Exit aus Grexit: Griechenland im Eurosystem aufbauen

Rudolf Hickel
Ein Artikel von Rudolf Hickel

Die Entwicklung Griechenlands gleicht einer Tragödie. Im Zentrum dieser Insze­nierung stehen Schuld und Sühne. In der modernen Sprache der Fiskalisten heißt das Konditionalität. Griechenland, so die Retter aus dem Euroland und von der Eu­ropäischen Zentralbank sowie vom Internationalen Währungsfonds, habe immer schon durch eine verschwenderische Schuldenpolitik „über seine Verhältnisse ge­lebt“. Die Konklusion erhält, wie es der kritische Nobelpreisökonom Paul Krugman zusammengefasst hat, geradezu moralisierende Qualität: Sünden müssen gesühnt werden. Von Rudolf Hickel

1. Szenen der griechischen Tragödie

Finanzielle Hilfen gibt es also nur, wenn Reue erkennbar ist und die auf­geladene Schuld abgebaut wird. Maßnahmen sind der massive Abbau von Lohn­ansprüchen, die Demontage des Sozialstaats, massenhafte Entlassungen im öffent­lichen Sektor und im privaten Wirtschaftssektor sowie die Verbannung politischer Gestaltung durch die Privatisierung der öffentlichen Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Der damit programmierte Absturz der Gesamtwirtschaft, die ex­plodierende Arbeitslosigkeit sowie die sich bis in die Mittelschichten ausbreitende soziale Armut müssen zwangsläufig politischen Widerstand der Betroffenen auslö­sen. Über diese Verarmung der Gesellschaft hinaus erfährt die griechische Bevöl­kerung mit diesem Diktat von außen den Verlust der parlamentarisch-demokrati­schen Entscheidungssouveränität. Bis in die operativen Details hinein kontrolliert vor Ort die Troika der drei großen öffentlichen Finanziers die Finanzpolitik. Frank Schirrmacher, ehemaliger Herausgeber der FAZ, und Jürgen Habermas haben auf die gefährliche Demontage der griechischen Demokratie hingewiesen. Diese politi­sche Entmachtung ist sehr gefährlich, weil für die Demokratie schädlich.
Auf die­sem Hintergrund und gemessen an der ökonomischen Lage erweisen sich die Ver­suche der vorherrschenden politischen Klasse, erste Erfolge einer Erholung zu melden, als lächerlich. Anzeichen für Wirtschaftswachstum sowie leichte Über­schüsse im Primärhaushalt (öffentlicher Haushalt ohne Zinszahlungen) zu preisen, dient eher der Anbiederung bei den Geldgebern. Derartige Durchhalteparolen ver­stärken gegenüber der faktisch katastrophalen Lage den innenpolitischen Wider­stand. Die Forderung nach einer alternativen, sozial und ökonomisch verantwortli­chen Politik mit unkonventionellen Mitteln vor allem gegen die soziale Armut und Ausgrenzung sind die Kernforderungen des Aufstands gegen die Diktate der Geld­geber. Sie bestimmen die künftige Innenpolitik Griechenlands. Die wachsende Be­deutung des Linksbündnisses um die Syriza-Partei mit ihrem charismatisch wir­kenden Vorsitzenden Alexis Tsipras ist Ausdruck des Widerstands gegen die exo­gen verordnete Schrumpfpolitik. Die wichtigsten Forderungen dieser Bewegung gegen die „Ausplünderung des Volkes“ sind: Gegen die durch die Geldgeber er­zwungene sozial-ökonomische Schrumpfpolitik steht ein Programm zum Aufbau der Wirtschaft und der Sozialsysteme sowie der öffentlichen Infrastruktur. Dazu gehören auch innere Reformen, die sich auf die Bekämpfung der Macht der Oligar­chen sowie der Steuerhinterziehung und der Korruption konzentrieren. Hinzu kommt ein massiver Schuldenschnitt zu Lasten der Gläubiger. Die dadurch frei werdenden Finanzhilfen der Geldgeber, die bisher nur dem Gläubigerschutz, also dem Schutz der Eigentümer griechischer Bonds dienten, können jetzt endlich für den Aufbau Griechenlands genutzt werden. Die Kündigung der Konditionalität Fi­nanzhilfen gegen Austeritätspolitik ruft jedoch die bisherigen Geldgeber auf den Plan. Die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds sowie der Rettungsfonds für das Euroland sehen die Geschäftsgrundlage für die bisherigen Finanzhilfen mit über 220 Mrd. € seit Anfang 2010 nicht mehr als gegeben. Eine weitere Tranche für 2015 im Umfang von 22,5 Mrd. € für die Abwicklung von aus­zuzahlenden Staatsanleihen wird nicht mehr gewährleistet. Die Bundesregierung hat mit ihrem vergleichsweise hohen Anteil an Finanzhilfen bei der Erpressung Griechenlands die Führungsrolle übernommen. Gedroht wird mit einer gestuften Vorgehensweise: Zuerst wird Druck auf die griechische Bevölkerung ausgeübt, die Parteien zu unterstützen, die als Garanten für den Vollzug dieser katastrophalen Strategie sozial-ökonomischen Schrumpfens gelten. Falls jedoch diese Erpressung zugunsten einer den Finanzgebern wohlgefälligen Regierung nicht verfangen sollte, wird mit dem Grexit, einem wie auch immer gestalteten Ausscheidens Griechen­lands im Zweifelsfall auch aus der EU gedroht.

