Gibt es in Deutschland eine „Moralelite“? Und wenn ja: Wer soll das sein, und was zeichnet sie aus? Hans-Dieter Rieveler hat sich in einem aktuellen Buch mit dem Selbstverständnis des „linksliberalen“ Milieus auseinandergesetzt. Dort sieht er eine „Moralelite“ verwurzelt. Rieveler spricht von Akteuren, „die sich auf ihre überlegene Moral mächtig etwas einbilden und keine Gelegenheit auslassen, vermeintliche Missetäter abzukanzeln, um selbst in umso hellerem Licht zu erstrahlen.“ Im Interview mit den NachDenkSeiten sagt der Soziologe, dieses Verhalten resultiere in einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft. Von Marcus Klöckner.
Marcus Klöckner: Herr Rieveler, wer bestimmten Medien oder Politikern von bestimmten Parteien zuhört, hat den Eindruck: Hauptsache Haltung! „Hauptsache Haltung“ – so lautet auch der Titel Ihres Buches. Gewähren Sie uns bitte einen Einblick. Warum dieser Titel? Worum geht es?
Hans-Dieter Rieveler: Den Titel hat der Verlag festgelegt. In meinem Buch geht es um die Ideologie und das Selbstverständnis des „linksliberalen“ Milieus als moralische Elite. Gegen Haltung habe ich grundsätzlich nichts einzuwenden. Wer etwa die Haltung vertritt, dass Menschenrechte universell gelten, wird nicht Krokodilstränen über die ach so furchtbaren Lebensumstände von Frauen in Deutschland vergießen und zugleich die reale Unterdrückung von Frauen in Ländern wie Iran oder Saudi-Arabien damit verharmlosen, dass „die da unten“ eben andere Sitten haben. Eine Haltung zu haben bedeutet in meinen Augen, für eine Sache einzutreten statt nur für eine Ideologie oder die eigenen Interessen. Viele verwechseln leider Haltung mit Konformität und Gesinnungsstolz. Daher ist Haltung in Verruf gekommen. Keine Haltung zu haben, ist aber auch keine Lösung.
In Ihrem Buch kommt auch der Begriff „Moral“ vor, genauer gesagt 72 Mal. Moral und Haltung: Was hat es mit „Moral“ und „Haltung“ auf sich, wenn wir öffentliche Diskussionen beobachten?
In öffentlichen Debatten geht es nach meinem Eindruck immer weniger darum, mit Sachargumenten zu überzeugen. Stattdessen setzen vor allem Anhänger der Grünen und andere „Progressive“ darauf, ihre Kontrahenten als unmoralisch hinzustellen. So wurde sich beispielsweise wochenlang darüber empört, dass Friedrich Merz „kleine Paschas“ gesagt hatte. Ginge es denen, die sich da empörten, wirklich um die Sache, dann würden sie sich einer offenen Debatte darüber, warum Jungen aus muslimischen Familien viel häufiger als die Mädchen Schulprobleme haben, gerade nicht verweigern. Denn eventuell könnte das ja etwas mit antiquierten Rollenbildern und herkunftsbedingten Erziehungsmethoden zu tun haben. Da könnte man ansetzen, nicht zuletzt zum Wohle der kleinen Paschas. Wer in solchen und ähnlichen Fällen vorgeblich Haltung zeigt, indem er sich über eine angeblich rassistische Wortwahl ereifert, der hilft damit niemandem, außer sich selbst.
Sie sprechen ja auch von einer „Moralelite“.
Damit meine ich genau solche Menschen, die sich auf ihre überlegene Moral mächtig etwas einbilden und keine Gelegenheit auslassen, vermeintliche Missetäter abzukanzeln, um selbst in umso hellerem Licht zu erstrahlen. Dass sie damit die gesellschaftliche Polarisierung vorantreiben, merken sie nicht, oder es ist ihnen egal. Im engeren Sinne zähle ich zur Moralelite vorgeblich progressive Politiker, Journalisten und Kulturschaffende – Menschen, die in der Öffentlichkeit Gehör finden, dies aber nur selten dazu nutzen, für reale Verbesserungen zu werben, sondern vor allem damit beschäftigt sind, reale Probleme, die sie nicht lösen wollen oder können, mit pseudomoralischer Empörung zu tabuisieren. Außerhalb ihres Milieus machen sie sich damit lächerlich, zum Beispiel, wenn sie behaupten, Zuwanderung habe keinen Einfluss auf den Wohnungsmarkt.
