Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit, im günstigen Fall ein halbes Leben. Wer solch eine Lebensspanne bewusst erlebt hat, dem zwingen sich mit seinen Erinnerungen unweigerlich Vergleiche auf. Wie sah Europa, wie sah die Welt heute vor fünfzig Jahren – am 1. August 1975 – aus, mitten in der Epoche des „Kalten Krieges“? Da währte der Kalte Krieg schon quälend lange dreißig Jahre. Und doch gelang an jenem 1. August 1975 nach sechs Jahren zähen diplomatischen Verhandlungen in Helsinki mit der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ein Paukenschlag für eine Friedensordnung. Es war ein ermutigender Erfolg, dass friedliche Koexistenz ideologischer Erzfeinde möglich ist und der Kalte Krieg gezähmt werden kann. Von Felix Duček.
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Der begann ja bereits 1945, also vor achtzig Jahren. Der US-Präsident Harry S. Truman, kurzzeitig Vizepräsident von Franklin D. Roosevelt und nach dessen Ableben im Frühjahr 1945 Nachfolger im Amt, hatte zwar noch als Verbündeter der Sowjetunion die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands als ein Repräsentant der westlichen Anti-Hitler-Koalition gemeinsam mit Winston Churchill besiegelt. Dennoch zeigte er bereits mit der Drohung der US-Atombomben auf der Potsdamer Konferenz und mit dem schändlichen Abwurf über Japan am 6. und 9. August 1945 und seinen politischen Verlautbarungen der Sowjetunion, wohin die Reise mit diesem großen Knüppel und seiner späteren Truman-Doktrin gehen sollte.
Rhetorisch geschliffener allerdings proklamierte Winston S. Churchill zuvor bereits den Beginn des Kalten Krieges. Churchill, zum Beginn der Potsdamer Konferenz der Siegermächte im Sommer 1945 noch britischer Premierminister, wurde im Verlauf dieser Konferenz als Premier zwar abgewählt. Aber Churchill blieb siegesbewusst, vor allem noch immer Anti-Kommunist durch und durch, folglich von nun an nicht mehr notgedrungen mit, sondern gegen die UdSSR. Diese Ambitionen pflegte der britische Premier nämlich bereits vor der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands, zum Beispiel mit der von ihm geheim in Auftrag gegebenen Ausarbeitung der „Operation Unthinkable“ im Mai 1945 – als Kriegsplan gegen die Sowjetunion – und wenig später, am 12. Mai 1945, mit der öffentlichen Wiederbelebung des Begriffs „Eiserner Vorhang“ – von ihm klar gerichtet gegen „Stalins Machtbereich“.
Schriftlich genauestens dokumentiert jedoch ist Churchills Rede „The Sinews of Peace“ am 5. März 1946 am Westminster College in Fulton (US-Bundesstaat Missouri) – übrigens in Anwesenheit von Harry S. Truman. Diese Überschrift bedeutete jedoch keineswegs ein „Sehnen nach Frieden“, sondern die eindeutige Erklärung zum Kalten Krieg gegen die UdSSR und deren neue Verbündete, die infolge der Nachkriegsordnung in Europa und Asien entstanden waren. Auch die heißen Kriege des Westens ließen allerdings, beginnend in Korea, nicht mehr lange auf sich warten, wenn auch damals in Asien und damit für ein halbes Jahrhundert noch nicht in Europa.
Nein, der Kalte Krieg war weder friedlich noch lustig, auch wenn er bisweilen Züge eines sportlichen Wettlaufs zu tragen schien, jedenfalls bis zum Sputnik-Schock, bis zu Gagarins erstem Orbitalflug um die Erde und danach sogar noch bis zur am Ende erfolgreichen Mondlandung der US-Amerikaner 1969. Die Brisanz dieses Kräftemessens aber wurde spätestens am 17. Oktober 1962 bei der halsbrecherischen Kuba-Krise und beim Showdown von Panzern auf beiden Seiten am Checkpoint Charlie in Berlin deutlich. Später, nach Chruschtschows Absetzung, wollte Leonid Breschnew daher verständlicherweise unbedingt mehr Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Beziehungen – und somit Sicherheit zum Wohle beider Seiten – durch diplomatische Verträge in die Konfrontation einbauen. Die Idee der Friedlichen Koexistenz sollte vertraglich dokumentiert und damit gesichert werden.
