Maidan 2.0? Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen

Maidan 2.0? Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen

Maidan 2.0? Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Die Bilder aus Kiew in diesen Tagen wecken Erinnerungen: Tausende Demonstranten auf den Straßen, Transparente gegen Korruption und Rufe nach dem Rücktritt des Präsidenten. Über die Hintergründe der Proteste gibt es verschiedene Lesarten. Während westliche Medien mit dem Finger auf Wolodymyr Selenskyj zeigen und ihm Versagen im Kampf gegen die Korruption vorwerfen, zeigen pro-russische Medien mit dem Finger auf die USA und wittern einen Maidan 2.0. Welche Lesart korrekt ist, ist von außen schwer zu beurteilen. Man kann nur spekulieren. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Auslöser der landesweiten Proteste ist ein neues Gesetz, das Selenskyj persönlich unterzeichnet hat und das die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden NABU und SAPO massiv einschränkt. Beide Behörden wurden 2015 nach dem Maidan-Umsturz auf Druck der westlichen Geldgeber hin geschaffen und agieren formal unabhängig von der Staatsführung. Damit soll nun Schluss sein. Das vorgestern verabschiedete Gesetz sieht vor, dass beide Behörden nun der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt sind, die wiederum dem ukrainischen Präsidenten selbst unterstellt ist. Ukrainische Medien kommentieren, dass Selenskyj künftig Ermittlungen durch einen einzigen Anruf stoppen oder bereits im Vorfeld verhindern könne. Das ist korrekt. Doch was hat Selenskyj zu diesem Schritt bewogen, der durchaus als Affront gegen die EU und die USA verstanden werden kann?

Die westliche Lesart

Aus Sicht westlicher Beobachter ist das jüngste Gesetz nur die Spitze des Eisbergs. Dass die Ukraine ein massives Korruptionsproblem hat, ist bekannt. Selenskyj trat 2019 bei den Präsidentschaftswahlen mit dem Versprechen an, die Korruption auszurotten. Im Wahlkampf verkaufte der ehemalige TV-Komiker sich als Außenseiter, der das System sprengen wollte. Seine Serie „Diener des Volkes“ war pure Propaganda: Ein einfacher Lehrer wird Präsident und bekämpft die Korruption. Und in der Realität? Kaum im Amt, umgab er sich mit alten Seilschaften.

Spätestens seit der russischen Invasion warf er sein zentrales Wahlversprechen endgültig über Bord. Nun floss noch mehr Geld und sowohl der ukrainischen Regierung als auch den westlichen Geldgebern war daran gelegen, die fragile politische Lage in der Ukraine nicht durch Korruptionsskandale zu gefährden – schon gar nicht, wenn sich die Korruption im engeren Umfeld Selenskyjs abspielte.

Korruption ist in der Ukraine kein Randphänomen, sondern das Fundament eines oligarchischen Systems, das nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden ist. Oligarchen wie Rinat Achmetow oder Selenskyjs Förderer Ihor Kolomojskyj kontrollieren Schlüsselbranchen wie Energie, Bergbau und Medien. Sie kaufen Politiker, Richter und Beamte, um ihre Monopole zu schützen. Besonders eklatant ist die Korruption in der Justiz. Die EU und der IWF fordern seit Jahren Reformen, doch die Umsetzung scheitert regelmäßig an Widerständen aus den Eliten. Auf Druck der Geldgeber hin wurden auf dem Papier zwar einige Reformen umgesetzt – darunter die Gründung von NABU und SAPO –, in der Realität passierte jedoch sehr wenig.

Das neue Gesetz vom Juli 2025 ist der Tiefpunkt. Selenskyj rechtfertigt es mit „russischem Einfluss“ in den Behörden – eine Begründung, die selbst von ukrainischen Medien eher als schlechter Witz gesehen wird. Doch was hat Selenskyj dann angetrieben, sich mit den westlichen Geldgebern anzulegen?

Das vorgestern verabschiedete Gesetz ist nur die Spitze des Eisbergs. Bereits im Januar dieses Jahres hatten Abgeordnete von Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ Gesetzesentwürfe eingebracht, die eine Strafverfolgung gegen Korruption bei Waffengeschäften de facto unmöglich machen. Seit einigen Wochen ist hinter den Kulissen der Kampf der Regierung gegen die Korruptionsbekämpfer förmlich eskaliert. Es gab 70 Hausdurchsuchungen gegen 15 Beamte des NABU – meist ohne richterliche Genehmigung und mit haarsträubenden Begründungen; meist ging es offiziell um lang zurückliegende Verkehrsdelikte.