Die griechische Tragödie mit Trauer, Tränen, Frust, Sühne und Rache muss am Ende nicht in der Ausweglosigkeit landen. Die Erinnerung an Aristoteles Katharsis, der Umkehr aus Einsicht, wird wach. Die wichtigsten Inhalte dieser Katharsis sind: Der durch die Geldgeber erzwungenen sozial-ökonomischen Schrumpfpolitik mit Massenarbeitslosigkeit wird ein Programm zum Aufbau der Wirtschaft sowie der öffentlichen Infrastruktur und dem Abbau sozialer Armut entgegengesetzt. Dazu gehören auch innere Reformen, die sich auf die Bekämpfung der Macht der Oligar­chen sowie gegen Steuerhinterziehung und Korruption richten. Hinzu kommen muss ein tief greifender Schuldenschnitt gegenüber den Gläubigern. Dadurch wer­den die öffentlichen Haushalte von erdrückenden Zinsen entlastet. Darüber hinaus lassen sich frei werdende Finanzhilfen der Geldgeber, mit denen bisher nur die Ei­gentümer griechischer Bonds geschützt wurden, endlich für den Aufbau Grie­chenlands nutzen.

2. Die Herausforderungen: Der sozio-ökonomische und fiskalische Absturz Griechenlands

Schon Jahre bevor der Vorhang sich öffnete, nahm die Tragödie Griechenland ih­ren Lauf. Es war die Aufnahme des Landes 2001 in das Eurosystem. Dabei traf die Fehlkonstruktion des Maastrichter Vertrags zur Aufnahme von Ländern in das Eu­rosystem Griechenland besonders hart. Fiskalisch bezogen sich die zu erfüllenden Kriterien auf ein Minimum an Angleichung, die Konvergenzkriterien, ausschließ­lich auf das Ziel einer maximalen Neuverschuldung gegenüber dem Bruttoin­landsprodukt von 3% und der Gesamtschulden von 60%. Fragen der Angleichung der realen Ökonomie im Bereich der Wirtschaftskraft sowie der Beschäftigung wurden ausgeschlossen. Damit wurde die Notwendigkeit des Anpassungsbedarfs durch eine unterstützende Wirtschaftspolitik etwa im Bereich der Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ausgeblendet.

Es sollte noch schlimmer kommen: Der zu unterstützende Modernisierungsbedarf der griechischen Wirtschaft wurde tabuisiert. Griechenland hatte bei der Aufnahme in das Euroland selbst dieses fiskalisch reduzierte Schuldenziel nicht erfüllt. Das galt etwa auch für Italien, das trotz seiner gegenüber dem Konvergenzkriterium doppelt so hohen Staatschuldenquote mit 120% in den Gründerkreis aufgenommen worden ist. Schnell wurde offiziell bekannt, dass Griechenland die Staatsschulden­quote in Richtung 60% herunter manipuliert hatte. Dabei war die Megainvestment­bank „Goldman Sachs“ behilflich. Mit dubiosen Derivateswaps wurden 2,8 Mrd. € an Staatsschulden erst einmal weggetrickst. Nach Ablauf dieser manipulativen Ge­schäfte erhöhten sich jedoch die Staatsschulden um 5,1 Mrd. €. Die Investment­bank kassierte, ohne jemals juristisch für die Anstiftung zu einer strafbaren Tat belangt worden zu sein, 600 Mio. €.

