José Pepe Mujica bewegte bis zuletzt die Menschen mit seinen Ansprachen, die von der Weisheit seines langen Lebens geprägt waren. Er wollte bis zum 20. Mai, seinem 90. Geburtstag, leben, aber Uruguays ehemaliger Präsident ging eine Woche früher und hinterläßt eine Legende wegen der Bescheidenheit, in der er mit seiner Frau und Mitstreiterin Lucía Topolansky lebte und Blumen züchtete. Und ebenso für seine Entscheidung, an dem Ort begraben zu werden, den er auch während seiner Schritte in der Politik nie verlassen hat, als er Abgeordneter, Senator und Minister für Viehzucht und Kultur in der Frente-Amplio-Regierung unter Tabaré Vázquez war. Ein Nachruf von Stella Calloni.
„Vom Guerillero zum Präsidenten” titelten mehrere Medien über Mujica, der 1964 den Weg des bewaffneten Kampfes wählte und sich der Nationalen Befreiungsbewegung Tupamaros (Movimiento de Liberación Nacional-Tupamaros (MLN-T) unter der Leitung eines außergewöhnlichen Anführers, Raúl Sendic, anschloss.
Die Tupamaros waren international vor allem bekannt, weil eine ihrer Aktionen 1972 den Film „État de siège” (deutscher Titel: „Unsichtbarer Aufstand”) des französisch-griechischen Regisseurs Costa-Gavras inspirierte, ebenso wie der Tod des FBI-Agenten Dan Mitrione, der unter anderem Foltertechniken lehrte, die in anderen südamerikanischen Ländern angewandt wurden. Die Aktion deckte den Staatsterrorismus auf, den die USA zur Unterstützung von Scheindemokratien wie der uruguayischen, die als die Schweiz Amerikas galt, betrieben. Im Polizeipräsidium von Montevideo wurde die Folter zur Routine.
Im Jahr 1969 wurde Mitrione als angeblicher USAID-Mann nach Uruguay geschickt, wo er im Keller seines Hauses in Montevideo Folter unterrichtete und Obdachlose für diese grausamen Verhöre missbrauchte. 1970 entführten die Tupamaros Mitrione und verlangten, ihn gegen politische Gefangene auszutauschen. Der damalige Präsident Jorge Pacheco Areco weigerte sich, was mit dem Tod des US-Agenten endete.
Es ist eine lange Geschichte, die in diesem Beispiel zusammengefasst ist und die bis in die Zeit zurückreicht, in der Mujica zusammen mit anderen Genossinnen und Genossen mehrmals verhaftet wurde, wobei sie spektakuläre Fluchtversuche unternahmen. Von 1972 bis 1985 waren sie selbst Opfer von Entführung und Folter und wurden von der Diktatur als Geiseln gehalten. Einer Diktatur, die eigentlich 1971 unter einer angeblich demokratischen Präsidentschaft begann, 1973 als solche definiert wurde und Tausende von Opfern bei der Verfolgung von Anführern und Aktivisten der Frente Amplio hinterließ, wie General Liber Seregni und andere.
Als er am 1. März 2010 im Parlamentspalast das Amt des Präsidenten der Republik Uruguay übernahm, wurde er von seiner Frau Lucía Topolansky als Präsidentin des Senats in Anwesenheit von Staatsoberhäuptern und Parteivorsitzenden aus verschiedenen Ländern vereidigt.
Ich hatte die Gelegenheit, zusammen mit der argentinischen Delegation in dem Hotel zu sein, in dem sich Mujica und sein Kabinett aufhielten. Zufällig wurde ich Zeugin, wie Präsident Tabaré Vázquez, der ihm die Präsidentenschärpe anlegen sollte, versuchte, ihn dazu zu bewegen, eine Krawatte anzulegen, um auf die Bühne zu gehen, von der aus er seine Rede vor einer auf der Plaza Independencia wartenden Menge halten würde.
Es war eine unvergessliche Zeremonie, und danach brach ein heftiger Sturm los. Im Hotel wurde darüber gesprochen, wie Mujica zur Präsidentenresidenz kommen würde. Aber tatsächlich hatten Pepe und Lucía beschlossen, in ihrem Haus zu bleiben, wofür verschiedene Sicherheitsmaßnahmen geändert wurden.
Als Mujica Abgeordneter war, sah ich ihn auf dem Weg zur Parlamentssitzung auf einem Motorrad. Ich sah eine Person, die einen schwarzen Helm trug und wie ein Käfer aussah, was ich einem Abgeordneten der Frente Amplio erzählte, der lächelnd antwortete: „Dieser Käfer ist unser Pepe Mujica”.
