Projekt „Deutschland spricht“: Blinde, die andere führen wollen

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Am 23. September sollen zehntausende Menschen in Deutschland, die eine unterschiedliche Meinung zu einem bestimmten Thema haben, miteinander diskutieren. So will es zumindest eine Aktion, hinter der neben dem Bundespräsidenten zahlreiche große Medienhäuser stehen. Das Ziel: Bürger aus ihren „Filterblasen“ rausholen. Ein Stück Realsatire kommt zum Vorschein, wie es irrsinniger kaum sein könnte. Medien, die über viele Jahre das Meinungsspektrum in der öffentlichen Debatte auf den Durchmesser eines Strohhalms verengt haben, inszenieren sich nun als Initiatoren und Moderatoren eines großen Bürgerdialoges. Akteure, die sich selbst in einer für die Demokratie schlimmsten Filterblase unserer Gesellschaft bewegen – der Filterblase „Mainstream“ – zeigen auf die angebliche Filterblase bei den anderen. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Ignoranz, die aufseiten großer Medien vorherrscht, lässt tief blicken. Bekannte Medienhäuser, deren hochrangige Vertreter gerne behaupten, zu sagen, „was ist“, also für sich beanspruchen, die Realität so zu zeigen, wie sie ist, zeigen sich wiedermal als Blinde, die andere führen wollen.

Zu dieser Ansicht kann man gelangen, wenn man sich das Projekt „Deutschland spricht“ anschaut. Die Zeit, Zeit Online, Der Spiegel, tagesschau.de, SZ.de und eine Reihe weiterer großer Medien wollen Bürger, die völlig anderer Ansicht zu bestimmten gesellschaftlichen und politischen Themen sind, zusammenbringen. Jeweils paarweise sollen die Bürger sich die Meinung ihres Gegenübers anhören und miteinander diskutieren.

Was ist von dem Projekt zu halten? Oberflächlich betrachtet lässt sich die Aktion sicherlich gutheißen. Es kann nichts schaden, wenn Menschen mit unterschiedlichen Ansichten in einen konstruktiven Dialog miteinander treten. Doch die Absicht der Projektmacher, durch das Arrangieren dieser Gespräche ein Stück dazu beizutragen, dass die tiefen Gräben in unserer Gesellschaft überwunden werden, entlarvt das Projekt als das, was es ist: Augenwischerei.

Wer sich mit dem Projekt etwas genauer auseinandersetzt, muss feststellen, dass hier geschickt die Aufmerksamkeit von jenen Institutionen abgelenkt wird, die maßgeblich an der sozialen Spaltung mitgewirkt haben und letztlich noch immer zu dieser Spaltung beitragen. In der Sinnwelt des Projekts entsteht der Eindruck, dass die Bürger mit ihren unterschiedlichen Ansichten und Meinungen eine fragmentierte Gesellschaft haben entstehen lassen. Anders gesagt: Die Bringschuld liegt also bei den Bürgern – mal wieder.

Die Kampagne „Deutschland spricht“ kann als ähnlich manipulativ betrachtet werden, wie es etwa die „Du-bist-Deutschland-Kampagne“ war, die zur Hochzeit des neoliberalen Umbaus in Deutschland mit großem Aufwand und viel Geschick versucht hat, die Bürger dazu zu bringen, die durch die neoliberalen Weichenstellungen verursachten Probleme selbst zu tragen. Wenn bekannte Medien im Verbund mit dem Bundespräsidenten auf die Bürger zeigen und an ihnen die Spaltung der Gesellschaft festmachen, aber zugleich nicht bereit sind, ein Projekt auf die Beine zu stellen, dass ihre eigene Rolle im Hinblick auf die tiefen Gräben in der Gesellschaft thematisiert, dann handeln sie wie einer, der nur die halbe Wahrheit sagt. Und die halbe Wahrheit ist bekanntlich oft genug eine ganze Lüge.

Von welchem „Geist“ das Projekt angetrieben ist, wird deutlich, wenn man sich eine Aussage näher anschaut, die von dem Chefredakteur Online vom Tagesspiegel stammt. Er sagte zu dem Projekt:

“In “Deutschland spricht” steckt automatisch auch “Deutschland hört zu”. Und das heißt: Dialog. Genau das ist es, was wir in diesen Zeiten polarisierender Debatten und schwindendem demokratischen Verständnis brauchen.