Schließlich wurde Ende 2009 erstmals einerseits die gegenüber den Haushaltspla­nungen unvermeidbare Korrektur der Staatsschulden nach oben sichtbar. Anderer­seits war wegen der hohen Renditen Griechenland nicht mehr in der Lage, sich über die privaten Kapitalmärkte zu refinanzieren. Durch die erstmalige Abstufung der Bonität Griechenlands von der Ratingagentur Fitch auf BBB+ ist die Zugangs­sperre zu den Kapitalmärkten erhöht worden. Im weiteren Verlauf der Schulden­krise Griechenlands haben die großen Ratingagenturen immer wieder durch Boni­tätsverluste Öl ins Feuer gegossen und Spekulationsgeschäfte verstärkt. Das übli­che Geschäft, fällige gewordene Staatsanleihen durch die Neuaufnahme am Kapi­talmarkt den Gläubigern auszuzahlen, funktionierte wegen der extrem hohen Zins­zahlungen bei rückläufigen Kursen nicht mehr. Gegenüber diesem Boykott der Kapitalmärkte wurden die Finanzhilfen seit Anfang 2010 eingesetzt. Insgesamt summieren sich bis heute die beiden großen Hilfspakete durch die EZB, den Inter­nationalen Währungsfonds sowie den Euro-Rettungsschirm (erst EFSF dann ESM) bis Ende letzten Jahres auf knapp 230 Mrd. €. Da der Weg zum Kapitalmarkt nach einer kurzen Phase wieder versperrt ist, werden in diesem Jahr zur Umschuldung zugunsten der Gläubiger insgesamt 22,5 Mrd. € fällig, davon allein im ersten Quartal 4,5 Mrd. €. Sollte diese Tranche als Reaktion selbst wegen der Forderung nach einer deutlichen Lockerung der Einsparpolitik nicht mehr geleistet werden, wäre Griechenland gegenüber seinen auf Auszahlung hoffenden Gläubigern insol­vent. Die mit den Finanzhilfen getätigten Geschäfte zeigen, wer da eigentlich ge­rettet wird. Es sind Gläubiger griechischer Anleihen, denen nach deren Fälligkeit die Auszahlung garantiert wird. Kein einziger Euro fließt zugunsten der Griechen in Sozialsysteme oder in die Wirtschaftsförderung. Hier setzt die Idee eines massi­ven Schuldenschnitts an. Die öffentlichen Haushalte in Griechenland würden von der Zinslast mit einem derzeit durchschnittlichen Zinssatz von 2,4% und den Til­gungsaufwendungen befreit. Finanzhilfen könnten endlich für den sozialen und ökonomischen Aufbau genutzt werden.

Der derzeitigen Rettung der Gläubiger stehen durch den Zwang zur Schrumpfpoli­tik der Abbau staatlicher Leistungen und Löhne sowie der gesamtwirtschaftliche Absturz gegenüber. Durch diese Demontagepolitik wird die Rechnung für die so­zio-ökonomische Stabilisierung Griechenlands nach oben getrieben. Einige wenige Kennziffern machen den Absturz Griechenlands deutlich:

