Als der spanische Konquistador Hernán Cortés 1519 die neue Welt erreichte, ließ er seine Schiffe verbrennen, um seinen Männern zu signalisieren, dass es ab nun kein Zurück mehr gibt. Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn als Farce, und als solche muss man die geplante Enteignung russischer Währungsreserven durch die EU wohl bezeichnen. Auf den ersten Blick klingt der Plan nach einer grandiosen Dummheit. Doch es ist anzunehmen, das mehr dahintersteckt. Offenbar dient die Enteignung vor allem dem Zweck, die Beziehungen zu Russland auf absehbare Zeit zu sabotieren und ein Zurück bereits prophylaktisch auszuschließen … man verbrennt die eigenen Schiffe und geht dabei ein unkalkulierbares Risiko ein. Von Jens Berger.
Dass eine Enteignung der größtenteils in Belgien verwahrten russischen Euroreserven vor Gericht keinen Bestand haben wird, hat sich offenbar mittlerweile auch bei den Staatschefs der EU herumgesprochen. Auch wenn man eben jene Enteignung nach wie vor de facto plant, wird mittlerweile Wert darauf gelegt, das Kind nicht beim Namen zu nennen. Doch was in der letzten Woche von der EU als „Reparationskredit“ an die Ukraine beschlossen wurde, ist bei näherer Betrachtung natürlich eine Enteignung – eingepackt in ein groteskes Paket. Um was geht es genau?
Zur Vorgeschichte lesen Sie bitte den Artikel „Die groteske Debatte um die Nutzung der „eingefrorenen“ russischen Währungsreserven“
Durch die glaubhafte Weigerung der USA, den Krieg in der Ukraine weiterhin mitzufinanzieren, hat sich die ohnehin bestehende Finanzierungslücke vergrößert. Nimmt man die Prognosen der EU und des IWF als Basis, reden wir hier von rund 100 Milliarden Euro pro Jahr – Geld, das derzeit weder die EU noch ihre Mitgliedsstaaten aufbringen können oder wollen. Eine „Vergemeinschaftung der Schulden“ der EU durch die EU-Mitglieder lehnt nicht zuletzt Bundeskanzler Merz kategorisch ab; dem Wähler zusätzliche Schulden für die Unterstützung der Ukraine aufzubürden, sehen jedoch ebenfalls vor allem die deutsche und die französische Regierung kritisch, die beide bei künftigen Wahlen fürchten müssen, durch Rechtsparteien abgelöst zu werden. Dass Länder, wie beispielsweise Ungarn, die die Fortführung des Krieges ohnehin skeptisch bis ablehnend betrachten, gemeinsame Schulden zur Verlängerung des Krieges ebenfalls ablehnen, versteht sich von selbst.
Vor diesem Hintergrund entstand wahrscheinlich der verzweifelte Plan, die durch EU-Sanktionen eingefrorenen russischen Währungsreserven für die Finanzierung der Ukrainekriegs heranzuziehen, obgleich dies rechtlich gar nicht möglich ist. Um den Rechtsbruch zu kaschieren, hat man sich nun einen neuen Plan ausgedacht.
Dieser Plan sieht folgendermaßen aus: Um den Finanzierungsbedarf der Ukraine für die nächsten beiden Jahre zu decken, will die EU der Ukraine einen Kredit geben. Da die üblichen Finanzierungswege für diesen Kredit verbaut sind, will man dafür die in der EU eingefrorenen russischen Währungsreserven mobilisieren. Und weil ein direkter Zugriff rechtlich nicht möglich ist, soll der Geldfluss über einen Umweg erfolgen. Das belgische Finanzinstitut Euroclear wird gezwungen, die russischen Gelder an die EU zu überweisen. Die EU vergibt diese Gelder dann als Kredit an die Ukraine und gibt Euroclear dafür eine Ausfallsicherheit. In der Buchführung wird so etwas als „Aktivtausch“ bezeichnet. Von einer „Enteignung“ will die EU freilich nichts wissen. Man betont, dass die russische Zentralbank ja immer noch ihre Forderungen gegen Euroclear habe, die nach Aufhebung der Sanktionen auch von Euroclear beglichen werden muss.
Mit anderen Worten, solange die Sanktionen in Kraft sind, sähe die Rechnung lt. EU-Plan bei einem Volumen von 185 Milliarden Euro folgendermaßen aus: Die russische Zentralbank hat 185 Milliarden Euro Forderungen gegen Euroclear, die sie aber wegen der Sanktionen nicht geltend machen kann. Euroclear hat 185 Milliarden Euro Verbindlichkeiten gegenüber der russischen Zentralbank und 185 Milliarden Euro Forderungen gegenüber der EU. Die EU hat 185 Milliarden Euro Verbindlichkeiten gegenüber Euroclear und 185 Milliarden Euro Forderungen gegenüber der Ukraine, die wiederum auf der anderen Seite 185 Milliarden Euro Verbindlichkeiten gegenüber der EU hat.