Mujica und Eleuterio Fernández Huidobro, beides Anführer der Tupamaros, bezogen eine Position zu den Prozessen, die gegen die Militärs der vergangenen Diktatur gefordert wurden, darunter auch einige, die an der finsteren Operation Condor beteiligt waren. Beide Anführer gehörten dem Movimiento de Participación Popular innerhalb der Frente Amplio an, über das Mujica Präsident werden sollte. Ihre Haltung der Aussöhnung wurde stark kritisiert, weil sie auf die berüchtigte „Theorie der zwei Dämonen” [1] zurückgeführt wurde und diejenigen traf, die nach Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit suchten.
Constanza Moreira erinnerte sich in der Zeitschrift Brecha daran, dass sie von Mujica ermutigt wurde, in die parlamentarische Politik zu gehen. „Er versinnbildlichte eine Zeit, als die bewaffnete Rebellion in der Hitze der triumphierenden kubanischen Revolution glühte, und war ein Beispiel der langen Gefangenschaft und der Folter, die die uruguayische Diktatur kennzeichneten. Er wurde zu einer Ikone der Umwandlung der bewaffneten Linken innerhalb der Frente Amplio, und er wurde Präsident und katapultierte sich zum bekanntesten politischen Führer Uruguays außerhalb der Landesgrenzen. All das war sein Weg, nicht mehr und nicht weniger. Und es war sein langes, sehr langes Leben, das es ihm ermöglichte, von einer Generation zur anderen zu wechseln – immer in der Rolle des ‘Alten’ – und Reden, Ideen und Gesten immer wieder anzupassen.”
In Bezug auf Mujicas Regierung hebt Moreina eine Reihe wichtiger Maßnahmen hervor, die zu Veränderungen und Neuerungen geführt haben, vor allem in der Sozialpolitik, erwähnt aber auch die Schwächen im Bereich der Menschenrechte, den Wandel in der Politik der öffentlichen Sicherheit und die umstrittene Verbindung zu den Streitkräften.
Trotz alledem gelang es Mujica, die Menschen mit seinen Ansprachen zu bewegen, die zwar manchmal kontrovers waren, aber aus der Weisheit eines gelebten Lebens entsprangen. Ich habe Lucía Topolansky auf ihrem Bauernhof interviewt, wo sich das sehr bescheidene Haus befindet, das sie nie verlassen haben. Dieser Mujica, der die jungen Leute bewegte, ist derjenige, an den sich die Welt heute erinnert.
In einem Interview mit Brecha Ende 1994 sagte Mujica, er sehe nur „zwei Wege: sich tiefgreifend zu radikalisieren oder die Prinzipien aufzugeben”. Er stellte klar:
„Wenn ich von Radikalisierung spreche, meine ich nicht die Radikalisierung, die die Leute in ihren Köpfen haben, die ein Diskurs im Glockenturm ist, der erfunden wurde, um die linke Literatur zu füllen. Sondern ich meine die Radikalisierung des Sozialen, das auf der Straße stattfindet, wo die Leute Lösungen fordern.“
„Die Politiker haben es verlernt, zum Kern vorzudringen. Sie sind sehr beschäftigt mit den Informationen, die die Presse verbreitet, und manchmal bin ich erschrocken über ihren Mangel an Tiefgründigkeit. Es gibt einen Teil des Abenteuers, der beginnt, wenn man ein gutes Buch zuklappt und nachdenkt; diese Gewohnheit des Denkens, die zur Gewohnheit des Beobachtens führt. Mal sehen, ob ich es definieren kann: Sie alle sind Wirtschaftswissenschaftler oder Wirtschaftsliebhaber, aber da ist doch immer noch der Mensch. Wirtschaftlicher Fortschritt kann nicht mit menschlichem Glück gleichgesetzt werden. Ich weiß, wenn ich das im Parlament sage, erscheine ich wie ein Wesen von einem anderen Planeten. Einige haben sehr schwere Jobs, andere haben die Profite, aber wir müssen weiter für eine Gesellschaft kämpfen, in der jeder arbeiten kann, nicht um Reichtum anzuhäufen und zu konsumieren, sondern um Zeit zu haben, die man für das aufwenden kann, was man will.”
Über die Autorin: Stella Calloni aus Argentinien ist Journalistin und Schriftstellerin. Korrespondentin der mexikanischen Tageszeitung La Jornada für Südamerika; u.a. Autorin des Buches „Operación Condor. Lateinamerika im Griff der Todesschwadronen”.
[«1] Anm.d.Red.: Als „Theorie der zwei Dämonen” wird die Auffassung bezeichnet, dass die Schwere der von staatlichen Akteuren im Rahmen des Staatsterrorismus begangenen Verbrechen den Gewalttaten der Guerilla-Organisationen gleichzusetzen ist. Siehe auch: https://www.nodal.am/2023/07/teoria-de-los-dos-demonios-un-pasado-ocultado-y-la-reparacion-a-victimas-de-la-guerrilla-por-nicola…
Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika21.
Titelbild: José „Pepe” Mujica bei einer Ansprache anlässlich des 160. Jahrestages der bilateralen Beziehungen zwischen Uruguay und Deutschland im Mai 2016 in Berlin – Quelle: Shutterstock / D. Busquets