  • Seit 2008 ist die gesamtwirtschaftliche Produktion um knapp ein Viertel von 233,2 Mrd. € in 2008 auf 181,9 Mrd. € in 2014 zurückgefallen. Mit einen leicht po­sitiven Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr gerechnet. Dies ist jedoch kein Signal für eine Wende zum Besseren. Nach dem vorangegangenen Absturz kann die Wirtschaft kaum noch sinken und selbst absolut kleinste Zuwächse an Produk­tion schlagen sich in überschätzte, positive Wachstumsraten nieder. Ursachen sind die eingebrochene Binnennachfrage sowie die zum Teil demontierte und insgesamt unterentwickelte Wirtschaftsstruktur vor allem auch im Exportsektor.
  • Die registrierte Arbeitslosenquote liegt im Durchschnitt bei knapp unter 27%. Wegen des massiven Abbaus von Jobs in der Wirtschaft und im öffentlichen Sek­tor ist mit einer nachhaltigen Besserung der Beschäftigungschancen nicht zu rech­nen. Fast die Hälfte der Jugendlichen ist arbeitslos. Die junge Generation wächst mit Perspektivlosigkeit auf. Letzte Rettung biete die Abwanderung ins Ausland, die zum Verlust von Arbeitskräften, die künftig im eigenen Land gebraucht werden, führt.
  • Es musste klar sein, die konditionierten Finanzhilfen tragen nicht dazu bei, den Staatsschuldenabbau bezogen auf die gesamtwirtschaftliche Produktion voranzut­reiben. Im Gegenteil! Sie fließen an Gläubiger im Zuge der Fälligkeit einerseits und führen andererseits zur Umschichtung der Gläubiger in Richtung öffentlicher In­stitutionen. Die Rechnung mit dem Abbau von Staatsschulden durch Einsparprog­ramme ging jedoch nicht auf. Seit dem Frühjahr 2010 sind die Staatsschulden von 200 Mrd. € bis Ende letzten Jahres auf 320 Mrd. € gestiegen. Der Teilschulden­schnitt mit über 100 Mrd. € im Frühjahr 2012 hat kaum entlastend gewirkt. Auch die Staatsschuldenquote ist nicht gesunken, sondern von 107,3% in 2007 auf 176 % in 2014 gestiegen. Ein Grund erschließt sich, wenn die Rückwirkungen des Ab­baus staatlicher Leistungen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ins Visier genommen wird: Das Bruttoinlandsprodukt ist infolge der Schrumpfpolitik stärker gesunken und hat die Staatsschulden nach oben getrieben. Dieses Schuldenparado­xon ist hinlänglich bekannt. Selbst der IWF musste 2013 eingestehen, er habe die produktionswirtschaftlichen Schäden durch den Abbau von Staatsausgaben zur Senkung der Staatsschulden in Griechenland deutlich unterschätzt. Deshalb ist ein grundlegender Kurswechsel mit den Schwerpunkten erforderlich: massiver Schul­denschnitt sowie Finanzhilfen zum Aufbau der Wirtschaft.

3. Raus aus dem Grexit

Also, empirisch und analytisch ist belegbar: Diese Sanierungspolitik durch Finanz­hilfen zur Rettung der Gläubiger griechischer Anleihen zusammen mit sinkenden Löhnen, schrumpfenden Staatsausgaben und Privatisierungen mussten scheitern. Zu dieser Erkenntnis sind die Rettungsideologen trotz harter Fakten immer noch nicht bereit. Das Schuld-Sühne-Muster, egal, was es sozial und ökonomisch kostet, soll fortgeschrieben werden. Da kann nur ein Ignorant von den wachsenden Wi­derständen der griechischen Bevölkerung gegen diese Diktate überrascht werden. Nicht einmal eine Lockerung der Austeritätspolitik kommt den Geberländern in den Sinn. Erpresserische Drohungen werden durch diejenigen, die über die Finanz­hilfen verfügen, eingesetzt. Sollte dieser Widerstand Erfolg haben, dann muss klar sein, dass der Ausschluss Griechenlands aus dem Eurosystem, der Grexit, auf die Tagesordnung gesetzt wird. Es gibt trotz der vielen Dementis ernsthafte Hinweise, dass sich das Bundeskanzleramt mit derartigen Szenarien befasst.

Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe gegenüber den Vernebelungsaktionen die rechtlichen Schwierigkeiten und bitteren Folgen eines Austritts aus dem Euro­system nicht nur für Griechenland kenntlich zu machen [1].

