Chemnitz ist überall

Lutz Hausstein
Ein Artikel von Lutz Hausstein

Nach den Demonstrationen mit fremdenfeindlichen Parolen ist der Name „Chemnitz“ zum Synonym für massive rechtsradikale Entwicklungen, insbesondere in Ostdeutschland, geworden. Während sich die nachfolgenden Diskussionen um Maaßen und Co. immer weiter vom eigentlichen Thema entfernten, blieb die vielleicht wichtigste Frage völlig unbeantwortet. Waren das alles Rechtsextreme, die in Chemnitz demonstrierten? Und falls „Nein“, wo liegen die Gründe dafür, dass Menschen aus der vielgerühmten „Mitte der Gesellschaft“ den Schulterschluss mit harten Rechten inzwischen nicht mehr scheuen? Fragen, die in der ausufernden Debatte völlig ausgeklammert wurden, da sie der Politik und den Medien unangenehme Antworten liefern könnten. Von Lutz Hausstein[*].

Alles Nazis außer Mutti?

Zuerst einmal geht es um das Verständnis, dass eine keineswegs rechtsextreme Bürgerschaft unter den Demonstrationsteilnehmern sich einer Minderzahl von Neonazis, Rechtsextremen und Rassisten angeschlossen hat – möglicherweise auch andersherum diese den Bürgern – ohne dabei deren Menschenfeindlichkeit wahrzunehmen bzw. diese ignoriert oder zumindest, sie den eigenen Zielen unterordnend, billigend als kleineres Übel in Kauf nimmt. Man kann diesen Schulterschluss „normaler Bürger“ mit Rechten – in aller Ruhe und im Nachhinein betrachtet, aber auch nicht gänzlich zu Unrecht – als unverantwortlich, historisch vergleichbare Entwicklungen in der Weimarer Republik missachtend und als Wasser auf rechte Mühlen kritisieren. Dennoch sollte man sich davor hüten, alle Teilnehmer dieser Demonstrationen mit dem Etikett „Neonazis“ und „Rassisten“ zu versehen. In ihnen äußert sich vornehmlich die Wut und ihre Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Umständen und den politischen Eliten, die diese Zustände herbeigeführt haben.

Zweifellos gibt es in der Bevölkerung einen mehr oder minder konstanten Anteil von Menschen, die eine traditionell hart rechte bis rechtsextreme Weltanschauung pflegen. Dieser beträgt um die zehn Prozent, wie der Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann betont. Diejenigen, die darüber hinaus ins rechte Wählerlager abwandern, sind jedoch allzu häufig enttäuschte und frustrierte ehemalige SPD- und CDU-Wähler. Deren Frustration gilt der in den letzten Jahren umgesetzten Politik und den diese exekutierenden Parteien. Hatten diese doch nicht nur ihre legitimen Interessen jahrelang ignoriert, sondern auch den anschließenden Rückzug eines Teils ihrer traditionellen Wählerschaft mit einem gelangweilten Schulterzucken quittiert.

Dass sich dieser Frust nun gegen Flüchtlinge und andere Zuwanderer als einfach auszumachende Sündenböcke richtet, hat seine Ursachen vor allem darin, dass sich die eigentlichen Gründe ihrer Wut allzu häufig hinter nur schwer greifbaren Institutionen mit diffusen Zuständigkeiten in einem verzweigten, kaum zu durchschauenden Regel- und Gesetzeswerk verstecken. Offenkundig Verantwortliche sind dort nur schwer auszumachen und selbst wenn, dann entziehen sie sich regelmäßig einer kritischen Auseinandersetzung über ihre Entscheidungen und schweben in anderen, „Normalsterblichen“ unerreichbaren Sphären. Noch häufiger und nicht minder beliebt werden die Ursachen hinter dem vermeintlich neutralen, anonymen „Markt“ vollständig versteckt, der quasi als Naturgesetz dargestellt wird und welcher „unabänderliche“ und „gerechte“ Ergebnisse erbringen würde. Hinter diesem Markt werden die verantwortlich Handelnden komplett unsichtbar gemacht.

