Juristisches Gutachten: EU-Sanktionen gegen deutsche Journalisten verstoßen gegen Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien

Juristisches Gutachten: EU-Sanktionen gegen deutsche Journalisten verstoßen gegen Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien

Juristisches Gutachten: EU-Sanktionen gegen deutsche Journalisten verstoßen gegen Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Im EU-Parlament gab es am 11. November eine Anhörung zur rechtlichen Bewertung der Sanktionierung von Journalisten durch den Europäischen Rat. Laut der einhelligen Meinung der dort vortragenden Rechtswissenschaftler verstößt das aktuelle EU-Sanktionsregime gegen Einzelpersonen wegen angeblicher „Desinformation“ in zahlreichen Punkten gegen EU- und Völkerrecht. Die Maßnahmen seien rechtlich fehlerhaft, unverhältnismäßig und nicht mit den Grundrechten vereinbar. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, ob der Bundesregierung diese Einschätzung bekannt ist, und wie sie es erklärt, dass von den 27 EU-Mitgliedsländern nur Deutschland eigene Staatsbürger und Journalisten auf diese Sanktionsliste hat setzen lassen. Von Florian Warweg.

Hintergrund

Auf 55 Seiten erstreckt sich das umfassende Rechtsgutachten der Völkerrechtlerin Prof. Dr. Alina Miron von der Universität Angers und Prof. Dr. Ninon Colneric, Richterin a.D. am Europäischen Gerichtshof (EuGH), welches am 11. November im Europäischen Parlament vorgestellt wurde.

Die NachDenkSeiten waren bei dieser Anhörung in Brüssel dabei und wollten unter anderem wissen, ob es rechtliche Möglichkeiten gibt, in Erfahrung zu bringen, welcher konkrete Staat oder welche nationale Behörde die drei betroffenen deutschen Journalisten (Hüseyin Doğru, Thomas Röper und Alina Lipp) auf die EU-Sanktionsliste hat setzen lassen:

In ihrem Gutachten (Legal Opinion) kommen die beiden renommierten Rechtswissenschaftlerinnen zu einem eindeutigen Ergebnis: Das derzeitige EU-Sanktionsregime gegen Einzelpersonen wegen angeblicher „Desinformation“ verstößt laut ihrer Einschätzung in mehreren Punkten gegen EU- und Völkerrecht. Die Maßnahmen seien „rechtlich fehlerhaft, unverhältnismäßig und nicht mit den Grundrechten vereinbar“. Darüber hinaus bestehen Zweifel an der Zuständigkeit der EU-Organe und an der Möglichkeit des rechtlichen Rechtsschutzes.

1. Verstöße gegen EU-Recht und EU-Grundrechtecharta

  1. Fehlende rechtliche Garantien
  • Artikel 215(3) AEUV verlangt, dass Sanktionsverordnungen rechtliche Schutzmechanismen vorsehen.
    → Diese fehlen in der EU-Verordnung 2024/2642 vollständig.
    → Betroffene haben kein Recht auf Gehör und keine effektive Möglichkeit der Verteidigung.
  • Meinungs- und Informationsfreiheit (Artikel 11 GRC)
  • Das Sanktionsregime betrifft „Desinformation“, ohne den Begriff klar oder eng genug zu definieren.
  • Es ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen klar ist, dass es sich tatsächlich um falsche Informationen handelt, die erkennbar zur russischen Destabilisierung beitragen.

Ergebnis: Verstoß gegen Artikel 11 GRC (Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit).

  1. Freizügigkeit (Artikel 45 GRC)
    • Die Reiseverbote für EU-Bürger sind zu weitreichend und nicht verhältnismäßig im Verhältnis zu den Zielen öffentlicher Ordnung oder Sicherheit.
      → Verstoß gegen Artikel 45 Abs. 1 GRC.
  2. Recht auf gute Verwaltung (Artikel 41 GRC)
    • Betroffene Personen werden gelistet, ohne vorher angehört zu werden.
      → Verstoß gegen Artikel 41 Abs. 2 b GRC.
      → Dieser Mangel zieht auch weitere Rechtsverletzungen nach sich (z. B. Eigentumsrecht, Privatleben).
  3. Eigentumsrecht und Privatleben (Artikel 17 und 7 GRC)
    • Das Einfrieren von Vermögen und die Veröffentlichung persönlicher Daten verletzen diese Rechte, da sie auf einem mangelhaften Verfahren beruhen.
  4. Datenschutz (Artikel 8 GRC)
    • Die öffentliche Nennung und Adressveröffentlichung von gelisteten Personen ist unverhältnismäßig und nicht erforderlich.
      → Verstoß gegen Artikel 8 GRC.
  5. Berufsfreiheit und wirtschaftliche Betätigung (Artikel 15 und 16 GRC)
    • Durch die Sanktionen können betroffene Personen nicht mehr arbeiten oder ein Unternehmen führen.
      → Faktisches Berufsverbot, daher Verstoß gegen Artikel 15 und 16 GRC.
  6. Gesundheitsschutz (Artikel 35 GRC)
    • Der Umgang mit Ausnahmen für medizinische Ausgaben (nur über „Derogation“ statt „Exemption“) ist unverhältnismäßig.
      → Verstoß gegen Artikel 35 GRC.