  1. Nach der EU-Verfassung ist ein Austritt eines Landes aus dem Eurosystem ei­gentlich nicht möglich. Hier wirkt ein Konstruktionsfehler des Ende 1990 ausge­handelten Maastrichter Vertrags nach. Über die Existenzkrise eines Mitgliedslandes sowie mögliche Instrumente der Rettung ist nicht nachgedacht worden. Im Gegen­teil, mit dem Verbot der finanziellen Hilfe für ein Notlagenland nach der Nichtbei­stands-Klausel (No-Bailout-Klausel) ist kein Handlungsspielraum vorgezeichnet worden. Wichtig ist auch die „unwiderrufliche“ Fixierung der Wechselkurse, die seit dem 1.1.1999 für die Mitgliedsländer gelten. Der Austritt Griechenlands müsste die Anerkennung eines in sich stabilen Eurosystems empfindlich belasten. Denn der eiserne Schwur, die Wechselkurse zwischen den Mitgliedsländern wären „unwiderruflich“, würde durch drohende Nachfolgeaustritte widerrufen. Der Aus­tritt Griechenlands würde die Akzeptanz des Eurosystems in seiner Gesamtheit be­lasten. Übrigens kann verfassungsrechtlich Griechenland nur über den Umweg des EU-Exits den Euroraum verlassen. Auch die Schwächung der EU wäre unüberseh­bar. Wer ernsthaft Ja sagt zum Griechenlandaustritt aus dem Eurosystem, der sagt auch ja zum EU-Exit.
  2. Die bisherigen öffentlichen Finanzhilfen sowie die Darlehen der Banken und Wirtschaft an Griechenland müssten im Zuge der Einführung der strukturell schwachen Drachme abgeschrieben werden. Da sich knapp 80% der Gläubiger durch die Umschuldungen auf öffentlichen Einrichtungen (EU, IWF, ESM) kon­zentrieren, wären am Ende die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler betroffen. Auf die deutschen Banken entfallen ca. 23 Mrd. € an griechischen Anleihen. Abschrei­bungen würden dort zu Gewinneinbußen bzw. Verlusten führen.
  • Nachdem die Bundesregierung in früheren Krisenphasen das Argument der Ans­teckungsgefahr und Eurodestabilisierung hoch gehalten hatte, soll dies heute keine Bedeutung mehr haben. Der Hinweis auf das geschaffene Eurorettungssystem so­wie der angekündigte Einsatz der Europäischen Zentralbank im Krisenfall rechtfer­tigt diesen Meinungswechsel nicht. Einerseits würden über Grexit angesteckte Kri­senländer die Rettungsschirme stärker in Anspruch nehmen. Andererseits verhin­dert die Auflagenpolitik eine Stärkung der ökonomischen Entwicklung. Deshalb lassen sich die Finanzhilfen nicht einstellen. Ökonomisch ist die Ansteckungsge­fahr etwa in Spanien, Portugal und Italien immer noch gegeben. Vor allem aber käme es zu einer politischen Abwertung des Eurosystems. Allein die Suggestition eines Griechenlandausstiegs durch die Bundesregierung führte zu einer Abwertung des Eurowechselkurses. Mitte Januar dieses Jahres ist der Preis an US $ für einen Euro unter den Preis zum Start am 1.1.1999 mit 1,1747 US $ gesunken.
  • Marktfundamentalistische Ökonomen preisen die Vorteile der Wiedereinführung der Drachme in Griechenland. Die dabei unterstellten Wirkungsketten treffen je­doch nicht zu: Wechselkurse werden schon lange nicht mehr nur von Warenströ­men, sondern von grenzübergreifenden Vermögensgeschäften und vor allem Spe­kulationen getrieben. Aber auch die unterstellten segensreichen Wirkungen einer Abwertung/ Aufwertung halten einer empirischen Überprüfung nicht stand. Das zeigt das Szenario der Wiedereinführung der Drachme: Die Drachme würde massiv bis zu 40% gegenüber dem heutigen Euro abwerten. Könnten international konkur­renzfähige Wettbewerbsstrukturen unterstellt werden, würden die griechischen Ex­porteure davon profitieren. So gäbe es für die Lieferung nach Deutschland beim Umtausch der Eurobeträge mehr an Drachmen. Den Preisvorteil kann jedoch Grie­chenland kaum nutzen. Die Exportwirtschaft, die es kaum noch gibt, muss erst auf­gebaut werden. Die jüngste Entwicklung bestätigt die Argumentation: Die Lohn­stückkosten (Arbeitskosten pro Stunde bezogen auf die Produktivität je Arbeits­stunde) sind in den Jahren 2011 bis 2014 in Griechenland um fast 13 % gesunken. Die Exporte legten jedoch nicht zu, sondern gingen in den letzten Jahren immer noch um 3 Prozent zurück. In Deutschland sind dagegen die Lohnstückkosten im gleichen Zeitraum um fast 9% gewachsen, jedoch wegen der internationalen Wett­bewerbsfähigkeit die Exporte stark gestiegen. Die schweren Belastungen auf der Importseite durch die Einführung der Drachme liegen auf der Hand. Die Preise für Importe nach Griechenland steigen. Wegen der hohen Importverflechtung droht eine Hyperinflation, die wiederum die Einkommen real abwertet und zur Schwä­chung der Binnenwirtschaft führen würde.

Der grundlegende Denkfehler der naiven Drachme-Protagonisten ist die Erwartung, auf dieser Basis könne sich Griechenland mit ausreichender, sich selbst regulieren­der Eigendynamik aus dem tiefen Krisensumpf ziehen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wiedereinführung der Drachme würde Griechenland ökonomisch ins Abseits drängen. Eine dauerhafte Armutsökonomie wäre nicht auszuschließen. Schließlich droht die Gefahr, dass Griechenland als „Failed State“ demokratisch unregierbar wird. Außenpolitische Risiken vor allem gegenüber der Türkei könnten an Bedeu­tung gewinnen. Wenn die EU diese Fehlentwicklung verhindern will, müsste sie über ihre Budgets künftig verstärkt Mittel aus den Strukturfonds zur Verfügung stellen. Alle Argumente zeigen, zum Grexit durch die Wiedereinführung der Drachme darf es nicht kommen.