Spiegelt sich diese Grundhaltung auch in der Sprache wider? Zu welchem Befund kommen Sie?
Ja, in mehrfacher Hinsicht: Zum einen versuchen sogenannte Linksliberale, Wörter zu tilgen, zum anderen erfinden sie neue Wörter. Beides dient dem Zweck, die Realität zu verbiegen. Wenn beispielsweise Flüchtlinge pauschal als Schutzsuchende bezeichnet werden und der Begriff der Armutsmigration als rassistisch gewertet wird, wozu dann überhaupt noch Asylverfahren? Kritik an Fehlentwicklungen im eigenen Milieu wird beiseitegewischt, indem „Cancel Culture“ oder „woke“ als rechte Kampfbegriffe bezeichnet werden, die nur dazu dienten, Linke zu diskreditieren. Mit politisch korrekter Wortwahl, Denglisch-Einsprengseln und beflissentlichem Gendern stellt der Progressive seine vermeintliche Weltläufigkeit zur Schau. Gegner der Gendersprache, die er „geschlechtergerechte Sprache“ nennt, hält er für zurückgebliebene Sexisten. Dabei lehnen auch Frauen und junge Leute mit großer Mehrheit das Gendern ab, und längst nicht nur Rechte kritisieren Political Correctness und Cancel Culture.
Wenn wir von Haltung, von Moral, von Sprache im Hinblick auf den öffentlichen Diskurs reden, dann geht es doch im Kern vor allem um eins: den Kampf um die Deutungshoheit. Wie sehen Sie das?
Ja, darum geht es. Dass sich im politischen Wettstreit nicht unbedingt die besseren Argumente durchsetzen, ist keine neue Erkenntnis. Die postmodernen Linksliberalen zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass sie – anders als Konservative – offen zugeben, dass es ihnen vornehmlich um die Deutungshoheit über die Realität geht. Wenn Wording, Framing und Narrative im Vordergrund stehen, bleibt die Objektivität oft auf der Strecke. Und am Ende glaubt man die eigenen Erzählungen selbst. So scheinen etwa große Teile der Grünen nach wie vor davon überzeugt zu sein, dass es zwischen ungeregelter Migration und dem Aufstieg der AfD keinerlei Zusammenhang gebe. Man müsse der Bevölkerung nur noch intensiver das Narrativ einhämmern, dass Migration ausschließlich positiv zu bewerten sei, glauben sie.
Wie wird dieser Kampf geführt? Haben Sie Beispiele?
Mit den schon angesprochenen sprachlichen Mitteln und mit Moralisierung. Wer kann schon etwas gegen „geschlechtergerechte Sprache“ oder ein „Selbstbestimmungsgesetz“ haben? Und wer stört sich an Pollern und Fahrradstraßen, wenn damit doch das Klima gerettet wird? Der Kampf um die Deutungshoheit wird auch mit dem „Kampf gegen rechts“ verknüpft. Es stimmt ja: Rechtspopulisten und Rechtsextreme schüren Ressentiments, wenn sie von „Umvolkung“, „Asylmissbrauch“ oder „Lügenpresse“ raunen. Doch allzu oft versuchen Linksliberale, auch Andersdenkende aus der demokratischen Mitte mit der Nazikeule zum Schweigen zu bringen. Wer fundierte Kritik an einseitiger Medienberichterstattung äußert, wird mit „Lügenpresse“-Schreihälsen auf eine Stufe gestellt. Und wer für eine restriktivere Migrationspolitik eintritt, dem wird leichthin AfD-Nähe unterstellt.
Dann gibt es da ja noch den Begriff der Identitätspolitik. Was hat es damit auf sich?