Die „Fremdländischen“ hingegen sind konkret, an jedem Ort mehr oder minder stark vertreten und – dieser Fakt darf gleichfalls nicht unter den Tisch fallen – ein Teil von ihnen begeht Straftaten, so wie übrigens jeder Teil einer bestimmten sozialen Gruppe. Das ist kein besonderes Kennzeichen von Flüchtlingen oder generell Zuwanderern. So bieten sie den willkommenen Anlass für fremdenfeindliche Parolen aus dem rechtsextremen Milieu, welches dies genüsslich öffentlichkeitswirksam ausschlachtet und die Verantwortlichkeit der Politik dafür besonders stark akzentuiert. Der auf den einfachen Slogan „Merkel muss weg!“ heruntergebrochenen Forderung vermag sich auch der frustrierte „normale Bürger“ anzuschließen, der dies jedoch aus völlig anderen Beweggründen tut. Dieses Schema ließ sich auch schon bei den unterschiedlichen Pegida-Bewegungen der vergangenen Jahre beobachten und findet auch in der aktuellen Stärke der AfD seinen Niederschlag.

Wertschätzungsdefizite und Entsicherung des Lebens als Katalysatoren des Rechtsrucks

Doch wo liegen nun die Ursachen dafür, dass Teile der normalen Bürger solch eine enorme Wut haben, die sie nicht einmal mehr vor der Annäherung an früher noch verfemte Rechtsextreme zurückschrecken lässt? Der Soziologe und Konfliktforscher Prof. Wilhelm Heitmeyer hat regelmäßig nicht nur in seinen zehnjährigen Langzeit-Studien „Deutsche Zustände“ darauf hingewiesen, dass neben weiteren Aspekten vor allem die Themen persönliche Anerkennung sowie die Entsicherung der gesellschaftlich-sozialen Lage der Betreffenden entscheidende Auslöser und Katalysatoren gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind. Einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die neben Obdachlosen, Homosexuellen, Behinderten, Arbeitslosen, Sinti und Roma sowie Angehörigen religiöser Gruppen wie Juden oder Muslimen auch Flüchtlingen und Zugewanderten entgegenschlägt. Diesen wird dann häufig mit Vorurteilen, Abwertung und Ablehnung begegnet. Während also ein Teil der Bürger mit fehlender Anerkennung und/oder dem zunehmenden Verlust ihrer Zukunftssicherheit konfrontiert ist, sucht er über den Weg der Abwertung Anderer seinen Wert und seine Anerkennung zu erhalten.

Die mangelnde Wertschätzung wie auch die fehlende Sicherheit der Lebensverhältnisse bestimmen seit Jahren den Alltag eines Teils unserer Bevölkerung. Jens Berger verwies in seinem Artikel kurz nach den Chemnitzer Ereignissen darauf, dass die Wut der Menschen sich über Jahre hinweg aus den von ihnen erlebten gesellschaftlichen Missständen gespeist und aufgestaut hat, die sich nun in diesen Kreisen immer stärker Bahn bricht. Eine Erkenntnis, die in den reichweitenstarken klassischen Nachrichtenformaten fast nie zur Sprache kommt. Die Palette der Ungerechtigkeiten reicht hierbei von den Agenda-Reformen, der „Mutter des neoliberalen Umbaus“ unserer Gesellschaft, mit ihren dystopischen Auswirkungen vom untersten Rand der Gesellschaft bis tief hinein in deren Mitte, von kaum das reine Über-Leben absichernden Grundsicherungsleistungen bis hin zu den Sanktionsmöglichkeiten, mit denen das lebensnotwendige Existenzminimum grundgesetzwidrig unterschritten wird. Von unzureichenden, prekären Arbeitsverhältnissen bis hin zu Leiharbeit und (unfreiwilliger) Teilzeitarbeit, die den Lebensunterhalt nicht sichern. Langzeitarbeitslose, denen die Demütigung widerfährt, nach einer gewissen Zeit ohne Arbeit von den JobCentern ihre erlangte fachliche Qualifikation – Facharbeitern ebenso wie Akademikern – abgesprochen zu bekommen und dann als ungelernt eingestuft zu werden.

