Armee der Armen: Ohne Ausbeutung wäre KI kein bisschen smart

Armee der Armen: Ohne Ausbeutung wäre KI kein bisschen smart

Armee der Armen: Ohne Ausbeutung wäre KI kein bisschen smart

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Hinter der Glitzerfassade von Meta, Google und TikTok malocht ein Heer an Datenarbeitern unter schäbigen Bedingungen für kümmerliches Geld bei null sozialer Sicherheit. Die Auslagerung ganzer Geschäftsbereiche hat eine riesige unsichtbare Belegschaft geschaffen – billig, machtlos und gefangen im Homeoffice. Wer sich nicht ausliefert, wird abserviert und vom nächsten Opfer ersetzt. So geht Kapitalismus nach Kolonialherrenart. Je größer das Elend, desto größer die Profite. Von Ralf Wurzbacher.

Künstliche Intelligenz (KI) kann alles, weiß alles, schafft alles – könnte man meinen. Von wegen! KI kann nichts, weiß nichts und tut nichts, was ihm Mensch nicht zuvor beigebracht, vorgemacht oder eingetrichtert hat. Das gilt für praktisch alles, was zum Feld der Informationstechnik (IT) gehört: Computer, Chips, Apps – samt und sonders von Hause aus dumm. Sie wirken nur so, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. Und sie sind nur deshalb so beherrschend und bescheren ihren Machern fürstliche Gewinne, weil sich eine unsichtbare Armee an armen Handlangern für sie den Buckel krumm macht. Und das buchstäblich. Zu Millionen kauern sie rund um die Uhr vor ihren Bildschirmen, damit der Chatbot schnallt, dass die Banane krumm ist – wie der Rücken ihrer „Pauker“.

Click-, Crowd- und Dataworker, zu deutsch Klick-, Schwarm und Datenarbeiter, sind der menschliche Treibstoff der Informationsrevolution. In Massen füttern sie weltweit technische Systeme mit Inhalten (Content) aller Art: Sie benennen Gegenstände auf Fotos, klassifizieren Texte, transkribieren Tonaufnahmen oder sorgen fürs Großreinemachen bei den sogenannten Sozialen Medien. Was über die Grenzen des Erlaubten hinausgeht, amoralisch, anstößig, verstörend oder politisch unkorrekt ist, ziehen sie aus dem Datenverkehr. Mit einem Klick ist alles weg! Zynischer geht es kaum: Zum Zweck kommunikativer Hygiene (Netiquette, keine Fake News, keine Hassbotschaften) wird die menschliche Würde andernorts mit Füßen getreten.

Auf Leben und Tod

Klickarbeiter machen auch möglich, dass der Verkehr auf der Straße bald völlig von selbst rollt. Bevor etwa ein Tesla autonom durch Stadt und Land gondeln kann, werden die Programme mit Milliarden von Trainingsdaten auf Linie gebracht. Dafür werden stundenlange Videos seziert, Schilder, Fahrbahnmarkierungen, Bordsteine, Bäume, Mülltonen und Fußgänger markiert und beschriftet. Manchmal passiert es, dass eines dieser Hightechvehikel im Graben landet oder gegen eine Hauswand knallt. Das sind Fälle, in denen einer dieser namenlosen Jobber im Nirgendwo womöglich ein Detail übersehen hat.

Um Leben und Tod geht es mithin auch bei Tätigkeiten im Dienste von Drohnenentwicklern. Damit die Flugobjekte zu unterscheiden lernen, was ein Dach, ein Fußballfeld oder eine Trauergemeinschaft in Afghanistan ist, müssen sie umfassend und minutiös geschult werden. Der Südwestrundfunk (SWR) beleuchtete vor zehn Monaten in einem Radiobeitrag das Schicksal von Fred, einem Klickarbeiter aus Nairobi. Er ist einer derjenigen, die Drohnen das Sehen lehren und wohl keine Ahnung haben, ob sie damit Rehkitze vor den Schneiden der Mähdrescher bewahren oder ein Mordwerkzeug zum Morden anleiten. Jedenfalls erhält Fred für seine Arbeit vor einem alten Laptop in einem engen Kämmerlein 1,20 Euro pro Stunde. Die Reportage zeichnete nach, unter welch schäbigen Bedingungen die Menschen ihrem Job nachgehen. Hungerlöhne, ständiger Druck und umfassende Überwachung sind der Normalzustand. Zum Einsatz kommt eine spezielle Software, die die Aktivitäten der Arbeiter pausenlos kontrolliert, inklusive Screenshots und Webcamzugriff.