Zu der Wahrnehmung, dass es ein schwindendes demokratisches Verständnis gibt, muss man erstmal kommen. Wo zeigt sich dieses schwindende Demokratieverständnis denn? Etwa darin, dass circa 63 Millionen Amerikaner den Milliardär Donald Trump auf demokratischem Weg gewählt haben? Darin, dass länderübergreifend, in vielen westlichen Demokratien, Bürger Medien, Politiker, ja: „die“ Eliten zunehmend heftiger kritisieren? Wohl kaum. Oder kann man ein schwindendes Demokratieverständnis diagnostizieren, wenn einem der Ausgang einer Wahl, wenn einem Bürgerproteste und Stimmen aus der Gesellschaft, die „die da oben“ kritisieren, nicht passen? Ja, man kann. Aber dann muss man sich die Frage gefallen lassen, wie es eigentlich mit dem eigenen Demokratieverständnis aussieht.

Doch diese Äußerungen, die hier von einem führenden Redakteur kommen, sind typisch für eine Sichtweise, die bei Vertretern großer Medien weit verbreitet ist. Kollektiv blicken viele Redaktionen auf „die“ Bürger und sind der Auffassung:
Die Bürger sind es, die nicht verstehen.
Die Bürger sind es, die sich falsch verhalten.
Die Bürger sind es, die keine Ahnung von der Wirklichkeit haben.
Die Bürger sind es, die ständig irgendetwas „fühlen“ (was natürlich nicht der Realität entspricht), „abgeholt“ werden müssen und denen man den Erklärbär an die Haustür schicken muss.

Sowohl Politik als auch Medien kritisieren die Sprache und Ausdrucksweise der Bürger. Man wirft ihnen vor, Manipulation und Propaganda auf den Leim zu gehen, während sie im selben Atemzug bei Entlassungen eines Unternehmens keine Bedenken haben, von „Freistellung“ zu sprechen oder andere manipulative Sprachbilder und Ausdrücke zu gebrauchen („Rettungsschirm“, „Eigeninitiative“, „Humankapital“ usw).

Auf dieser Basis bewegt sich dann auch das Projekt „Deutschland spricht“. Im Nachfolgenden wollen wir auf einen Artikel eingehen, der das Projekt vorstellt und auf Zeit Online erschienen ist.

Wann haben Sie das letzte Mal mit jemandem gesprochen, der politisch ganz anders denkt als Sie? Schon länger her?, heißt es zu Beginn des Beitrages.

Das klingt sympathisch. Da spricht die Redaktion den Leser im vertraulichen Ton direkt an und macht auch sofort ihren Punkt. Der Leser könnte, so die Vermutung des Blattes, schon länger nicht mehr mit jemandem geredet haben, der eine andere Meinung hat als er selbst. Die direkte Frage, die dann folgt, vermittelt durch die verkürzte Form, in der sie gestellt wird (eigentlich: Ist es schon länger her), dass die Redaktion vorgibt, sich auf Augenhöhe mit dem Leser zu bewegen. So redet man, wenn man sich auf dem Markt begegnet oder am Abend gemeinsam am Tresen in der Kneipe steht.

Bis dahin: so weit, so gut. Lesen wir weiter.

Keine Sorge, das geht anderen auch so. Wir neigen dazu, uns mit Menschen zu umgeben, die unsere Ansichten teilen. Standpunkte, die unseren eigenen Überzeugungen widersprechen, tun wir gerne als falsch ab oder ignorieren sie einfach. So weit, so menschlich. Allerdings wird dieser Scheuklappeneffekt zunehmend gefährlich.

Weiter geht es mit dem vertraulichen Ton. Da scheint einer zu sein, der den Leser versteht. Vor dem geistigen Auge sieht man förmlich die freundlich gesinnte Hand des Gesprächspartners auf der Schulter, der es gut mit dem Leser meint. Die erste Person Plural, das Wörtchen „wir“, verstärkt nochmal den Eindruck aus den vorangegangenen Zeilen, dass hier die Zeit-Redaktion den Anschein erweckt, mit ihren Lesern auf Augenhöhe zu kommunizieren. „Wir“, das heißt hier: sowohl Du als Leser, aber auch ich als Verfasser des Textes oder wir als Redaktion. So sind „wir“ Menschen eben. Genauso verhält es sich mit dem Wörtchen „uns“. Auch hier wird vorgegeben, dass der Artikel, der keinen Autorennamen aufweist, den (bzw. die Verfasser) mit in die Aussagen einbezieht.

Bis dahin, könnte man meinen, ist doch alles in Ordnung. Aber Vorsicht.

In der Formulierung „keine Sorge, das geht anderen auch so“ schwingt nicht nur ein vertraulicher Ton mit. Sie verrät uns auch, dass hier jemand zu den Lesern spricht, der meint, „aufklären“ zu müssen und vor allem auch glaubt, in der Lage zu sein, aufklären zu können. Hier bewegt sich im Grunde genommen nicht einfach jemand auf Augenhöhe mit den Lesern. Inhaltlich und in ihrer Art könnte die Aussage genauso von einem Arzt stammen (Über-/Unterordnungsverhältnis kommt zum Vorschein), der mit seinem Patienten (der nun mal nicht über das Wissen des Arztes verfügt) redet und ihm aufgrund seiner fachlichen Kompetenz mitteilt, dass es keinen Grund zur Sorge gibt.