Sie reicht von den „Rentenreformen“, die heutige wie zukünftige Rentenempfänger immer zahlreicher in die Altersarmut führen wird, über Privatisierungen im Krankenhaus- und Pflegebereich, wodurch eine patientengerechte Versorgung ebenso wie ausreichendes Personal ausschließlich als Rendite-Risiko für die privaten Betreiber gelten und Patienten wie Mitarbeiter dementsprechend behandelt werden. Während Schuldenbremsen und Schwarze Nullen die dringend notwendigen Investitionen in verfallende Infrastruktur wie z.B. Schulen verhindern, schützen im stillen Kämmerlein unterzeichnete Freihandelsabkommen die Gewinninteressen von Konzernen gegen legitime Interessen der Bevölkerungen. Ergo: eine Politik gegen die Belange des großen Teils der Bevölkerung.

Auf der anderen Seite ist die Politik trotz allen Jammerns über klamme Kassen sofort zur Stelle, um Banken mit Milliardenbeträgen zu retten, auf Einnahmen durch eine angemessene Erbschaftssteuer bei milliardenschweren Übertragungen zu verzichten und auch sonst die Besitzer obszön hohen Vermögens so wenig wie nur möglich an gesellschaftlich notwendigen Aufgaben zu beteiligen. Und auch hier: eine Politik im Interesse nur überschaubar weniger Reicher, zuungunsten der breiten Masse der Bürger. Analysiert man die aufgeführten Situationen, so muss man feststellen, dass sie eine mangelnde Anerkennung der Leistungen oder gar Lebensleistungen der Betreffenden zum Ausdruck bringen, Angst und Unsicherheit vor ihrer Zukunft erzeugen bzw. häufig beides gleichzeitig hervorrufen. So bleibt festzuhalten, dass Heitmeyers Analyse hervorragend geeignet ist, die Entstehung und Verbreitung einer virulenten Wut auf die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Protagonisten zu erklären.

Demokratische Partizipation läuft ins Leere

Dies wird noch dadurch verstärkt, indem alle Versuche aus der Bevölkerung, auf diese Zustände öffentlich hinzuweisen und sie auf demokratischem Wege zu verändern, seitens der politischen Entscheidungsträger fortlaufend ignoriert wurden und werden. Die Einführung der Hartz-Reformen wurde von monatelangen machtvollen Demonstrationen mit mehreren hunderttausend – ja, richtig gelesen – mehreren hunderttausenden wütenden Bürgern begleitet. Selbst heute noch finden mancherorts allwöchentlich Montagsdemonstrationen statt, wie z.B. in Bremen. All dies focht jedoch zu keiner Zeit die verantwortlichen Politiker an. Ohne Zögern wurde die Politik der Verarmung und Entsicherung des Alltags des ärmsten Teils der Bevölkerung fortgesetzt, wie ich in einem Artikel vor zwei Jahren schon festhielt.

Ebenso wenig wie der Widerstand in der Bevölkerung gegen den grundgesetzwidrigen Sanktionsparagraphen, der beharrlich aufrechterhalten wird, die Politik endlich zu einem Richtungswechsel bewegen konnte. Machtvolle Demonstrationen und vielfach unterzeichnete Petitionen gegen TTIP und all die anderen, aus dem Hut gezauberten Freihandelsabkommen? Kein Problem – dann wird halt eine Fußnote geändert und das ansonsten gleiche Konstrukt in Hinterzimmern und unter Ausschluss der Öffentlichkeit dennoch durchgesetzt. Während die Opfer im Autoabgas-Skandal die Kosten in Form von erheblichen Wertverlusten tragen müssen und von Fahrverboten bedroht sind, unternimmt die Politik alles, um die eigentlich Schuldigen, die betrügende Autoindustrie, mit wachsweichen Maßnahmen vor einschneidenden Schadensersatzforderungen zu bewahren. Einerseits die Verkündung wohlfeiler Umweltschutzziele, andererseits die gewaltsame Räumung des Hambacher Forstes im Geschäftsinteresse eines Energiekonzerns – trotz dass drei Viertel der Deutschen dagegen sind. Permanent bekommen die Menschen zu spüren, dass ihre Interessen wenig bedeuten und dass selbst massiver Widerstand von ihnen ungehört, vor allem aber wirkungslos verhallt. Eine Demokratie unter Ausschluss von demokratischen Grundsätzen.