Nachschub im Überfluss

Aber die Gebeutelten verdingen sich nicht nur in den globalen Armenhäusern in Afrika, Südostasien oder Lateinamerika. Vor zwei Jahren berichtete das Handelsblatt (hinter Bezahlschranke) über den US-Amerikaner Ed Stackhouse aus North Carolina, der sich zehn Jahre lang damit befasste, die Ergebnisse von Suchmaschinen zu bewerten. Mit dem Vormarsch der KI kam die Überforderung. Einzelne Faktenchecks sollten in nicht einmal zwei Minuten erledigt werden. Zitat: „Wer zu oft zu lange braucht, wird per E-Mail verwarnt.“ Und wer patzt, bleibt bei neuen Projekten außen vor und verliert seine Existenzgrundlage. Stackhouse selbst wurde urplötzlich gekündigt, per E-Mail, aber nicht wegen Fehl- oder Minderleistung. Er hatte sich mit Kollegen zusammengetan, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, war der Alphabet Workers Union beigetreten, die Beschäftigte des Google-Mutterkonzerns vertritt. Die Proteste zeitigten sogar Erfolge, der Stundenlohn wurde von 13 auf 14,50 Dollar angehoben. Trotzdem gaben Stackhouse und seine Mitstreiter keine Ruhe und prangerten öffentlich wirksam Ausbeutermethoden an. Das ging zu weit und die Chefs setzten alle vor die Tür.

Das ist ein Teil der Perfidie des ganzen Geschäftsmodells: Es gibt Nachschub im Überfluss. Wer nicht funktioniert, wird ersetzt, durch einen anderen aus Unmengen an Elenden, die über den Globus versprengt sind. Nach Angaben der Weltbank gibt es weltweit zwischen 154 Millionen und 435 Millionen Datenarbeiter. Genauer geht‘s nicht, weil die Leidtragenden kein Gesicht haben beziehungsweise es mangels organisierter Interessenvertretung nicht zeigen. Man nennt sie deshalb auch: Ghost Workers, Geisterarbeiter. Als Selbstständige, mies bezahlt, mit Knebelverträgen ausgestattet und ohne soziale Sicherheiten, bilden sie ein unerschöpfliches Heer an Arbeitsbienen für Techgiganten wie Meta, Alphabet, Apple, Microsoft oder TikTok. Die große Mehrheit lebt im globalen Süden, zum Beispiel in Indien, auf den Philippinen, in den Ländern Afrikas oder in Brasilien. Da, wo Arbeit billig ist, Arbeitsrechte Fehlanzeige und Gewerkschaften schwach sind oder es gar keine gibt.

Ein großes Fressen

Und das Business boomt immer da, wo gerade Krise herrscht. Zum Beispiel ging es den Menschen in Venezuela vor nicht allzu langer Zeit noch ziemlich gut. Doch dann brach der Ölpreis ein und mit ihm die gesamte Wirtschaft. In nur fünf Jahren entwickelte sich das Land zu einem Hotspot der Klickindustrie. „Scharen gut ausgebildeter Menschen mit Internetzugang meldeten sich bei Crowdworking-Plattformen an, um zu überleben“, schrieb dazu im Vorjahr das Magazin t3n. In dem Artikel schilderte Oskarina Fuentes Anaya, wie es mit dem Land und ihr selbst abwärts ging. Sie arbeitet für ein Unternehmen namens Appen, zunächst tat sie es freiwillig als Studentin, später aus schierer Not, auch nach ihrer Flucht nach Kolumbien. Heute lebe sie in ihrem Haus gefangen – „durch eine chronische Krankheit und durch undurchsichtige Algorithmen, die ihr vorschreiben, wann sie zu arbeiten hat“. Der Autor des Texts konstatierte: „Vieles daran erinnert an die Kolonialzeit.“