So wurde 17. März 1969, ein halbes Jahr nach dem Ende des „Prager Frühlings“, vom Politischen Beratenden Ausschuss der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages (vom NATO-Block gewohnt abfällig „Ostblock“ genannt) der Budapester Appell an alle europäischen Länder verkündet. Spätestens damit begann dieser „Helsinki-Prozess“, denn damals war praktisch allen Ländern in Europa – wenn auch keineswegs den USA – ebenfalls sehr daran gelegen, die Weltpolitik in Bezug auf Europa berechenbarer und damit vor allem friedlicher zu machen. So fiel der Anstoß aus der UdSSR, auch wenn er von Leonid Breschnew persönlich propagiert wurde, in nahezu allen betroffenen Ländern auf fruchtbaren Boden, zumindest bei diplomatisch besonnenen Politikern.
In Finnland ergriff noch im selben Jahr, nämlich bereits im Mai 1969, Dr. Urho Kekkonen von der Zentrumspartei die Initiative, nachdem sich die NATO-Außenminister am 11. April 1969 in Washington, D.C. „großzügig“ bereiterklärt hatten, zumindest über Themenfelder solcher Verhandlungen nachdenken zu wollen. Kekkonen war 1950 finnischer Ministerpräsident geworden und übte seit 1956 erfolgreich das Amt des Staatspräsidenten aus, dies am Ende insgesamt 25 Jahre lang. Er meinte, Finnland – das damals seit Jahrzehnten um Neutralität und friedliche Nachbarschaft zur Sowjetunion bemüht war – wäre mit seiner Hauptstadt Helsinki ein besonders geeigneter Ort für einen solchen Ost-West-Ausgleich – für eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Dieses Unterfangen erforderte absehbar einen sehr langwierigen diplomatischen Prozess, um zu einer allseits akzeptierten und friedlichen Nachkriegsordnung in Europa zu gelangen.
Aber dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war genau dies das Ziel der Initiative, die Breschnew so am Herzen lag. Er wollte Verlässlichkeit und Sicherheit für beide Seiten vertraglich dokumentiert sehen. Dennoch gab es neben ähnlichen Wünschen in vielen europäischen Ländern auch damals schon im Westen starke, sowohl heimlich wie auch offen verkündete Widerstände gegen diese Idee. So waren sich der damalige US-Präsident Richard Nixon und sein damaliger Außenminister Henry Kissinger auch am 19. April 1972 einig: Wenn es diese europäische Sicherheit gäbe, könne man verdammt noch mal die NATO vergessen. Ja, die USA wollten einerseits schon aus Prinzip als Weltmacht unbedingt (zusammen mit Kanada) dabei sein, wenn dieses heiße Eisen geschmiedet werden sollte. Andererseits wollten sie – wie alle Falken im Westen – nicht ohne gebührende Gegenleistungen dem „Ostblock“ seine erhoffte vermeintliche Sicherheit durch eine „friedliche Koexistenz“ gewähren.
So kam es lange vor einer unterschriftsreifen Schlussakte von Helsinki erst einmal zu dem sehr langwierigen, wechselhaften und schwierigen Helsinki-Prozess, der Jahre diplomatischen Ringens in Anspruch nahm. Übrigens läuft ja hierzulande seit Mitte Juni bereits ein teils kurios, auf jeden Fall amüsant aufgemachter Film „Der Helsinki-Effekt“ über dieses diplomatische Ringen im Rückblick auf diesen Prozess und vor allem auch über dessen Auswirkungen und Nachwirkungen. Die Berliner Uraufführung fand im Zeiss-Großplanetarium am 11. Juni 2025 in Anwesenheit des finnischen Regisseurs Arthur Franck (Jahrgang 1980, aufgewachsen in einer Gegend mit direkter Aussicht auf das Kongress-Zentrum von Helsinki) zusammen mit seinem deutschen Synchronsprecher Bjarne Mädel statt.