So weit ist dieses Modell zwar „ungewöhnlich“, aber immer noch zumindest halbwegs verständlich. Aber nun kommt der eigentliche Clou. Da niemand ernsthaft damit rechnet, dass die Ukraine ihre Verbindlichkeiten zurückzahlen kann, ist eine direkte Tilgung des Kredites gar nicht erst vorgesehen. Die Rückzahlung ist laut Kreditbedingungen nur dann vorgesehen, wenn die Ukraine in einem künftigen Friedensvertrag von Russland Reparationszahlungen in gleicher Höhe bekommt. Russland soll dann also 185 Milliarden Euro an die Ukraine zahlen, die löst ihre Verbindlichkeiten bei der EU ein, die mit dem Geld wiederum ihre Verbindlichkeiten bei Euroclear begleicht und am Ende kann dann die russische Zentralbank ihrerseits ihre Forderungen bei Euroclear geltend machen. Am Ende der Zahlungskette hätte Russland also über den Umweg der Reparationszahlungen seine eigenen Währungsreserven bezahlt. Die EU und Euroclear würden bei dem ganzen Plan (wenn man einmal Zinsen und Transaktionskosten herauslässt) mit plus minus null herausgehen, die Ukraine hätte 185 Milliarden Euro plus und Russland 185 Milliarden Euro minus, die jedoch in Summe exakt den dann völkerrechtlich verbindlichen Reparationszahlungen entsprechen würden. Würde dieses Modell exakt so eintreten, hätten wir es also in der Tat nicht mit einer Enteignung zu tun. Ob die EU derart kreativ mit den russischen Geldern umgehen darf, ist hingegen eine andere Frage.
Doch die Diskussion darüber ist sinnlos, da das gesamte Modell vollkommen unrealistisch ist. Derzeit finden ja Vorverhandlungen zu einem Friedensvertrag statt und niemand, ja wirklich niemand kommt auch nur im Traum auf die Idee, dass der faktische „Kriegsgewinner“ Russland Reparationen in dieser Größenordnung an den faktischen „Kriegsverlierer“ Ukraine bezahlen wird. Will man der EU und den Regierungen der verantwortlichen EU-Staaten nicht vollkommene Traumtänzerei unterstellen, muss man davon ausgehen, dass auch sie dies ganz genau wissen und genau so einschätzen. Was soll also ein Plan, der auf einem vollkommen unrealistischen Szenario aufbaut?
Ganz einfach. Die EU koppelt nun die mögliche Aufhebung der Sanktionen an die Frage, ob Russland Reparationen an die Ukraine zahlt. Solange dies nicht der Fall ist – und es wird nie der Fall sein – werden die Sanktionen ganz einfach weitergeführt. Und um dies auch gegen den zu erwartenden Widerstand von Ländern wie Ungarn abzusichern, hat man nun sogar den „Artikel 122“ gezogen, der das bisher mögliche Vetorecht einzelner Staaten bei der Verlängerung der Sanktionen aushebelt und die Frage an die sogenannte „qualifizierte Mehrheit“ koppelt – sprich, es müssen für eine Verlängerung der Sanktionen nicht mehr alle, sondern entweder 55 Prozent der EU-Mitgliedsstaaten oder so viel EU-Staaten zustimmen, dass 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert werden. In der Praxis hieße das, dass die Sanktionen auch dann verlängert würden, wenn beispielsweise Belgien, Ungarn, die Slowakei und Spanien dagegen votieren würden. Artikel 122 bezieht sich übrigens eigentlich auf Naturkatastrophen in EU-Staaten; dass man auf die militärische Unterstützung eines Nicht-EU-Staates bezieht, ist absurd; wie so vieles bei diesem Plan.
Gehen wir also vom realistischen Szenario aus. Irgendwann in naher Zukunft gibt es einen Friedensschluss in der Ukraine und Russland zahlt selbstverständlich keine Reparationen. Nun hätte die russische Zentralbank ja eigentlich ein Anrecht auf den Zugriff ihrer in Belgien verwahrten Währungsreserven. Dieser Zugriff wäre aber de facto nicht realisierbar, da die Sanktionen ja immer noch in Kraft sind. Es ist also gar nicht die Frage, ob der Krieg in der Ukraine beendet wird. Es geht dann einzig und allein darum, ob die EU die Sanktionen gegen Russland aufhebt, und das will sie ja – siehe oben – nur tun, wenn Russland Reparationen bezahlt, was – siehe oben – nicht passieren wird. Das Ergebnis: Endlose Sanktionen, De-facto-Reparationen für die Ukraine und eine De-facto-Enteignung der russischen Währungsreserven, die jedoch – zumindest laut Interpretation der EU – de jure keine Enteignung sein soll, da Russland ja rechtlich immer noch Ansprüche auf das Geld habe, diese Ansprüche durch die Sanktionen aber nicht geltend machen kann.