4. Elemente einer Stärkung Griechenlands im Eurosystem

Die unbestreitbaren Erfahrungen mit den katastrophalen Folgen der bisherigen fi­nanziellen Rettung der Gläubiger durch eine umfassende Schrumpfpolitik sowie die absehbaren Belastungen durch einen Grexit erzwingen ein Konzept zur Stärkung der griechischen Wirtschaft und damit auch der demokratischen Strukturen.

Die wichtigsten Elemente sind:

  • Um Griechenland von den spekulativen Kapitalmärkten und damit von Zinsaus­gaben und Tilgungsmaßnahmen massiv zu entlasten, wird ein Schuldenerlass um­gesetzt. Zu knapp 80% wären die bisherigen öffentlichen Institutionen, die im Zuge der Umschuldung mit den bisherigen Finanzhilfen aktiv geworden sind, be­troffen. John Milios, der Chefökonom der Syriza-Partei, hat ein Modell, das dem Londoner Schuldenerlass für Deutschland von 1953 nachgebildet ist, vorgeschla­gen.
    Damals wurde –auch anteilig durch Griechenland – die Hälfte der deutschen Schulden zur Entlastung Deutschlands erlassen. Die damalige „Außenhandels-Ein­nahmen-Klausel“ sollte heute auch für die Teilentschuldung Griechenlands über­nommen werden: Der jährliche Schuldendienst darf nicht 3 % der Exporteinnah­men überschreiten. Dadurch würde auch ein Anreiz geschaffen, die griechischen Exporte zu stärken. Vergleichbare Pläne zur Abwicklung der Entschuldung sind auf einer Konferenz der europäischen Linksparteien Ende letzten Jahres festgeschrie­ben worden. Danach übernimmt die EZB jene Schulden, die die Hälfte des Brut­toinlandsprodukts übersteigen. Ausgegeben werden extrem lang laufende Nullzins-Anleihen.
  • Finanzhilfen der EU, des IWF und des Rettungsfonds werden für einen Marshall-Plan zugunsten eines Aufbauprogramms gezielt eingesetzt. Sozialstaatlich gehö­ren dazu die Erhöhung der Mindestlöhne, die öffentliche Übernahme der medizini­schen Versorgung, Lebensmittelkarten und Kredithilfen für überschuldete Privat­haushalte und Unternehmen.
  • Mit den Finanzhilfen wird der Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaftsstruktur und öffentlicher Infrastruktur unterstützt. Dabei geht es auch um den Aufbau einer risi­kodiversifizierten Wirtschaftsstruktur mit kleinen und mittleren Betrieben. Alexander Kritikos vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat unlängst auf erfolgreiche, wirtschaftsrelevante Forschungseinrichtungen hingewiesen. Dafür sollten die Forschungsmittel erhöht und die Forschungszentren vernetzt werden. Auch im Bereich nachhaltiger Energieerzeugung bietet Griechenland Chancen.
  • Schließlich muss Griechenland einen inneren Beitrag zur „good governance“ , also zum guten Regierungs- und Verwaltungshandeln leisten. Die demokratische Erneuerung im Inneren zielt auf die Bekämpfung von Vetternwirtschaft, Korrup­tion und Steuerhinterziehung, die über 40 Jahre die politische Regierungspraxis geprägt hatte. Allein durch den Öl-, Benzin.- und Tabakschmuggel werden jährlich Steuerausfälle von über 20 Mrd. € verursacht. Erforderlich ist auch eine gerechte Lastenverteilung über ein zu reformierendes Steuersystem. Die oligarchische Machtwirtschaft muss durch demokratische Strukturen verdrängt werden.

Parteien, die dieses Aufbauprogramm nach innen und außen forcieren, verhindern einerseits die weitere Verarmung und Spaltung der Gesellschaft und andererseits die politisch gefährliche Isolierung Griechenlands.


[«1] Ausführliche Analyse; Rudolf Hickel / Johann-G. König, Euro stabilisieren – EU demokratisieren – Aus den Krisen lernen, Bremen 2013

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