Blairisten gegen Corbynistas – der Kampf um die britische Labour-Partei spitzt sich zu

Jens Berger
Ein Artikel von:

Eineinhalb Monate nach dem Putschversuch des rechten Parteiflügels steuert die britische Labour-Partei nun auf die große Entscheidungsschlacht zu. Am 21. September schließen die Wahlurnen zur anberaumten Neuwahl des Parteivorsitzenden. Trotz massiver – und meist überhaupt nicht demokratischer – Einflussnahme des rechten Parteiflügels, der „Blairisten“, haben Jeremy Corbyn und seine Anhänger, die „Corbynistas“, momentan sehr gute Karten, den Machtkampf für sich entscheiden zu können. Labour war die erste sozialdemokratische Partei Europas, die sich von ihren sozialdemokratischen Wurzeln losgesagt hat und könnte nun auch die erste Partei sein, die diesen Kurs komplett revidiert. Von Jens Berger.

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Zur Vorgeschichte siehe: Jeremy Corbyn schlägt zurück

Stellen Sie sich doch einmal vor, ein SPD-Vorsitzender würde quasi im Alleingang die neoliberale Wende der Schröder-Ära rückgängig machen und der SPD wieder ein sozialdemokratisches Gesicht geben. Stellen Sie sich dann noch vor, dass nahezu die komplette Parteispitze diesen Vorsitzenden offen zum Rücktritt auffordert, 80% der SPD-Bundestagsabgeordneten ihm ihr Misstrauen aussprechen und die versammelten Massenmedien sich zum Abschuss dieses Vorsitzenden zusammengetan haben: Glauben Sie, dass ein deutscher Politiker gegen diese massive Einheitsfront des Neoliberalismus bestehen könnte? Wohl kaum. Jeremy Corbyn vollbringt momentan genau diesen Kraftakt.

Corbyn ist jedoch nicht alleine. Seit seinem Sieg bei den Wahlen im letzten Jahr hat Corbyn vor allem jungen, links orientierten Briten nicht nur eine neue Hoffnung gegeben, sondern sie sogar dazu animieren können, sich aktiv politisch zu engagieren. Die Zahl der Parteimitglieder hat sich seitdem von rund 200.000 auf heute rund 500.000 mehr als verdoppelt. Auch außerhalb der Partei hat Corbyn treue Verbündete – wie die großen Gewerkschaften oder das Momentum-Movement. Ohne diese Trümpfe in der Hand hätte auch ein Jeremy Corbyn keine Chancen gegen das Establishment.

Zwei verhängnisvolle „Unfälle“

Nun heißt es Blairisten gegen Corbynistas, Parteilinke gegen Parteirechte, Basis gegen Funktionärskaste. Noch vor wenigen Jahren hätte ein Parteivorsitzender, der zwar die Basis aber nicht die Funktionäre hinter sich hat, wohl keine Chancen gehabt. Paradoxerweise war es ausgerechnet Corbyns Vorgänger[*], der treue Blairist Ed Miliband, der die Funktionärskaste „aus Versehen“ entmachtet hat, um die Partei auf Linie zu bringen. Miliband selbst wurde 2010 noch von einem Funktionärsgremium als Parteivorsitzender gewählt. Damals hatte der auf Tony Blair zurückgehende neoliberale „New-Labour-Kurs“ in der ausgedünnten Basis großen Rückhalt, während es in den Reihen der Parteifunktionäre und vor allem der Gewerkschaften Widerstand gab. Um die linken „Kader“ in der Parteispitze zu entmachten, reformierten Miliband und Co. das Wahlverfahren: Fortan sollte der Parteivorsitzende von der Parteibasis und registrierten Unterstützern aus dem Parteiumfeld in einer echten Basiswahl (Ein Mitglied, eine Stimme) gewählt werden. Dies war der erste „Unfall“. Hätte Miliband das Wahlverfahren nicht geändert, wäre Jeremy Corbyn heute ein „schrulliger“ Hinterbänkler und die Partei immer noch auf stramm neoliberalen Kurs.