Man kann diesen Film allen empfehlen, die diese Geschichte des Versuchs einer Zähmung des Kalten Krieges durch Diplomatie noch nicht persönlich und bewusst erlebt haben. Aber auch dann, wenn man selbst als Zeitzeuge heute den spöttischen Unterton eines Finnen als Schöpfer dieses Dokumentarfilms vielleicht als unangemessen empfindet – etwa über die verantwortungsbewusste und freundliche Grundhaltung von Urho Kekkonen gegenüber der Sowjetunion, die diesen ganzen Helsinki-Prozess über Jahre erst möglich machte und am Leben hielt. Oder das Aufmacher-Foto für den Film, auf dem Breschnew telefonierend in der Sauna lümmelt, was ihn zweifellos für unbedarfte Gemüter bewusst oder leichtfertig lächerlich erscheinen lässt. Auch die durch Protokolle und Dokumente zwar fundierten, aber letztlich zwecks Audiokommentierung erfundenen, kumpelhaften und amüsanten „persönlichen“ Dialoge des Regisseurs mit Henry Kissinger lassen viele verbrecherische Seiten dieses US-Spitzendiplomaten bei vielen anderen Gelegenheiten des Weltgeschehens ziemlich in Vergessenheit geraten.
Bei all dem ist aber dankenswert, dass der Regisseur versuchte, nicht nur für sich selbst als Nachgeborener, sondern damit auch für die Zuschauer diese ruhmvolle Geschichte von Helsinki anhand seiner Auswahl aus einer riesigen Fülle an verfügbarem Filmmaterial und Dokumenten der damaligen Verhandlungen facettenreich zu erschließen. Das macht den Film heute unbedingt sehenswert für viele Jüngere, die über diese positiven Ereignisse während des Kalten Krieges bisher nicht so viel wissen. Erfreulicherweise läuft der Film derzeit noch immer in einigen Programm-Kinos, so auch in Berlin.
Vor fünfzig Jahren wurde schließlich aus diesem „Helsinki-Prozess“ – als Weg der Diplomatie zur Friedlichen Koexistenz – am Ende ein „Helsinki-Effekt“ – nämlich der „Wandel durch Annäherung“. Für den Westen wurde durch den geforderten und erstrittenen „Korb drei“ der Helsinki-Schlussakte im Grunde die Auflösung des „Ostblocks“ ein Stückchen geöffnet und der Weg geebnet, und das sogar auf angeblich „friedliche“ Weise. Denn noch „friedlicher“ als ab November 1989 mit der Öffnung (dem angeblichen „Fall“) der Mauer in Berlin konnte die Koexistenz zweier Systeme gar nicht enden. In Deutschland verschwand die DDR samt ihrer Gesellschaftsordnung friedlich aus der einstigen Koexistenz. Und in Europa verschwand ebenfalls ganz friedlich nur der „Warschauer Pakt“, aber bis heute keineswegs die NATO, wie das Nixon und Kissinger 1972 noch befürchtet hatten – ganz im Gegenteil. Damit wurde faktisch auch bereits das Erbe jener Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu Grabe getragen, das in Helsinki so hoffnungsvoll begründet worden war.
Mit dem Verrat des KSZE-Gedankens der friedlichen Koexistenz, erst recht also der Negierung jener für den Westen eigentlich so erfolgreichen Idee eines „Wandels durch Annäherung“, wurde nach der Auflösung der Sowjetunion aus der KSZE eine institutionalisierte Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die allerdings mittlerweile zumindest scheintot ist. Denn spätestens nach dem Maidan-Putsch in Kiew im Jahr 2013/2014, als die US-genehme Regierung in Kiew mit sogenannten Antiterror-Maßnahmen die eigene Bevölkerung im Süden und Ostteil des eigenen Landes zu terrorisieren begann, agierten auch die ständigen „Beobachter“ der OSZE in der Ukraine keineswegs mehr neutral, geschweige denn diplomatisch. Schon bei jener „Vereinbarung zur Beilegung der Krise“ am 21. Februar 2014 in Kiew zwischen dem rechtmäßig gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch und der Oppositionsbewegung agierten die Diplomaten aus Polen, Deutschland und Frankreich als Zeugen bei jener Unterzeichnung danach in keiner Weise als Garanten zur Einhaltung jenes Abkommens, im Gegenteil, ganz so wie wenige Monate später auch bezüglich der Übereinkünfte von Minsk II.
