Ex-Rote Robe gibt den Scharlatan

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Aus: VerdiOnline

Hans Eichel wurde Anfang 1999 als Hessens Ministerpräsident abgewählt und wenig später, als Nachfolger Oskar Lafontaines von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Finanzminister gemacht. Schon kurze Zeit später war er der Star der Bundesregierung. Sein Geheimnis: Erstens hatte er eine einfache und populäre Botschaft: Hier kommt der Sparkommissar. Zweitens: Er hatte einen guten PR-Berater, der ihn wann immer er wollte, in Talkshows, zumindest bei Sabine Christiansen, unterbrachte. Drittens: Ihm gegenüber saßen unkritische Medien, die weder den Sinn seiner Botschaft noch das Scheitern seiner Person und schon gar nicht seine geschickte PR-Arbeit kritisch hinterfragten. Alle drei Elemente zusammen waren das Erfolgsgeheimnis von Eichel. Bewundernswert. Tatsächlichen Erfolg hatte er nicht. Er wollte sparen, aber er hat nicht gespart. Er hat auch nicht verstanden, dass volkswirtschaftlich betrachtet Sparabsicht und Sparerfolg auseinander fallen können, wenn man die Konjunktur immer weiter in den Keller reitet. Er hat die Konjunktur nicht angekurbelt, 2000/2001 brach die ohnehin schwache konjunkturelle Belebung ab. Bis heute.

Man kann dieses Versagen Hans Eichel persönlich nicht zum Vorwurf machen. Er ist nicht Ökonom. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er von gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen wenig versteht. Es ist eher der Fehler des Bundeskanzlers, der ihn in diese Verantwortung berufen hat. Jetzt steht uns der gleiche Fehler wieder ins Haus. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel will Paul Kirchhof, Juraprofessor und ehemaliger Verfassungsrichter, zum Finanzminister machen. Er ist ein vorzüglicher Blender. Kirchhofs kometenhafte Publizität geht auf die gleichen Mechanismen wie jene des jetzigen Finanzministers zurück. Kirchhof ist populär, weil er einfache Formeln gebraucht, so einfach, dass Journalisten sie weiter sagen können und sie bei einer großen Mehrheit von Menschen Anklang finden. Das gilt für die Forderung Steuern und Steuererklärung zu vereinfachen. Sie in 10 Minuten ausfüllen zu können und der Steuersatz von 25 Prozent, das kommt an. Journalisten greifen gerne auf, was ankommt. So hat Kirchhofs Vereinfachungsforderung die gleiche Wirkung wie Hans Eichels Kosename „Sparkommissar“. Dass die Vereinfachung schwierig ist, dass es neben absolut unsinnigen Steuer-Abschreibungsmöglichkeiten wie die Investitionen in Hollywood-Filmen und in Schiffen auch sinnvolle Steuerbefreiungen gibt wie jene für Schicht- und Nachtarbeit macht das Vereinfachen schwieriger und weniger populär als Kirchhofs Sprüche.

Bei Kirchhof kommt noch hinzu, dass er den ideologischen Formeln des konservativen und neoliberalen Teils unserer Gesellschaft entgegenkommt. Er schwadroniert auch davon, den Bürgern die Freiheit, selbst zu disponieren, zurück geben zu müssen.

Ähnlich wie Hans Eichel, nur vermutlich noch sehr viel imposanter und mächtiger kann sich Kirchhof auf ein Netzwerk von Helfern und Verstärkern verlassen. Da wäre zu aller erst die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zu nennen, deren langjähriger „Botschafter“ Kirchhof ist. Die Initiative hat enormen Einfluss auf die Medien.

Paul Kirchhof predigt in eingängigen Formeln. Aber seine Aussagen stimmen hinten und vorn nicht; seine Vorschläge zur Steuervereinfachung und Steuersenkung stehen im Widerspruch zur Notwendigkeit, Schulden abzubauen, und sie vertragen sich nicht mit anderen Forderungen der Union. Die Steuerreformvorschläge von Paul Kirchhof würden große Steuerausfälle auslösen. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung schätzt sie auf 26 Milliarden Euro pro Jahr; andere gehen von circa 40 Milliarden bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer und von mehr als 20 Milliarden wegen des Wegfalls der Gewerbesteuer aus.