Am 7. Juli weigerte sich die ukrainische Regierung dann, den Kriminalisten Oleksandr Zywinskyj zum neuen Chef des Büros für wirtschaftliche Sicherheit, einer Behörde zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und Korruption, zu ernennen. Pikant daran ist vor allem, dass Zywinskyj zuvor von einem Gremium der Kreditgeber IWF und EU ausgewählt wurde; seine Ernennung war sozusagen eine Bedingung für künftige Kreditzahlungen.

Dann wurden am 11. Juli die Büros des Chefs der vom Westen finanzierten NGO Antac, Vitalij Schabunin, der vor allem von westlichen Medien gerne als unabhängiger Anti-Korruptions-Aktivist bezeichnet wird, durchsucht – auch hier ohne richterliche Genehmigung. Schabunin soll sich dem Wehrdienst entzogen haben, so der Vorwurf, der von ukrainischen Medien als absurd bezeichnet wird.

Warum hat Selenskyj den Kampf gegen die Korruptionsbekämpfung in den letzten Wochen derart eskalieren lassen? Hier geben sich die westlichen Beobachter weitestgehend ratlos. Es wird darauf hingewiesen, dass die Anti-Korruptionsermittlungen sich in den letzten Monaten gefährlich dem inneren Kreis Selenskyjs genähert hätten. Immer wieder fallen dabei die Namen Andrej Jermak und Ihor Kolomojskyj. Kolomojskyj war der große Förderer Selenskyjs, ein korrupter Oligarch, der 2014 mit dem Asow-Regiment und anderen Privatarmeen aktiv in den Bürgerkrieg im Donbass eingriff. Später sollte er sich mit dem Präsidenten Petro Poroschenko überwerfen und ins Exil gehen. Als sein politischer Ziehsohn Selenskyj Poroschenko beerbte, kehrte er in die Ukraine zurück, geriet nun jedoch ins Visier amerikanischer Strafverfolgungsbehörden und wurde letztlich von Selenskyj selbst geopfert. Anders als Andrej Jermak.

Jermak war früher der Produzent von Selenskyjs TV-Show und galt als rechte Hand Kolomojskyjs. Seit Selenskyjs Wahlsieg ist er Leiter des Präsidialamts der Ukraine und wird von zahlreichen Insidern als der eigentliche Machthaber der Ukraine gesehen, der die krummen Geschäfte seines ehemaligen Patrons Ihor Kolomojskyj geerbt hat. Dass Jermak tief in Korruption und Verbrechen aller Art verstrickt ist, ist ein offenes Geheimnis. Dass nun offenbar gegen ihn ermittelt wird, ist eine echte Bedrohung für den inneren Kern des „Systems Selenskyj“.

Geht es nach westlichen Beobachtern, ist die unabhängige Antikorruptionsbekämpfung dem Zentrum der Macht also zu nahe gekommen und das hat nun mit aller Macht zurückgeschlagen. Doch viele Fragen bleiben bei dieser Lesart offen. Die wohl wichtigste offene Frage: Warum haben die Korruptionsbekämpfer erst jetzt das Zentrum der Macht ins Visier genommen? Und: Wie soll es weitergehen? Selenskyj dürfte für den Westen nach diesem offenen Angriff auf die vom Westen geforderte Korruptionsbekämpfung nicht mehr tragbar sein. Wird dies Folgen haben? Oder ordnet man dies dem darüberstehenden „Kampf gegen Russland“ unter?

Die pro-russische Lesart

Darauf hat die pro-russische Lesart, an dieser Stelle repräsentiert durch den Journalisten Thomas Röper vom Anti-Spiegel, eine Antwort. In dieser Lesart haben die USA Selenskyj und seine Hintermänner fallen lassen und planen nun mit einem Maidan 2.0 den Umsturz. NABU, SAPO und Antac seien nicht – wie von westlichen Medien dargestellt – unabhängige Institutionen, sondern Instrumente der USA, um über das vorgeschobene Instrument der selektiven Korruptionsbekämpfung die ukrainischen Eliten auf Linie zu bringen.

Vor einigen Wochen muss den USA demzufolge der Geduldsfaden mit dem „System Selenskyj“ gerissen sein und man hat seine Kettenhunde auf den Präsidenten, sein Umfeld und seine Hintermänner losgelassen. Was genau der Grund für diesen Strategiewechsel war, bleibt dabei unklar. Streben die USA einen Regierungswechsel in der Ukraine an? Wenn ja, warum? War der offene Machtkampf zwischen Selenskyj und Petro Poroschenko, der laut einigen russischen Quellen vom Westen bereits als Selenskyjs Nachfolger auserkoren sein soll, der Auslöser? Die derzeitigen Massenproteste seien demnach ein „Maidan 2.0“, ein vom Westen inszenierter Staatstreich, um Selenskyj aus dem Verkehr zu ziehen.