Nein, es war früher mit Sicherheit nicht ALLES besser, schon gar nicht im Kalten Krieg. Aber auch wenn es heute fast zynisch klingen mag: Es war auch nicht alles schlecht im Kalten Krieg! Daraus wurde nämlich dank diplomatischer Hartnäckigkeit und Geduld tendenziell kein Heißer Krieg in Europa – zumindest bis 1995 und 1999 auf dem Balkan. Die Geschichte lehrt, dass Diplomatie unverzichtbar ist für die Schaffung von Frieden wie für seine Bewahrung. Übrigens: Seit 1969, als die Idee zu einer KSZE geboren wurde, bis zur Unterzeichnung der Helsinki-Akte, traf sich Breschnew nicht unentwegt (und auch nicht ab und an) mit dem US-Präsidenten – weder mit Nixon und auch nicht mit Gerald Ford persönlich. Sämtliche Staatschefs reisten nämlich erst Anfang Juli 1975 in Helsinki an, um vor 50 Jahren am 1. August 1975 die mühsam fertig ausgehandelte Schlussakte der KSZE zu unterzeichnen. So – und nur so – kann Diplomatie funktionieren. Warum sollte das heute anders sein?
Und ja, es gibt auch heute noch, den immer hysterischer werdenden westeuropäischen Kriegstreibern zum Trotz, ernstzunehmende Diplomaten als Erben jener Vernunft der KSZE vor 50 Jahren. Es gibt – wenn auch gern verschwiegen neben all den laut herausposaunten Horrormeldungen in Medien wie auch in sogenannten „Sozialen Netzen“– noch immer Gremien, Vereinbarungen und diplomatische Kanäle, die im Stillen funktionieren und agieren. Und ab und an senden sie sogar hoffnungsvolle Signale aus, die man erkennen kann, wenn sie kein Tunnelblick ausblendet.
So einigten sich die USA und Russland unlängst, dass trotz all der Anfeindungen Russlands schon wieder als „Reich des Bösen“ in manch offizieller Verlautbarung die seit 25 Jahren aufgebaute Internationale Raumstation ISS mindestens bis zum Jahr 2028 gemeinsam operabel gehalten wird. Auch diese Zusammenarbeit wurde begründet und ihr erster sichtbarer Erfolg vor fünfzig Jahren in einer Sternstunde trotz jenes Kalten Krieges – als nach dem Triumph der USA mit der Mondlandung erstmals das Apollo-Sojus-Test-Projekt mit einer Kopplung am 17. Juli 1975 gefeiert wurde – von beiden Nationen und weltweit bewundert.
Es geht also auch anders, als die im Frühjahr 2022 von der (ebenfalls im Jahr 1975 gegründeten) ESA gegenüber Roskosmos inszenierte Konfrontation durch Aufkündigen aller Kooperationsvereinbarungen demonstrieren sollte. Rechtzeitig vor dem NASA-Start der vierköpfigen Crew-11-Mission (der auch der Russe Oleg Platonow angehört) besuchte der kürzlich ernannte Generaldirektor von Roskosmos, Dmitri Bakanow, die USA und traf sich mit dem NASA-Administrator Sean Duffy, der ebenfalls erst Anfang Juli vom US-Präsidenten Donald Trump neu berufen worden war. Erstmals seit acht Jahren kam solch ein Treffen wieder auf höchster Ebene der beiden Organisationen zustande. Über die beiderseitig nützlichen Aussichten der Fortführung dieser jahrzehntelangen Kooperation beider Weltraum-Nationen berichtete ausführlich ein Artikel in der russischsprachigen Iswestija.
Titelbild: Helmut Schmidt, Erich Honecker, Gerald Ford und Bruno Kreisky unterzeichnen das KSZE-Abschlussdokument. Leonid Breschnew als Unterzeichner für die Sowjetunion nicht im Bild. – Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-P0801-026 / Horst Sturm
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