Appen ist nur einer von vielen Akteuren, die für die IT-Konzerne die Drecksarbeit hinter den knallbunten Oberflächen ihrer digitalen Allzweckapparate erledigen. Andere heißen Hugo, Sama, CloudFactory, StepWise, Toloka, Teleperformance oder SigmaAI. In Venezuela ist ScaleAI ein großer Fisch. Mit über sieben Milliarden Dollar bewertet, zählen Toyota, Lyft, OpenAI und das US-Verteidigungsministerium zu seiner Klientel. Heuerte die Firma anfangs vor allem auf den Philippinen und in Kenia an, dockte sie nachher zum großen Fressen an das notleidende Land im Norden Südamerikas an, um so laut t3n „einen der billigsten Arbeitsmärkte der Welt für die aufwendige Annotation von Laserscan-Daten selbstfahrender Autos einzuspannen“. Schnell sei ScaleAI zur „ersten Wahl bei Start-ups“ geworden, „Appen bei Tech-Konzernen“ und Hive Micro, noch so eine obskure Jobbörse im KI-Wunderland, „bei anspruchsloseren Kunden“.

Not macht reich

Erhellend sind neue Rechercheergebnisse der Initiative Data4Mods, die in der Vorwoche Netzpolitik.org aufbereitete. Die Aktivisten haben anhand einer interaktiven Karte ein Netzwerk sogenannter BPO-Firmen (Business Process Outsourcing) visualisiert, wodurch ein Eindruck entsteht, in welcher Größenordnung der Social-Media- und KI-Markt inzwischen von Outsourcing-Strategien bestimmt wird. Die Analyse beruht auf der Befragung Dutzender Datenarbeiter und wirft ein Schlaglicht auf die ausbeuterischen Wertschöpfungsketten der Techwelt.

Untersucht hat Data4Mods elf Unternehmen, die im Auftrag großer Technologiekonzerne im globalen Maßstab Arbeitskräfte rekrutieren. Operiert wird dabei im Speziellen auf dem afrikanischen Kontinent in Gestalt von insgesamt 78 Outsourcing-Zentren. Beispiele: Telus International aus Kanada zählt zu seinen Kunden Branchenriesen wie Google, AirBnB oder Epic Games und setzte 2023 knapp 15 Milliarden US-Dollar um. Hugo mit Sitz in Michigan/USA hat Verträge mit Meta und Google und unterhält Standorte in Südafrika, Nigeria und Kenia. Europas Marktführer Teleperformance aus Frankreich wiederum lässt für sich in Ägypten, Madagaskar, Marokko, Nigeria, Südafrika und Tunesien malochen. Wie Data4Mods nachweist, existieren mittlerweile in mindestens 39 der 54 der afrikanischen Staaten derlei „Sklavenlager“. Wobei die Dokumentation keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. BPO-Firmen gibt es noch viele mehr, und ihre Finger reichen in alle Ecken der Erde – überall dahin, wo sich aus menschlicher Not Profite machen lassen.

In Gefangenschaft

Zurück zu Oskarina Fuentes Anaya, die sich als Geflohene aus Venezuela nahe der kolumbianischen Millionenstadt Medellín als Datenarbeiterin durchschlägt. Sie wache „ängstlich an ihrem Computer, um jederzeit einen Auftrag annehmen zu können“, schrieb t3n. In manchen Wochen verdiene sie „gar nichts, in anderen nur sechs bis acht Dollar“. Wenn doch einmal ein guter Job auftauche, habe sie nur wenige Sekunden Zeit, ihn anzunehmen. Einmal habe sie bei einem Spaziergang einen 100-Dollar-Auftrag verpasst, „jetzt geht sie nur noch am Wochenende spazieren“. Eine Sprecherin ihres Arbeitgebers Appen ließ verlauten: „Wir sind stolz auf unsere Mitarbeiter und arbeiten hart daran, es für sie besser zu machen. Wir möchten, dass sie wissen, dass wir sie schätzen und mit ihnen mitfühlen.“ Dafür ein „Like“ – mit Herzchen.

Titelbild: PitukTV / shutterstock.com

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