Das steht im Widerspruch zu programmatischen Forderungen der Union in anderen Bereichen. Es widerspricht völlig den sonst gerade auch von der Union erhobenen Forderungen nach Konsolidierung der Staatshaushalte. Es widerspricht noch mehr einer von der CDU ansonsten mit großen Tamtam propagierten Forderung: der Einführung der so genannten Kopfpauschale in der Krankenversicherung und den damit notwendig werdenden und von der Union versprochenen staatlichen Zuschüssen für diejenigen Personen und Familien, die die Kopfpauschale nicht bezahlen können. Der Zuschussbedarf wird von der so genannten Herzog-Kommission auf 27,3 Milliarden, von anderen Fachleuten auf 30 Milliarden Euro geschätzt – verbunden mit enorm steigender Tendenz bis zu mehr als 100 Milliarden im Jahr 2030.

Hier passt alles nicht zusammen. Man lässt bunte Luftballons steigen und vertraut darauf, dass die Mehrheit der Menschen diese jeweils einzeln staunend bewundern und nicht fragen wie die Dinge konzeptionell und finanziell zusammenpassen.

Schon aus diesem Grund ist es ein Witz, wenn Angela Merkel Paul Kirchhof als Visionär bezeichnet. Er ist ein unseriöser Jurist, ihn würde man mit Recht einen Populisten nennen, einen Scharlatan. Seine Glaubwürdigkeit rührt vor allem aus seiner Tätigkeit als Verfassungsrichter her. Das sollte uns aber nicht allzu sehr beeindrucken. Wir haben jetzt bei dem Urteil zur Neuwahl wieder einmal erleben müssen, wie politisch und parteipolitisch diese Richterstellen besetzt sind. Das ist politische Justiz im schlechten Sinne.

Bemerkenswert ist die Primitivität dieses Juristen in ökonomischen Fragen. Auch hier gilt das gleiche wie bei Hans Eichel. Er hat wenig Ahnung von gesamtwirtschaftlich Zusammenhängen. Paul Kirchhof hat die wichtigen Erkenntnisse der Finanzwissenschaft verschlafen.

Ich will einige konkrete Beispiele nennen: Schon in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stimmten Nationalökonomen von links bis rechts darin überein, dass die Steuern mehrere Funktionen haben: neben der von Paul Kirchhof grade noch erkannten Funktion, dem Staat Geld zu beschaffen, damit er seine öffentlichen Leistungen erbringen kann, auch die Funktion, für eine einigermaßen gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung zu sorgen. Deshalb war es einmal üblich, die hohen Einkommen mit einem hohen Spitzensteuersatz um ihren Beitrag zu bitten, und es war üblich, Vermögen mithilfe der Vermögensteuer auch zur Finanzierung staatlicher Leistungen heranzuziehen und auf diese Weise gleichzeitig die Einkommens- und Vermögensschwächeren etwas zu entlasten.

Und es gab, entscheidend für das Funktionieren einer Marktwirtschaft, Übereinstimmung zu einer dritten Funktion der Steuern: die Steuerung der marktwirtschaftlichen Tätigkeit, also, wie wir Ökonomen sagen, der so genannten Allokation der Ressourcen. Auf Deutsch: Wir halten Markt und Wettbewerb für gute Instrumente, um die Verwendung der Produktionsfaktoren, also von Arbeit, Kapital und natürlichen Ressourcen optimal zu organisieren. Wir wissen schon seit den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, dass man dem Markt Rahmendaten setzen muss, damit diese Allokation optimal funktioniert. Diese Erkenntnis geht auf lange Forschungen zurück. So hat man erkannt, dass ein Unternehmer möglicherweise eine Ware oder eine Dienstleistung produziert, die Kosten aber nicht alle bei ihm sondern bei anderen Leuten und der Allgemeinheit anfallen. Das beste Beispiel ist der Transport von Personen und Gütern. Wenn ein Lkw von Frankfurt/Oder nach Aachen rollt, dann verursacht er in Deutschland Kosten, er verschmutzt die Luft und nervt mit Lärm, er beschädigt das Klima und die Straßen. Alle diese Kosten spürt der Spediteur aber nicht, solange der Staat nicht über eine Maut oder über Steuern auf Diesel und die Kfz-Steuer diese bei der Allgemeinheit anfallenden Kosten in die Kalkulationen des Spediteurs hineinzwingt. Seit rund 80 Jahren gibt es in der volkswirtschaftlichen Wissenschaft eine Übereinstimmung zu dieser Erkenntnis. Aber sie hat sich immer noch nicht bis zu Paul Kirchhof herumgesprochen. Er weiß einfach zu wenig, oder er weiß es und nimmt es trotzdem nicht wahr. Bei Angela Merkels „Visionär“ kommt noch erschwerend hinzu, dass er seine Schwäche nicht sieht und sich völlig überschätzt. In einem Gespräch mit „Welt am Sonntag“ meinte er: „Es gibt wohl nur wenige Menschen in Deutschland, die so gut vorbereitet sind für das Amt des Finanzministers wie ich.“

