Wieso hat Bundesregierung Aufruf zur sofortigen Beendigung des Gaza-Krieges nicht mitunterzeichnet?

Wieso hat Bundesregierung Aufruf zur sofortigen Beendigung des Gaza-Krieges nicht mitunterzeichnet?

Wieso hat Bundesregierung Aufruf zur sofortigen Beendigung des Gaza-Krieges nicht mitunterzeichnet?

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Mittlerweile 30 Staaten, darunter engste Verbündete Deutschlands wie Frankreich, Spanien, Großbritannien, alle nordischen und baltischen Staaten, Japan, Australien, Kanada und die Schweiz, fordern in einem gemeinsamen Aufruf das sofortige Ende des Krieges in Gaza sowie ein Ende der „unmenschlichen Tötung von Zivilisten auf der Suche nach Lebensmitteln“. Die Tatsache, dass Deutschland diesen Appell nicht unterzeichnet hat, sorgt aktuell für einigen politischen und medialen Wirbel. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, ob der Aufruf Thema bei der Kabinettssitzung war und aus welchen Gründen die Bundesregierung sich entschieden hat, diesen Aufruf nicht zu unterzeichnen. Die Antwort erstaunt. Unter anderem fiel dabei der bezeichnende Satz, „Die Bundesregierung passt ihre Politik der israelischen Haltung an“. Von Florian Warweg.

Hintergrund

In der gemeinsame Erklärung, welche anfangs von 25 und mittlerweile insgesamt 30 Staaten, ausnahmslos enge Verbündete der Bundesrepublik, gezeichnet wurde, wird ein sofortiges Ende des Krieges im Gazastreifen gefordert und das Vorgehen der israelischen Regierung bei den Hilfslieferungen scharf kritisiert. Dieses sei „gefährlich, schürt Instabilität und beraubt die Menschen im Gazastreifen ihrer Menschenwürde“. In diesem Zusammenhang wird auch die „tropfenweise Versorgung mit Hilfsgütern“ sowie eine „unmenschliche Tötung von Zivilisten“ auf der Suche nach Lebensmitteln kritisiert.

Weiter heißt es darin, dass das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza ein neues Ausmaß erreicht habe und der Tod von mehr als 800 Palästinensern „auf der Suche nach Hilfe“ entsetzlich sei:

„Die Verweigerung lebenswichtiger humanitärer Hilfe durch die israelische Regierung für die Zivilbevölkerung ist inakzeptabel.“

Neben Großbritannien ist die Erklärung von den Außenministern von Australien, Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Japan, Kanada, Lichtenstein, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Neuseeland, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien und Zypern unterzeichnet worden. Zusätzlich ist als Unterzeichnerin auch Hadja Lahbib, die EU-Kommissarin für Resilienz, humanitäre Hilfe und Krisenmanagement, aufgeführt:

Die gemeinsame Erklärung der 30 Staaten endet mit folgendem Appell:

„Wir fordern die Parteien und die internationale Gemeinschaft nachdrücklich auf, sich gemeinsam für ein Ende dieses schrecklichen Konflikts durch einen sofortigen, bedingungslosen und dauerhaften Waffenstillstand einzusetzen. Weiteres Blutvergießen hat keinen Sinn. Wir bekräftigen unsere uneingeschränkte Unterstützung für die Bemühungen der USA, Katars und Ägyptens, dies zu erreichen.

Wir sind bereit, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um einen sofortigen Waffenstillstand und einen politischen Weg zu Sicherheit und Frieden für Israelis, Palästinenser und die gesamte Region zu unterstützen.“

Was hindert die Bundesregierung, sich solch einem Appell anzuschließen? Die Antwort von Regierungssprecher Stefan Kornelius auf die entsprechende Frage der NachDenkSeiten in der Bundespressekonferenz überzeugt nicht. Angeblich hätte die Bundesregierung bereits zuvor ähnliche Appelle federführend verabschiedet, und sähe daher keine Notwendigkeit, dies erneut zu tun:

„Der Bundeskanzler hat in seinem Statement gestern schon klar gemacht, dass die Bundesregierung in der Erklärung des Europäischen Rates, die am 26. Juni verabschiedet wurde, eine praktisch inhaltsgleiche Position eingenommen hat und diese Position sogar maßgeblich selbst gestaltet hat. Deswegen ist es aus unserer Sicht weniger vorrangig, in welcher Form diese Botschaften transportiert werden; wichtig ist vielmehr, dass sie transportiert werden. Der Bundeskanzler hat diese Position nicht nur gestern, sondern auch in den vorangegangenen Tagen und auch in einem Telefonat mit dem israelischen Premierminister wiederholt bekräftigt, und wir haben das öffentlich kommuniziert. Deswegen sehe ich da gar keine Situation, in der wir unter Rechtfertigungszwang geraten; denn diese Position wurde von der Bundesregierung längst eingenommen.“

Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 23. Juli 2025

Frage Warweg
Der BPK-Moderator hat ja auch noch eingeladen zu Fragen zu Themen, die nicht im Kabinett besprochen wurden, beziehungsweise nicht erwähnt wurden. Jetzt hat sowohl politisch wie auch medial ziemlich für Aufregung gesorgt, dass 25 Länder, und zwar ausschließlich engste Verbündete Deutschlands – Großbritannien, alle EU-Länder, Japan, Australien – einen Aufruf unterzeichnet haben, der Israel zum sofortigen Ende des Gaza-Krieges aufgefordert hat. Habe ich Sie richtig verstanden, dass dieser Aufruf trotz des politisch-medialen Wirbels kein Thema im Kabinett war?

Regierungssprecher Kornelius
Wir haben über die Kabinettsbeschlüsse berichtet und nicht über die Kabinettsthemen bzw. über die Debatte des Kabinetts. Das Kabinett hat aber ausführlich über außenpolitische und europapolitische Themen diskutiert.

Zusatzfrage Warweg
Dann schließe ich daraus, dass das thematisiert wurde. – Können Sie uns erklären, mit welcher Begründung die Bundesregierung davon abgesehen hat, diesen Appell mitzuzeichnen?

Kornelius
Der Bundeskanzler hat in seinem Statement gestern schon klar gemacht, dass die Bundesregierung in der Erklärung des Europäischen Rates, die am 26. Juni verabschiedet wurde, eine praktisch inhaltsgleiche Position eingenommen hat und diese Position sogar maßgeblich selbst gestaltet hat. Deswegen ist es aus unserer Sicht weniger vorrangig, in welcher Form diese Botschaften transportiert werden; wichtig ist vielmehr, dass sie transportiert werden. Der Bundeskanzler hat diese Position nicht nur gestern, sondern auch in den vorangegangenen Tagen und auch in einem Telefonat mit dem israelischen Premierminister wiederholt bekräftigt, und wir haben das öffentlich kommuniziert. Deswegen sehe ich da gar keine Situation, in der wir unter Rechtfertigungszwang geraten; denn diese Position wurde von der Bundesregierung längst eingenommen.

Frage Dr. Rinke (Reuters)
Eine ganz kurze Nachfrage an das Entwicklungsministerium dazu. Frau May, Ihre Ministerin hatte gefordert, dass die Bundesregierung sich der Erklärung der zwei Dutzend Länder anschließt. Hält sie nach der Erklärung, die der Regierungssprecher gerade gegeben hat, immer noch an dieser Forderung fest?

May (BMZ)
Die Ministerin hat sich dazu gestern geäußert. Sie hätte es begrüßt, wenn die Bundesregierung sich dem angeschlossen hätte. In der grundsätzlichen Bewertung der Lage in Gaza ist die Bundesregierung sich aber einig; das hat der Regierungssprecher gerade auch gesagt.

Kornelius
Wenn ich das noch ergänzen darf: Sie hatten ja zu der Debatte nachgefragt. Das Kabinett hat sich mit diesem Thema wirklich ausführlich und intensiv beschäftigt. Die relevanten Fachressorts haben dazu Stellung genommen. Die Debatten des Kabinetts sind vertraulich, deswegen gebe ich das hier nicht wieder. Ich kann Ihnen aber versichern, dass es einen sehr, sehr hohen Konsens über die Positionierung der Bundesregierung gab, auch mit Blick auf die nächsten Tage und Wochen.

Frage (namentlich nicht bekannter Journalist)
Herr Kornelius, zurück zu dieser Erklärung: Aus Regierungskreisen wird berichtet, der Grund dafür, dass Deutschland nicht unterzeichnet hat, seien einzelne Formulierungen und der Zeitdruck. Es gehe um die Passage zur Menschenwürde und den Umstand, dass die Freilassung der Geiseln nicht zur Vorbedingung des Kriegsendes gemacht wird. Können Sie zu diesen Berichten etwas sagen? Aus welchen Gründen hat Deutschland nicht unterzeichnet?