Ostdeutschland: Zwei Wellen der Demütigung und Entsicherung in 25 Jahren

Es gibt also sehr wohl Ursachen und Gründe, weshalb die Bevölkerung in Deutschland wütend auf die politischen Vertreter ist und diese Wut immer heftiger zum Vorschein kommt. Dies gilt allerdings für den Westen Deutschlands ebenso wie für den Osten. Doch warum nun ausgerechnet Chemnitz und Köthen? Warum Dresden, Cottbus, Heidenau und Freital? Oder richtiger: Warum ausgerechnet Ostdeutschland?

Es ist das zweite Mal, dass die Ostdeutschen diese Gefühle der Herabwürdigung und der Entsicherung ihrer persönlichen Lebensverhältnisse, am eigenen Leib oder in ihrer unmittelbaren Umgebung, miterleben müssen. Denn in den Jahren nach der Deutschen Einheit wurde nicht nur ihr gesamtes Leben vollständig auf den Kopf gestellt, sondern sie wurden auf Schritt und Tritt mit für sie demütigenden Erfahrungen konfrontiert. Schon der Umsturz so gut wie sämtlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen kam einer Schocktherapie gleich. Quasi von heute auf morgen waren die Ostdeutschen einem völlig veränderten juristischen, institutionellen, organisatorischen System unterworfen, das alle Lebensbereiche regelrecht umkrempelte. Was gestern noch galt, war heute falsch oder das gab es schon gar nicht mehr. Zur Demonstration möchte ich hierbei an späterer Stelle punktuell auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen, da sie sehr hautnah beschreiben können, welche vielfältigen und umfassenden Veränderungen in das Leben der Ostdeutschen eingriffen. Die Gegebenheiten waren ostdeutschlandweit sehr ähnlich oder gar gleich, nur die konkreten Subjekte variierten.

Die gravierendsten Umwälzungen hat die ostdeutsche Bevölkerung sicherlich in Bezug auf ihr Erwerbsarbeitsleben durchlebt. Und auch hier ging es weit darüber hinaus, dass ein Arbeitsplatz in der nun neuen Gesellschaftsordnung für die meisten Menschen die einzig mögliche Quelle zur finanziellen Lebenssicherung darstellte und damit zum Kriterium für eine (mehr oder minder) gesicherte oder eben unsichere Zukunft wurde. Denn der radikale Umsturz der Arbeitswelt in Ostdeutschland mündete allzu häufig nicht nur in Brüchen des eigenen Arbeitslebens, sondern vielmehr in brutalen, häufig auch irreversiblen Verwerfungen, die nie wieder ein Anknüpfen an vorherige Qualifikationen und Tätigkeiten zuließen. Hochqualifizierte Facharbeiter mussten sich fortan als fachfremde Hilfsarbeiter, ABM-Beschäftigte oder Arbeitslose mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen. Auch Akademikern erging es da kaum anders. Wie stark der Umbruch war und dass dieser mit keiner auch noch so großen der üblichen Strukturveränderungen verglichen werden kann, dürften schon die reinen Zahlen verdeutlichen: Von 9,8 Millionen Industrie-Arbeitsplätzen sind binnen kürzester Zeit 7,3 Millionen verschwunden, also rund drei Viertel. Dass dabei große Teile der DDR-Wirtschaft mit z.T. kriminellen Methoden ausgemerzt wurden und den Menschen so ihre Zukunft genommen wurde, zeichnet die Reportage „Beutezug Ost“ eindrucksvoll nach. Dies steigerte die Wut darüber verständlicherweise noch weiter.

