seinem Dienstzimmer verbarrikadiert haben. Von dort rief er die ukrainischen Militärs um Hilfe. Die rückten mit Schützenpanzern sowie Angehörigen der Nationalgarde und Mitgliedern paramilitärischer Gruppen an und begannen, das Gebäude zu beschießen.

Die Anwohner von Mariupol waren empört. Sie riefen „fasst unsere Polizei nicht an!“, „verschwindet aus unserer Stadt“, „Faschisten“.

Das Referendum fand trotzdem statt

Trotz der tragischen Ereignisse in Mariupol fanden in den von Separatisten kontrollierten Gebieten der Verwaltungseinheiten Donezk und Lugansk Referenden über die Unabhängigkeit statt. Auf den Abstimmungszetteln stand in russischer und ukrainischer Sprache eine einzige Frage: „Unterstützen sie den Akt der staatlichen Unabhängigkeit der Volksrepublik Donezk?“

Die Beteiligung an den Referenden lag nach Angaben der Zentralen Wahlkommission im Gebiet Donezk bei 71 Prozent und im Gebiet Lugansk, wo ebenfalls abgestimmt wurde, bei 80 Prozent. Im Gebiet Donezk stimmten 89 Prozent, im Gebiet Lugansk 96 Prozent für die Unabhängigkeit.

Privatarmee des Oligarchen Kolomoiski schoss in die Menge

Nicht überall verlief das Referendum friedlich. In der Stadt Krasnoarmejsk im Gebiet Donezk blockierten Mitglieder einer bewaffneten Einheit aus Dnjepopetrowsk das in der Gebietsverwaltung untergebrachte Wahllokal. Weil die bewaffneten Männer mit gepanzerten Autos der „Privatbank“ gekommen waren, gingen Beobachter davon aus, dass es sich um Mitglieder der Sicherheitstruppe von Privatbank-Besitzer Igor Kolomoiski handelte.

Als die unbewaffneten Bürger der Stadt den Mitgliedern der Spezialeinheit aus Protest gegen die Blockade des Wahllokals den Weg versperrten, schossen die Mitglieder der Spezialeinheit – offenbar in Panik – in die Menge. Wie der Korrespondent des westlich orientierten Radios Echo Moskwy per Twitter berichtete, wurde ein unbewaffneter Bürger getötet, mehrere Menschen wurden verletzt.

Oligarch Achmetow forderte Einstellung der Militäroperationen

Der damals reichste Mann der Ukraine, der Oligarch Rinat Achmetow, dem im Donbass zahlreiche große Betriebe gehörten, unter anderem auch die Stahlhütte in Mariupol mit 30.000 Mitarbeitern, rief die Regierung in Kiew Anfang Mai 2014 dazu auf, die Kiewer Militäroperation im Südosten der Ukraine abzubrechen. Der Oligarch argumentierte, „weitere Militäroperationen auf dem Territorium des Donbass führen nur dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Vertrauen und die Achtung vor der Macht verliert“.

Oligarch Achmetow gehörte zu den Förderern des gestürzten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, wechselte aber später ins Lager der Kiewer Staatsstreich-Regierung.

Bis zum Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine versuchte Kiew, die Stadt Mariupol zur „Hauptstadt“ des Gebiets Donezk auszubauen. In der Stadt wurden zahlreiche Militäreinheiten mit schwerer Bewaffnung stationiert.

Als die russische Armee Mariupol Ende Februar 2022 angriff, verbarrikadierten sich ukrainische Militäreinheiten und Asow-Mitglieder – nach russischen Angaben – vorwiegend in Krankenhäusern, Schulen und Wohnhäusern. Das war offenbar einer der Gründe, warum ein großer Teil der Stadt bei den Kämpfen Anfang 2022 zerstört wurde.

In den letzten zwei Jahren wurde zahlreiche Gebäude wieder instand gesetzt. Mariupol trägt noch die Zeichen des Krieges. In der Stadt ist es aber nach Berichten von Augenzeugen ruhiger als in Donezk und Lugansk.

Von Ulrich Heyden erschien 2022 „Der längste Krieg in Europa seit 1945. Augenzeugenberichte aus dem Donbass“, tredition, Hamburg

Titelbild: Sebastian_Photography / Shutterstock