Kornelius
Ich glaube, der Hauptgrund ist, dass die Bundesregierung seit langer Zeit eine sehr klare Linie zu Gaza und zu Israel verfolgt, dass der Bundeskanzler in dieser Positionierung eine führende Rolle eingenommen hat und dass die Bundesregierung tatsächlich auch den Eindruck hat, dass sie mit dieser sehr deutlichen Haltung auch gegenüber Israel eine stärkere Wirkung erzielt. Den von Ihnen genannten Hintergrundbericht kenne ich nicht und auch die Argumente kenne ich nicht; aber wenn Sie solche Differenzen in der deutschen Position zu diesem Papier erkennen, könnte das möglicherweise ein Grund sein.

Zusatzfrage
Aber wenn Deutschland die gleiche Position hat, wie sie in dieser Erklärung steht, warum ist Deutschland dann nicht dabei?

Kornelius
Ich gehe einmal „unter zwei“ – das wollen wir hier jetzt ja häufiger machen, damit es sich lohnt zu kommen.

(Anmerkung FW: „Unter zwei“ heißt, die Informationen werden nicht ins Protokoll aufgenommen und dürfen auch nicht direkt zitiert oder gefilmt werden)

Vorsitzender Szent-Iványi
Wir gehen jetzt wieder „unter eins“, und ich möchte darum bitten, jetzt nicht mit Fragen auf das zu referenzieren, was hier gerade „unter zwei“ oder „unter drei“ gesagt wurde.

Kornelius
Ich werde versuchen, da zu differenzieren.

Vorsitzender Szent-Iványi
Ich möchte aber auch, dass in der Fragestellung so differenziert wird. – Dann sind wir wieder „unter eins“.

Frage Kuhnert (RTL)
Ist Ihnen bewusst, was es trotzdem für eine Außenwirkung hat, dass man diese Entscheidung so getroffen und eben nicht unterzeichnet hat?

Außerdem stellt sich trotzdem die Frage nach Konsequenzen. Sie haben schon gesagt, dass Sie auf die israelische Regierung in Gesprächen einwirken. Die SPD-Fraktion fordert jetzt aber, dass man noch einmal auf die Waffenlieferungen schauen sollte und dass man auch schauen sollte, ob man das EU-Assoziierungsabkommen nicht doch aussetzt; denn die Frage nach Konsequenzen bleibt ja trotzdem.

Kornelius
Die Wirkungen habe ich vorhin schon einmal erwähnt. Der Bundeskanzler hat auch in seiner Pressekonferenz mit dem norwegischen Ministerpräsidenten klar Stellung bezogen und hat gesagt, dass die Vorgänge im Gazastreifen nicht mehr akzeptabel sind und wir darauf drängen, dass dort erstens ein Waffenstillstand und zweitens umfassende humanitäre Hilfe erfolgt. Diese Forderung wurde jetzt in mehreren Vorgängen wiederholt. Die Bundesregierung passt ihre Politik der israelischen Haltung an. Das heißt, sie evaluiert ständig die Vorgänge im Gazastreifen. Das hat sie auch heute Morgen im Kabinett getan. Wir werden Sie zur gegebenen Zeit auch informieren, falls es eine Veränderung der Politik gibt.

Frage Aswad (Chefreporterin Politik bei BILD)
Eine Frage an den Regierungssprecher: Herr Kornelius, Sie betonen seit gestern Abend, dass die Regierungskoalition da eine Meinung vertrete. Wie erklären Sie dann, dass sich die eine Hälfte der Regierungskoalition dazu entschlossen hat, eine eigene Erklärung herauszugeben und etwas von der anderen Hälfte zu fordern?

Kornelius
Ich kann nicht feststellen, dass die eine Hälfte der Regierungskoalition eine Erklärung herausgegeben hat. Das Kabinett war heute hocheinig in dieser Frage.

Zusatz Aswad
Ich meine die Erklärung der SPD-Fraktion.

Kornelius
Was im parlamentarischen Raum passiert, kann ich hier nicht kommentieren, und das muss die SPD unter sich ausmachen.

Zusatzfrage Aswad
Daran anschließend die Frage an Sie und an Herrn Giese: Ist vorstellbar, dass der Außenminister das stellvertretend für Deutschland noch im Nachhinein unterzeichnet, so wie es die SPD-Fraktion fordert?

Kornelius
Diese Erklärung ist eine von vielen Erklärungen. Die Position der Bundesregierung ist eindeutig. Sie unterscheidet sich in ihrer inhaltlichen Schärfe nicht von dem, was in dieser Erklärung steht. Aus einer reinen Formsache, aus einem Papier, aus einem Transportmittel eine Differenz aufzubauen, halte ich für übertrieben.