So hatten die Ostdeutschen nicht nur mit der Entsicherung ihrer Zukunft zu kämpfen, sondern sie erlitten darüber hinaus auch schwere Demütigungen bezüglich ihres bisherigen Lebens, ihrer Erfolge, ihrer erreichten Qualifikationen. Statt der versprochenen Kohlschen blühenden Landschaften gab es eine Vielzahl von Brachen und Ruinen im persönlichen Umfeld. Auch wenn nun viele Straßen, vornehmlich die Autobahnen, wiederhergerichtet und die Innenstädte in neuen Glanz getaucht wurden – an den Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Menschen änderte dies ja nicht das Geringste. Im Gegenteil. Gerade ländliche Gebiete verödeten zusehends. Konsum-Verkaufsstellen vor Ort wurden en masse geschlossen – die 40 km entfernten, neuentstandenen Konsumtempel der Einkaufszentren waren hingegen nur noch mit dem Auto zu erreichen. Kneipen, Gaststätten und Jugendclubs verschwanden. Die Verkehrsinfrastruktur wurde immer stärker ausgedünnt – Buslinien wurden nur noch einige wenige Male am Tag bedient, Eisenbahnstrecken wurden ganz stillgelegt. Kreisgebietsreformen wurden mit dem Ziel der Kostensenkung herbeigeführt und schufen neue, erheblich größere Kreise, die das Erreichen von Kreisämtern, Polizeistellen, Schulen und Krankenhäusern zu einer Mammutaufgabe von mehreren Stunden werden ließen. Anstatt all dies jedoch zu realisieren, wurde landauf landab der herabwürdigende Begriff des „Jammer-Ossis“ geprägt und die Ostdeutschen, neben ihren realiter erlittenen Demütigungen, nun auch in der öffentlichen Meinungsbildung herabgewürdigt. Stattdessen wurde gern darauf verwiesen, dass mit der Einführung des grünen Abbiege-Pfeiles im Westen nun dort ebenfalls Bahnbrechendes geleistet wurde und man damit an der Grenze des Zumutbaren angekommen sei.

Wie auch schon in den beiden Artikeln aus dem Jahr 2015 hier und hier zu den Vorgängen der Leipziger Montagsdemonstrationen beschrieben, habe ich mein Studium in Leipzig absolviert. Meine Hochschule existiert in dieser Form heute nicht mehr, ich gehörte dem drittletzten Jahrgang an, der dort noch studiert hatte. Die Hochschule wurde – wie es damals an vielen Ecken und Kanten Ostdeutschlands gang und gäbe war – „abgewickelt“, also aufgelöst. Kurz darauf wurde sie unter ihrem alten Namen, nun aber als private Hochschule neu gegründet. Vom wissenschaftlichen sowie nichtwissenschaftlichen Personal hat so gut wie niemand den Übergang an die neue Hochschule geschafft. Die Absolventen eines älteren Jahrgangs meiner Hochschule erhielten gar nur eine Art Fachhochschulabschluss mit der Begründung, dass sie überwiegende Teile ihres Studiums unter DDR-Bedingungen absolviert hätten und deshalb ein Hochschuldiplom nicht gerechtfertigt wäre. So beraubte man Menschen ihrer erworbenen Qualifikationen und schmälerte damit gleichzeitig ihre zukünftigen Jobchancen. (Vergleichbares gab es im Übrigen auch für einen Teil derjenigen, die schon einen Hochschul- oder aber auch Facharbeiter-Abschluss hatten und im Berufsleben standen. Deren Abschlüsse wurden in bestimmten Fällen in geringerwertige Qualifikationen umgewandelt, auch zum Teil mit der Begründung, dass es diese Abschlüsse in der alten Bundesrepublik so nicht gäbe.) Andere Hochschulen traf es noch viel heftiger. Die DHfK Leipzig, eine Sporthochschule mit einem enormen Renommee, welche auch international erfolgreiche Trainer ausgebildet hatte, wurde 1990/91 mit der Begründung abgewickelt, dass sie im Mittelpunkt des staatlichen Dopingsystems gestanden habe. Über diesen durchaus diskussionswürdigen Punkt hinaus existieren jedoch auch nicht von der Hand zu weisende Gerüchte, dass eine politische Einflussnahme zugunsten der Abwicklung bestand, um die Sporthochschule Köln als dann einzige Sporthochschule in ganz Deutschland zu etablieren.