Der zweite große „Unfall“ war die Wahl von Milibands Nachfolger. Der rechte Parteiflügel war sich wohl allzu sicher, dass die Parteilinke längst marginalisiert ist. Darum verhalfen Miliband-Anhänger dem als „Nervensäge“ verschrienen linken Abgeordneten Jeremy Corbyn 2015 in letzter Minute zu einer Kandidatur bei den Wahlen zur Miliband-Nachfolge*. Natürlich sollte Corbyn die Wahlen nicht gewinnen. Man dachte sich vielmehr, dass die Parteilinke endlich Ruhe geben würde, wenn sie sieht, wie ihr Kandidat bei den Vorstandswahlen untergeht. Wie wir heute wissen, ging die Geschichte ganz anders aus. Vollkommen überraschend konnte sich Jeremy Corbyn dank der Stimmen der Gewerkschafter gegen seine drei Konkurrenten durchsetzen und wurde im August 2015 Vorsitzender von Labour. Der zweite „Unfall“.

Seit diesem Zeitpunkt gibt es Putschgerüchte und seit diesem Zeitpunkt sammelt der rechte Parteiflügel Verschwörer, die bereit sind, Corbyn den Dolch in den Rücken zu rammen. Der Brexit war die lang ersehnte Gelegenheit, diese Pläne umzusetzen. Wahrscheinlich hätten selbst die Verschwörer nicht damit gerechnet, dass Corbyn diesem epochalen Gegenwind standhält und den Fehdehandschuh aufnimmt.

Neuwahlen

Nun gibt es Neuwahlen und hinter den Kulissen kämpfen die Blairisten mit harten Bandagen. Per Gremienentschluss sorgten sie beispielsweise dafür, dass nur Mitglieder und Unterstützer wahlberechtigt sind, die – zum Zeitpunkt der Entscheidung – mehr als sechs Monate Parteimitglied sind. Dadurch wurden rund 130.000 Parteimitglieder, nahezu komplett Corbynistas, nicht wahlberechtigt. Und auch die Propaganda läuft auf Hochtouren. Was hierzulande der „Querfront-Vorwurf“ ist, ist in Großbritannien der Vorwurf „Trotzkist“ zu sein. Dies ist allen Ernstes die Theorie des Parteivizes und überzeugten Blairisten Tom Watson, der jüngst warnte, „Trotzkisten“ versuchten die Partei zu übernehmen. Corbyn wunderte sich öffentlichkeitswirksam darüber, dass es in Großbritannien neuerdings 300.000 Trotzkisten gibt – mehr als 1917 im revolutionären Russland. Das Fremdschämpotential war ganz auf Watsons Seite.

Nun wird im September Owen Smith als gemeinsamer Kandidat des rechten Parteiflügels gegen den Amtsinhaber Corbyn antreten. Hat er Chancen? Außerhalb der Funktionärskaste wohl kaum. Aktuell geben 273 von 324 Labour-Wahlkreisen ihren Mitgliedern eine Wahlempfehlung für Corbyn – nur 51 empfehlen Owen Smith. Dies sind freilich nur unverbindliche Empfehlungen, die jedoch indirekt sehr bedeutungsvoll sind. Die Labour-Wahlkreise (engl.: CLPs) sind es nämlich auch, die die Labour-Kandidaten für die Unterhauswahlen bestimmen. Man kann also getrost davon ausgehen, dass im Falle eines Wahlsiegs Corbyns es bei den nächsten Unterhauswahlen die „Rache“ der Parteilinken geben wird. Wenn mehr als 80% der Abgeordneten nicht mit ihrem Parteivorsitzenden einverstanden sind, können sie freilich auch nicht bei den nächsten Wahlen kandidieren. Und wenn die Neoliberalen vom Hof gejagt wurden, kann Labour als erste sozialdemokratische Partei der Welt ihre „Re-Sozialdemokratisierung“ abschließen. Auch die SPD sollte aufmerksam nach Großbritannien blicken.


[«*] Zwischen Miliband und Corbyn war Harriet Harman für wenige Monate kommissarisch Parteivorsitzende.

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