Frage Jung
Sie haben gerade einen interessanten Satz gesagt, Herr Kornelius: „Die Bundesregierung passt ihre Politik der israelischen Haltung an“. Da haben Sie sich nicht versprochen, richtig?

Kornelius
Ich habe gesagt, dass die Bundesregierung in ihrer Reaktion auf die israelische Haltung ständig evaluiert. Das ist der Satz.

Frage Jung
Aber davor haben Sie den anderen Satz gesagt.

Kornelius
Dann streichen Sie ihn, und wir werden es nachher auch aus dem Protokoll streichen.

Zusatz Jung
Ich glaube, das wird hier nicht herausgestrichen. – In der europäischen Öffentlichkeit und in der Weltöffentlichkeit steht Deutschland ja als Beschützer der israelischen Kriegsführung da – einer Kriegsführung, die potenziell ein Genozid sein kann, wenn der IGH so entscheidet. Ist es für den Kanzler am Ende okay, dass man diesen Genozid stützt?

Kornelius
Ich schätze Ihre Bemühungen, aus einer Meinung eine Frage zu schnitzen, aber ich kann Ihnen hier aus den Kanzlerworten, die für sich sprechen, keine neue Antwort liefern. Der Kanzler hat seine Haltung in mehreren öffentlichen Auftritten klar gemacht; deswegen, glaube ich, muss ich das jetzt nicht weiter ergänzen.

Zusatz Jung
Das ist ja nicht eine Meinung. In Den Haag wurde gerade die Klage über den potenziellen Völkermord in Gaza angenommen, insofern kann das am Ende als Völkermord bewertet werden. Das hätte dann doch auch Konsequenzen für Deutschland als Unterstützer der israelischen Kriegsführung; denn dann macht man sich doch mitverantwortlich.

Kornelius
Die Bundesregierung hat ihre Rechtsposition zu dieser Frage schon mehrfach klar gemacht, und ich muss sie hier heute nicht ergänzen.

Frage Jessen
Herr Kornelius, der Satz des Kanzlers, man sei sich in der Koalition in der Sache völlig einig, beinhaltet auch die Parteien bzw. die Fraktionen; denn Koalition ist ja nicht nur Regierung. Sie haben ausgeführt, die Einschätzung sei, dass man sich bei Gaza einig ist. Trifft es dann aber zu, dass man sich in den Maßnahmen, die sich aus der gemeinsamen einigen Einschätzung ergeben, nicht einig ist? Denn in der Frage „Brief unterzeichnen oder nicht?“ ist diese Koalition sich doch nicht einig.

Kornelius
Noch einmal: Die Relevanz des Briefes habe ich zu erklären und einzuordnen versucht. Über die absolute Einmütigkeit des Kabinetts heute zu Nahostfragen habe ich auch berichtet. Insofern kann ich das, was Sie in den Raum stellen, nicht wahrnehmen und teilen.

Zusatzfrage Jessen
Entschuldigung, aber das ist das logische Resultat Ihrer Ausführungen und der Realität. – Meine Anschlussfrage ist: Wenn – und das war Ihre Begründung – die Unterzeichnung sozusagen keinen Mehrwert gegenüber vorherigen Erklärungen der Bundesregierung in der Sache gehabt hätte – andere Staaten sehen das offenbar ähnlich -, was ist dann für die Bundesregierung der Mehrwert einer Nichtunterzeichnung? Warum ist das mehr wert?

Kornelius
Die Bundesregierung beurteilt diesen Vorgang nicht im Sinne von Mehrwert oder Minderwert. Vielmehr hat die Bundesregierung klar gemacht, dass sie eine harte und eindeutige Position in Fragen von Gaza hat, dass sie sogar Vorreiterin dabei war, diese Position zu formulieren – unter anderem auf dem Europäischen Rat. Insofern misst die Bundesregierung der Art und Weise, wie eine Botschaft transportiert wird, weniger große Bedeutung bei, als Sie das offenbar tun.

Zusatzfrage Jessen
Es wurde schon darauf hingewiesen: Die Unterzeichnung eines Schreibens in der internationalen Wahrnehmung hat einen Außenwert, aber auch die Nichtunterzeichnung hat einen Aussagewert. Ist es Ihnen egal, dass die Nichtunterzeichnung Deutschlands in der Weltöffentlichkeit möglicherweise als negativ wahrgenommen wird, spielt das keine Rolle?

Kornelius
Ich habe meiner Aussage von eben nichts mehr hinzuzufügen.

Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 23.07.2025