Albrecht Müller: Auszug aus “Die Reformlüge – 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren”

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Denkfehler 14: “Wachstum ist auch ökologisch nicht vertretbar.”

Wenn wir die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland überwinden wollen, müssen wir beachtliche Wachstumsraten erreichen (siehe Denkfehler Nr. 8). Doch wer dies vorschlägt, kommt sofort ins Feuer jener, die meinen, das Wachstum unserer Volkswirtschaft sei ökologisch nicht vertretbar. Diese Position ist zwar ehrenwert, aber sie ist in mehrfacher Hinsicht falsch.

Erstens kommt es ganz wesentlich darauf an, was wächst, und zweitens muss man in Betracht ziehen, welche Folgen es für eine ökologisch vernünftige Wirtschaftsentwicklung und die dazu notwendige Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik insgesamt hatte und haben wird, wenn kein Wachstum stattfindet. Fangen wir mit der letzten Erwägung an.

»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« – wie richtig diese drastische Feststellung von Bertolt Brecht ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sich die Einstellung der Menschen gegenüber der Umwelt und der Umweltpolitik in den letzten Jahren der wirtschaftlichen Stagnation verändert hat. Wer Sorgen um seinen Arbeitsplatz und den Ausbildungsplatz von Kindern und Enkeln hat, wer sich um die Absicherung im Fall von Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit sorgt, wer keine Arbeit hat, wer nun seit Jahren schon mit stagnierendem Einkommen auskommen muss, bei dem schwindet die Lust, sich ökologisch vernünftig zu verhalten oder Ökologie für wichtig zu halten. Zumal Umweltschutz als teuer und als Jobkiller gilt.

Kein Bock auf Umwelt! Die Verbände, die in Deutschland für den Umweltschutz eintreten, bekommen diesen Mentalitätswechsel trotz rotgrüner Koalition und Politik zu spüren. Auch das Verhalten der Menschen auf den Straßen, der Umgang mit Energie – dies alles ist von sehr viel mehr Rücksichtslosigkeit geprägt als noch in den Zeiten einer guten Konjunktur und einer guten Entwicklung des Wohlstands.

Unter dem Druck der wirtschaftlichen Stagnation und der Unsicherheit der Arbeitsplätze hat sich die Einstellung zum Umweltschutz verändert. Wer diese Einstellung wieder zum Positiven wenden will, muss etwas tun dafür, dass Arbeitsplätze sicherer werden und dass neue Arbeitsplätze entstehen; dies geht zuallererst über das Wachstum der Volkswirtschaft.

Dann kommt es darauf an, dieses Wachstum so vernünftig zu steuern, dass die Produktionsverfahren möglichst umweltverträglich gestaltet werden und dass vermehrt ökologisch interessante Dinge oder solche, die ökologisch wenigstens unschädlich sind, entwickelt, produziert und konsumiert werden. Damit das geschieht, müssen die Rahmendaten für Markt und Wettbewerb so gesetzt werden, dass wenigstens die gröbsten Umweltbelastungen in den Dispositionen von Konsumenten und Produzenten berücksichtigt werden. Dazu bedarf es der staatlichen Steuerung, weil der Markt allein in vielen Fällen Konsum und Produktion nicht in die ökologisch und ökonomisch richtige Richtung leitet. In der Sprache der Ökonomen heißt das: Der Markt versagt dann bei der Allokation der Produktionsfaktoren, wenn externe Kosten anfallen. Ein Beispiel zeigt, was damit gemeint ist: Wenn bei der »Produktion« der Dienstleistung »Transport von Gütern« – beispielsweise beim Betrieb einer Spedition – bestimmte Kosten, die durch Lärm, Dreck und Abgasbelastung verursacht werden, nicht beim Spediteur, sondern bei der Allgemeinheit anfallen, dann sollten diese externen Kosten durch eine Abgabe oder Steuer in die Kalkulation der Verursacher »hineingezwungen« werden – dies ist aus ökologischen wie aus ökonomischen Gründen sinnvoll. Das ist die Überlegung, die hinter der Schwerverkehrsabgabe und der Ökosteuer steht.

Immer noch setzen Umweltschützer Wachstum mit rauchenden Schloten und verschmutzten Flüssen gleich, dabei sind auch Umweltschutz beziehungsweise die Vermeidung von Umweltschäden ein Wachstumsfaktor. Wenn wir den Gemeinden wieder mehr Geld in die Hand gäben, damit sie ihre Leistungen für die Öffentlichkeit, die Schwimmbäder, die Kinderspielplätze, den öffentlichen Nahverkehr, die Betreuung von Kindern verbessern, statt daran zu sparen, dann hat das keine negative Wirkung auf die Ökologie. Oder ist es ökologisch bedenklich, wenn wir dafür sorgen, dass die notwendigen Aufgaben in Bildung und Erziehung erledigt werden? Und wenn wir ein Investitionsprogramm des Bundes und der Länder auflegen würden, um Deutschlands Flüsse und Bäche zu renaturieren, dann würden wir damit mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen, ohne irgendeinen ökologischen oder wirtschaftlichen Nachteil in Kauf nehmen zu müssen, im Gegenteil. Wir würden den darniederliegenden mittelständischen Tiefbaubetrieben und vielen weniger gut ausgebildeten Arbeitskräften Arbeit verschaffen und ökologisch reizvolle Naturlandschaften wieder beleben.

Wenn unsere Wirtschaft wieder ordentlich wachsen würde, dann würden wahrscheinlich auch ein paar mehr Autos produziert und gefahren als heute, das ist richtig. Aber wer dies gegen mehr Wachstum in Stellung bringt, der muss bedenken, dass wir nur dann eine Chance haben, ökologische Zielsetzungen zu verfolgen und ökologische Aspekte zu berücksichtigen, wenn es uns gelingt, mehr Beschäftigung zu schaffen – und das geht aus einsichtigen Gründen vor allem über das Wachstum unserer Volkswirtschaft. Gelingt dies nicht, können wir ökologische Rücksichtnahmen immer mehr vergessen. Denn dann werden sich viele Menschen überlegen, ob sie sich den Luxus der »Moral« leisten können und leisten wollen.