Genau dieser Zustand ist offenbar das eigentliche Ziel der EU. Auf der einen Seite hat man seine gefühlte „Gerechtigkeit“, bei der trotz der Niederlage der Ukraine Russland für „seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ zur Kasse gebeten wird. Und auf der anderen Seite gibt es eine inhärente „Garantie“, dass die Sanktionen ewig in Kraft bleiben. Denn was würde passieren, wenn die Sanktionen aufgehoben werden, ohne dass Russland Reparationen bezahlt? Russland hätte dann einen realisierbaren Anspruch auf das Geld und Euroclear müsste zahlen. Euroclear hat jedoch das Geld gar nicht mehr, sondern nur die ominöse Garantie der EU. Nun müsste also die EU Russland das Geld zurückbezahlen. Doch auch die EU hat das Geld ja gar nicht mehr und dass sie es jemals von der Ukraine zurückbekommt, ist auszuschließen. Und genau hier kommen wir nun zum letzten noch vorhandenen „Hindernis“ – den rechtlichen Risiken. Denn was passiert, wenn – aus welchen Gründen auch immer – das gesamte Modell in sich zusammenbricht?
Die „Garantien“ der EU sind streng genommen nämlich wertlos. Die EU selbst hat keine 185 Milliarden Euro auf der hohen Kante und die Aufnahme eines solchen Kredits wäre zwar theoretisch möglich, aber in der Praxis an so viele Probleme und Unabwägbarkeiten gebunden, dass man diese Option ausschließen kann. Genau aus diesem Grund haben große EU-Staaten wie Deutschland und Frankreich auch signalisiert, dass sie im Falle eines Falles einspringen würden. Dann müssten sie in einer Nacht- und Nebelaktion 185 Milliarden Euro mobilisieren. Das ist zwar nicht unmöglich, aber hier wird ein wichtiger Punkt gerne unterschlagen. Was hier als „äußerst unwahrscheinliches“ Notfallszenario verkauft wird, ist streng genommen das extrem wahrscheinliche Szenario, wenn eines Tages die Sanktionen beendet werden. Da stellt sich die Frage: Wenn dieses Szenario ohnehin eintritt, warum finanzieren Deutschland, Frankreich und Co. ihre Ukrainekredite nicht gleich selbst ohne diesen grotesken Umweg über die russischen Währungsreserven?
Die Antwort ist klar: Dies ist an keiner Stelle so geplant. Der gesamte Plan ist das Pendant zu Cortés´ verbannten Schiffen. Man will mit aller Macht verhindern, dass es künftig nach einem Friedensschluss wieder normalisierte Beziehungen zu Russland gibt. Die Sanktionen sollen bestehen bleiben und dies wenn möglich auf Ewigkeit. Jeder Weg zurück soll bereits jetzt verhindert werden, so dass auch kommende Regierungen diesbezüglich keine echten Handlungsoptionen haben.
Ob dieser Plan gelingt, ist jedoch zum Glück ungewiss. Euroclear wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen und auch Belgien versucht derzeit alles Menschenmögliche, um diesen Plan zu verhindern. Weitestgehend unklar ist dabei auch die rechtliche Bewertung. Wie lange darf ein Staat oder ein Staatenbund überhaupt derartige Sanktionen aufrechterhalten? Und last but not least: Was sagt eigentlich die US-Regierung dazu? Immerhin hatte der US-Entwurf eines Friedensplans die Aufhebung der Sanktionen und die Freigabe der eingefrorenen russischen Gelder vorgesehen. So ist es sehr gut möglich, dass die EU am Ende doch mit leeren Taschen und 185 Milliarden Euro Schulden dasteht. Dann müssen von der Leyen, Merz, Macron und Co. den Menschen wohl das alte Rothschild-Zitat entgegnen: „Ihr Geld ist nicht weg, mein Freund, es hat nur ein anderer.“ Welche Folgen das für eine mögliche Wiederwahl hat, muss man an dieser Stelle wohl nicht fragen. Cortés hatte übrigens mit seiner Strategie auch nur vordergründig Erfolg. Zwar konnte er dank dubioser Ränkespiele das Aztekenreich erobern, aber ein großer Teil seiner Männer und ein noch größerer Teil seiner indigenen Verbündeten bezahlte diesen „Erfolg“ mit dem Leben.
Titelbild: WH_Pics/shutterstock.com