Im weiteren Verlauf des Beitrages wird schnell deutlich, dass diese Interpretation nicht aus der Luft gegriffen ist. Es erfolgt, um der Kurzanalyse vorauszugreifen, eben gerade keine Ansprache auf Augenhöhe. Dieses „wir“, ebenso das „uns,“ müssen als ‚falsche Freunde‘ betrachtet werden (dazu gleich mehr).

Schnell wird auch deutlich, dass es hier nicht nur um ein belangloses Gespräch geht. Hier geht es um Politik. Plötzlich kommt der Begriff „Scheuklappeneffekt“ zum Vorschein, ein Effekt, der „gefährlich“ werden kann. Plötzlich ist es nicht mehr die einfache, „volksnahe“ Sprache, die zu lesen ist, sondern ein Ausdruck, der markiert: Hier spricht jemand mit Bildung. Hier spricht jemand, der vorgibt, sich auszukennen.

Was mit der Aussage genau gemeint ist, wird im nächsten Absatz deutlich:

Nicht nur in den USA und Großbritannien, auch in Deutschland wird der Ton in den Debatten unversöhnlicher, reden die politischen Lager zunehmend mehr übereinander als miteinander. Wenn wir uns am Arbeitsplatz, in unserem Wohnviertel und auf Plattformen wie Facebook oder YouTube nur mit Meinungen beschäftigen, die unseren sehr ähnlich sind, entstehen die viel diskutierten Filterblasen. Die Folge ist eine Spirale nach unten: Mangelnder Dialog erzeugt Unverständnis, Unverständnis erzeugt Härte, Härte vergiftet das politische Klima.

Es geht also um die Situation in den USA, die Tatsache, dass nun einer wie Trump Präsident ist, dass Bürger des Landes gerade ihm ihre Stimme gegeben haben. Es geht um den Brexit, dem, wie könnte es anders sein, von vielen Vertretern der großen Medien nur mit Unverständnis begegnet wird.

Politische Lager, so heißt es, reden viel mehr übereinander als miteinander. Man kann nun lange darüber diskutieren, ob „politische Lager“ jemals mehr übereinander als miteinander geredet haben. Aber geschenkt. Die Aussage im nächsten Satz berührt den Kern, worum es bei dem Projekt „Deutschland spricht“ geht: Die „viel diskutierten“ Filterblasen rücken in den Vordergrund. Wenn an dieser Stelle wieder das „wir“ gebraucht wird und es heißt, dass „wir uns am Arbeitsplatz, in unserem Wohnviertel und auf Plattformen wie Facebook oder YouTube nur mit Meinungen beschäftigen, die unseren sehr ähnlich sind“, dann darf man sicher sein: Mit „wir“ und „uns am Arbeitsplatz“ dürfte die Redaktion kaum sich selbst meinen. Hier wird auf eine ziemlich hinterhältige Weise eine nicht vorhandene Einheit zwischen Sprecher und Adressat vorgegeben. Das ist, so muss man es sehen, Manipulation in Reinform.

Für die Annahme, dass hier nicht ehrlich über die eigene Filterblase (die man aber bei den Adressaten zu erkennen glaubt) nachgedacht wird, spricht die abgelieferte Berichterstattung, von und in diesen Medien. An ihr lässt sich genau ablesen, wie groß die Bereitschaft von Redaktionen ist, möglichst vielen unterschiedlichen Ansichten und Analysen Raum zu geben.

Um es zuzuspitzen: Man stelle sich nur einmal vor, wie Zeit-Herausgeber Josef Joffe reagieren würde, wenn ein Mathias Bröckers an prominenter Stelle im Blatt einen Beitrag zum Ende der „Giftgas-Wochen bei McMedien“ schreibe wollte. Wie auf Knopfdruck würde sich ein Wasserfall an Abwehrstrategien seinen Weg bahnen. Wem dieses Beispiel zu „extrem“ ist, möge nur daran denken, mit welchen Hürden die Grünen-Politikerin Antje Vollmer, Günter Verheugen (SPD), Edmund Stoiber (CSU), Horst Teltschik (CDU) und Helmut Schäfer (FDP) zu kämpfen hatten, als sie einen Appell zum Konflikt zwischen Russland und dem Westen unterbringen wollten.

Von daher: Bevor Medien das Projekt „Deutschland spricht“ umsetzen, sollten sie zuerst das Projekt „Medien raus aus der Filterblase“ angehen.