Machen Sie sich selbst ein Bild. Thomas Röper hat in den letzten Tagen gleich mehrere Artikel zum Thema geschrieben:

Pro und Contra. Wer hat recht?

Zahlreiche Argumente, die Röper vorbringt, klingen durchaus plausibel. Da wäre zunächst das Timing. Dass es im Umfeld von Selenskyj und seinen Hintermännern Korruption gibt, ist ein offenes Geheimnis. Dass die angeblich unabhängigen Antikorruptionsbehörden dagegen bislang nicht vorgegangen sind, ist zumindest erklärungsbedürftig. Warum sie dann in diesem Frühjahr eine harte Gangart gegen das System Selenskyj eingelegt haben und offenbar ernsthaft in seinem Umfeld ermitteln, ist ebenfalls unklar. Sicherlich kann die westliche Lesart korrekt sein, nach der die Ermittler schlicht ihren Job erledigen und dabei nun dem Zentrum der Macht zu nahe kommen. Aber auch die pro-russische Lesart, nach der die Ermittlungen vom Westen selbst initiiert wurden, ist nicht per se auszuschließen.

Aber die pro-russische Version hat auch Schwachpunkte. Was genau sollen Selenskyj und seine Hintermänner eigentlich verbrochen haben, um nun den Hunden zum Fraß vorgeworfen zu werden? War Selenskyj nicht stets ein treuer Handlanger – oder wie es unsere Medien formulieren würden, „ein zuverlässiger Partner“? Warum sollte man mit dem Feuer spielen und Selenskyj austauschen? Und dann noch ausgerechnet gegen Petro Poroschenko, einem Oligarchen und ehemaligen ukrainischen Präsidenten, der 2019 die Wahlen gegen Selenskyj verloren hatte und in Sachen Korruption und Wirtschaftskriminalität alle Maßstäbe sprengt.

Oder geht es letztendlich gar nicht um Poroschenko? Auffällig ist, dass sich mit Vitali Klitschko ein weiterer namhafter Player im ukrainischen Machtpoker derzeit im Umfeld der Proteste gut zu inszenieren versteht. Klitschko gilt als der „Mann Deutschlands“, als politisches Ziehkind der CDU, unterstützt von EVP und der Konrad-Adenauer-Stiftung. Nun hat Deutschland bekanntlich nicht nur einen Bundeskanzler und einen Außenminister der CDU, sondern ist nach dem Rückzug auf Raten der USA auch der größte Finanzier der Ukraine und hat allergrößtes Interesse daran, beim Wiederaufbau möglichst mitzuverdienen und seine Macht in Kiew zu manifestieren. Ist Selenskyj dafür der falsche Mann? Favorisiert man Klitschko? Geht es wirklich um Korruption?

Die wohl größte offene Lücke der pro-russischen Lesart ist es, dass sie den Westen als homogenen Block darstellt. Das mag in Sachen Ukraine bis zur Amtsübernahme Trumps auch in weiten Teilen so gewesen sein. Der Maidan war vor allem eine US-Angelegenheit, es waren US-Dienste und US-NGOs, die die Geschicke der Ukraine von 2014 bis 2024 ganz maßgeblich beeinflusst haben. Die heutigen Eliten der Ukraine haben – davon muss man ausgehen – das „Seal of Approval“ der Biden-Regierung. Die ist jedoch Geschichte und nun übernehmen die Europäer – oder sollte man lieber sagen, die Deutschen? Ist der „Maidan 2.0“ ein deutsches Projekt? Aber war der „liebe Wolodymyr“ nicht immer der „beste Freund“ Deutschlands?

Sie sehen, die Debatte lädt förmlich zu Spekulationen ein und vieles ist im Unklaren. Auch meine hier geäußerten Gedanken sind reine Spekulationen. Vielleicht wird uns ja die Zukunft diese Fragen beantworten können. Fest steht: Die Ära Selenskyj neigt sich dem Ende zu. Wenn der Krieg in der Ukraine beendet wird, wird es irgendwann Neuwahlen geben müssen. Dass Wolodymyr Selenskyj bei diesen Wahlen noch einmal siegt, ist extrem unwahrscheinlich. Das weiß der Westen. Das weiß Russland. Daher ist Selenskyj auch von allen Seiten sprichwörtlich zum Abschuss freigegeben. Auch unsere Medien werden sicher in Zukunft kritischer über ihn – aber nicht über die Ukraine oder gar die westliche Kriegspolitik – berichten. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.

Titelbild: Juergen Nowak/shutterstock.com