2. Verstöße gegen internationales Recht

  • Das EU-Sanktionsregime verletzt die Freiheit der Meinungsäußerung nach Artikel 19 IPBPR (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte).
  • Es fehlen klare gesetzliche Grenzen und wirksame Rechtsbehelfe, wie sie internationale Menschenrechtsstandards fordern.
  • Auch hier: fehlende Vorhersehbarkeit und mangelnde gerichtliche Kontrolle.

3. Institutionelle und prozessuale Fragen

  • Die Rechtsgrundlage im EU-Primärrecht (Art. 29 EUV und 215 AEUV) wird überschritten, weil Sanktionen gegen Einzelpersonen wegen „Desinformation“ nicht dem eigentlichen Zweck außenpolitischer Maßnahmen dienen.
  • Die Kompetenzverteilung zwischen Rat und Kommission sei fragwürdig.
  • Das Europäische Parlament hat keine unmittelbare Klagebefugnis gegen diese Ratsakte, was die Kontrolle zusätzlich erschwert.

4. Schlussfolgerung

Die Rechtgutachterinnen halten fest, dass das derzeitige Sanktionsregime gegen Einzelpersonen wegen angeblicher Desinformation nicht mit den Anforderungen des Unionsrechts, der Grundrechtecharta und des Völkerrechts vereinbar ist.

Es fehle an:

  • klarer rechtlicher Grundlage,
  • hinreichender Definition der Tatbestände,
  • fairen Verfahren,
  • verhältnismäßigen Maßnahmen und
  • wirksamem Rechtsschutz.

In Auftrag gegeben hatten das Rechtsgutachten zwei EU-Abgeordnete des BSW, Ruth Firmenich und der langjährige UN-Diplomat Michael von der Schulenburg.

Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 19. November 2025

Frage Warweg
Im EU-Parlament gab es vergangene Woche eine Anhörung zur Sanktionierung von Journalisten durch den Europäischen Rat. Laut der einhelligen Meinung der dort vortragenden Rechtswissenschaftler verstößt das aktuelle Sanktionsregime gegen Einzelpersonen wegen angeblicher Desinformationen in zahlreichen Punkten gegen EU- und Völkerrecht. Die Maßnahmen seien rechtlich fehlerhaft, unverhältnismäßig und nicht mit den Grundrechten vereinbar.

Sind dem Außenminister diese rechtlichen Einschätzungen bekannt? Plant er vor diesem Hintergrund auf seiner Reise in Brüssel eine Überarbeitung oder vielleicht gar Abschaffung dieses maßgeblich auch von der Bundesregierung angestoßenen EU-Sanktionsregimes?

Giese (AA)
Das ist eher lose mit der Brüsselreise verbunden, würde ich sagen. Sie beziehen sich auf eine Anhörung im EU-Parlament. Das werden wir nicht besuchen.

Das Thema der Sanktionen haben wir hier sehr häufig behandelt. Ich will mich wiederholen: Das ist ein rechtlich geprüftes Instrument, das von den Mitgliedstaaten beschlossen wurde. Dagegen gibt es rechtliche Mittel. Jeder, der es für nicht zulässig hält, ist eingeladen, diese rechtlichen Mittel in Anspruch zu nehmen.

Dabei will ich es heute belassen.

Zusatzfrage Warweg
Im Zuge der Anhörung wurde noch einmal deutlich, dass von den 27 Mitgliedsländern bisher nur Deutschland eigene Staatsbürger und Journalisten auf diese EU-Sanktionsliste wegen angeblicher Desinformation gesetzt hat.

Wie erklärt sich die Bundesregierung dieses Alleinstellungsmerkmal innerhalb der 27 EU-Mitgliedsländer?

Giese (AA)
Das ist kein Alleinstellungsmerkmal. Denn das ist eine gemeinsame EU-Entscheidung. Das ist keine deutsche Entscheidung, sondern das ist eine Entscheidung, die in Brüssel von allen EU-Staaten gemeinsam getroffen wurde.

Zuruf Warweg
Und die haben ausschließlich deutsche Staatsbürger ins Visier genommen?

Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 19.11.2025

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!

Beitrag versenden

Sie kennen jemand der sich für diesen Beitrag interessieren könnte?
Dann schicken Sie ihm einen kleinen Auszug des Beitrags über dieses Formular oder direkt über Ihr E-Mail-Programm!