Ein Jurist ohne Ahnung von volkswirtschaftlichen Zusammenhängen in der Funktion des Finanzministers – das ist aus dem geschilderten Grund eine Katastrophe. Es wird noch viel schlimmer, wenn man daran denkt, dass dieser Mann – übrigens wie eine große Mehrheit der heutigen Meinungsführer auch – annimmt, er könne mit einer Steuerreform die wirtschaftliche Belebung in unserm Land erreichen. An diese Politikerdroge, wie der Ökonom Heiner Flassbeck das nennt, glauben in Deutschland leider viel zu viele einflussreiche Meinungsmacher und Politiker. Sie denken, wenn die Steuern sinken, springt die Wirtschaft an, investieren und produzieren die Unternehmer, konsumieren die Konsumenten mehr und es geht los. Diesem Glauben rennen die Politiker in Deutschland nun seit mehr als 20 Jahren hinterher. Sie haben die Steuern gesenkt und reformiert: Die Vermögensteuer, die Gewerbekapitalsteuer und die Besteuerung von Gewinnen bei der Veräußerung von Unternehmen, also die Besteuerung von so genannten Heuschrecken, wurde abgeschafft; sie haben den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent gesenkt und mit einer Steueränderung die Versicherungswirtschaft so neben her um circa fünf Milliarden Euro entlastet. Und dies alles hat nichts gebracht. Wachstum gleich null.

Die öffentliche Meinungsbildung in Deutschland ist offenbar so erfahrungsresistent, dass niemand aus konkreten Erfahrungen lernen will. Paul Kirchhof stolpert auf dem gleichen Weg weiter. Nicht weil er bösartig ist, nein, er ist nicht an der Sache, sondern an Stimmungen der herrschenden Meinungsführer und vermutlich auch an den Interessen der Besserverdienenden orientiert. Er ist keine eigenständig denkende Persönlichkeit, sondern ein Stimmungsnachläufer und Verstärker. Das ist furchtbar. Unser Land hätte endlich wieder einen Fachmann im Finanzministerium verdient.

Paul Kirchhof ist leider ein Ideologe, einer der vor allem der Ideologie privater Interessen folgt, die uns erzählen, wir müssten den Staat aus der Verantwortung aus vielen Bereichen unseres Lebens hinaus drängen. Die Frage aber, ob wir ein Produkt oder eine Dienstleistung öffentlich und in staatlicher Verantwortung herstellen wollen, oder ob wir das privat organisieren, muss man nüchtern beantworten. Das ist eine Optimierungsaufgabe.

Ob man eine Schule oder einer Universität öffentlich oder privat betreibt, ob man die Schankanlage einer Gastwirtschaft vom Ordnungsamt der Kommune oder von einem privaten Unternehmen kontrollieren lässt, ob man Autobahnen öffentlich oder privat bauen und betreiben lässt, ob die Bahn öffentlich oder privat ist, auch ob polizeiliche Dienste öffentlich oder privat organisiert werden sollen, ob die Wasserversorgung in den Händen der Kommunen oder in privaten Händen ist – dies alles sollte nach Gesichtspunkten der Optimierung geprüft werden und nicht einer Ideologie überlassen werden. Letzteres ist zur Zeit üblich, es wird so getan, als sei die private Organisation besser. Aus vielen Bereichen wissen wir, dass dies nicht stimmt. Im Gegenteil. Die öffentliche, das heißt, die staatlicher Verantwortung war und ist in vielen Fällen nicht nur gerechter, sondern auch preiswerter.

Mit Paul Kirchhof hätten wir einen Ideologen zum Finanzminister, einer der schon deshalb eine minimale Steuer von 25 Prozent vorschlägt, weil er ganz auf der Linie US-amerikanischer Vorbilder den Staat immer ärmer machen will. Die Sozialdemokraten hatten in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einmal einen bemerkenswerten Slogan auf einem Flugblatt: “Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten“, hieß es dort. Davon hätte die SPD nichts zurückzunehmen, wenn sie noch die Partei der Sozialen Demokratie wäre.

Albrecht Müller
Albrecht Müller, Herausgeber von NachDenkSeiten.de, ist Nationalökonom. Ausbildung zum Industriekaufmann. Diplom-Volkswirt. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität München.