In der Theorie bedeutet Identitätspolitik, dass marginalisierte Gruppen für Anerkennung und gleiche Rechte streiten. Praktisch ist es ein Ersatz für den längst aufgegebenen Klassenkampf. Statt für höhere Löhne und auskömmliche Renten setzen sich diejenigen, die sich heute links nennen, vor allem für angeblich benachteiligte Gruppen ein. Ich sage „angeblich“, da es den Verfechtern der Identitätspolitik nicht auf die reale Marginalisierung von Frauen, queeren Menschen oder Migranten ankommt. Wer einer anerkannten Opfergruppe angehört, gilt ihnen per se als diskriminiert. Theoretisch wird dabei neben Geschlechtszugehörigkeit, sexueller Orientierung und Migrationshintergrund auch die Klassenzugehörigkeit einbezogen. Da es aber nur um Diskriminierung geht, geraten Ausbeutungsverhältnisse völlig aus dem Blick. Überzeugte Verfechter der Identitätspolitik interessiert es nicht, ob Kellner, Paketboten oder Kassierer zu wenig verdienen, um sich eine angemessene Wohnung leisten zu können. Interessant werden sie für sie erst, wenn sie eine Wohnung als Migrant, Muslim oder Transperson nicht bekommen – Frauen sind auf dem Wohnungsmarkt ja im Vorteil. Für Diskriminierungen aufgrund der Klasse, etwa im Bildungssystem, interessiert sich die Moralelite nicht wirklich. Und von den zahllosen Förder- und Gleichstellungsprogrammen, die vorgeblich mehr soziale Gerechtigkeit schaffen sollen, profitieren größtenteils eh schon privilegierte Menschen.
Welche Rolle spielen die Medien, wenn es um Identitätspolitik geht?
Die meisten Journalisten, vor allem diejenigen in einflussreichen Positionen, gehören demselben Milieu an wie typische Grünen-Wähler. Fast alle, die eine Journalistenschule besucht haben – die Eintrittskarte für Top-Positionen in den Medien – entstammen der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht. Entsprechend vertreten sie auch ähnliche Haltungen und sie haben ähnliche Interessen. Reale oder gefühlte Diskriminierung empört sie vor allem, wenn sie das eigene Milieu betreffen. Das zeigt sich nicht nur an der Art der Berichterstattung, sondern auch an der Themenauswahl. Dass weibliche Fußballer weniger verdienen als männliche, halten manche für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Dass Schüler aus den unteren Gesellschaftsschichten bei der Notenvergabe und bei Schullaufbahnempfehlungen massiv benachteiligt werden, ist dagegen kein großes Thema – zumal die eigenen Kinder ja davon profitieren.
Was heißt all das für eine Gesellschaft?
Wenn ehemals linke Parteien statt klassischer Umverteilungs- und Sozialpolitik auf Identitätspolitik setzen, dann driftet die Gesellschaft auseinander. Selbst die tatsächlich Benachteiligten aus den anerkannten Opfergruppen profitieren nur wenig davon. Ungezügelte Migration, für die neben den Grünen auch die Linke und Teile der SPD eintreten, nützt neben Arbeitgebern und Vermietern vor allem den Rechten. Die Art, wie der „Kampf gegen rechts“ geführt wird, trägt zusätzlich dazu bei, die Rechten zu stärken. So mancher sagt sich: „Wenn ich sowieso schon als Nazi abgestempelt werde, weil ich die Gendersprache ablehne und daran festhalte, dass es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt, dann kann ich mein Kreuz ja auch gleich bei der AfD machen.“ Es ist schlimm genug, dass große Teile der Bevölkerung den Eindruck haben, dass niemand mehr ihre Interessen vertritt. Viele haben inzwischen aber auch verstanden, dass besonders die Grünen dazu neigen, ihre eigenen Interessen als Gemeinwohl auszugeben, während sie die negativen Begleiterscheinungen ihrer Migrations- und Klimapolitik, die vor allem die unteren Schichten treffen, leugnen oder kleinreden.
Lesetipp
Hans-Dieter Rieveler: Hauptsache Haltung – Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten. Frankfurt am Main 2025, Fifty Fifty, 224 Seiten, 978-3946778578, 24 Euro.
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