Auch sonst änderte sich die personelle Zusammensetzung sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche ab 1990, teils gar noch vor dem offiziellen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, radikal. Dies war sicherlich in einem gewissen Maße ebenso berechtigt wie notwendig. Was dann jedoch erfolgte, war mehr oder minder ein Austausch der ostdeutschen Nomenklatura durch westdeutsches Personal, häufig aus der dortigen zweiten Reihe. So waren es zum einen die Wirtschaftsunternehmen aus dem Westen, die in ihren neuentstandenen Zweigniederlassungen und Filialen die direkten Leitungspositionen mit Westimporten versahen und auch das nachgeordnete Führungs- und Verwaltungspersonal – sofern überhaupt vor Ort vorhanden – zum nicht geringen Teil aus der alten Bundesrepublik rekrutierten. Auch den übernommenen und aufgekauften Firmen aus der alten DDR standen bald westdeutsche Geschäftsführer vor, die kurz darauf mit Rationalisierungsmaßnahmen, i.S.v. massenhaften Entlassungen, begannen. Bisherige Mitarbeiter oder gar Führungskräfte, aber auch ostdeutsche Berufsanfänger hatten im allerbesten Fall die Möglichkeit, in nachgeordneten Bereichen einen Arbeitsplatz zu erhalten oder mussten gar, sofern es ihre Lebensverhältnisse zuließen, ihre Heimat zur Arbeitssuche verlassen.

Doch nicht nur in der Privatwirtschaft fand solch ein radikaler Austausch des Führungspersonals statt. Gleiches wurde im öffentlichen Verwaltungssystem praktiziert. Auch hier wurde die oberste Führungsebene, wenngleich auch nicht so radikal wie in der privaten Wirtschaft, mit überwiegend Westdeutschen besetzt. Das reichte dann von den Ministerpräsidenten der neugegründeten Bundesländer in den frühen neunziger Jahren wie Kurt Biedenkopf, Werner Münch und Bernhard Vogel über verschiedene Oberbürgermeister zumeist großer ostdeutscher Städte wie beispielsweise Chemnitz, Leipzig, Halle oder Rostock bis hin zu leitenden Beamten, Verwaltungsleitern oder Direktoren kommunaler Einrichtungen. Diese führten in ihrem Tross eine Anzahl, zumeist auch jüngerer, Mitarbeiter mit sich, die gleichfalls mit Posten versorgt wurden, sodass auf Jahre hinaus, und oft noch bis heute, die Vorherrschaft Westdeutscher unverrückbar war, was gleichzeitig den Aufstieg Ostdeutscher verhinderte. Grundlage dafür waren häufig die „Länderprogramme für den Verwaltungsaufbau in den neuen Ländern“ wie auch die vermehrt in den achtziger Jahren geschlossenen Städtepartnerschaften zwischen ost- und westdeutschen Städten. Dass hierbei den Beamten in den Anfangsjahren, aber auch noch in Fällen Mitte der 2000-er Jahre, Sonderzahlungen zuteilwurden, sorgte, zusätzlich zu der herabwürdigenden umgangssprachlichen Bezeichnung als „Buschzulage“, für Frustration und ein tiefes Ungerechtigkeitsgefühl bei vielen Ostdeutschen, welche zum gleichen Zeitpunkt das exakte Gegenteil am eigenen Leib durchleben mussten: Arbeitslosigkeit, Existenzängste und mangelnde Wertschätzung.

So existiert, nur als ein Beispiel, seit 1987 zwischen Leipzig und Hannover eine Städtepartnerschaft. Diese legte die Basis dafür, dass der ehemalige Stadtdirektor von Hannover, Hinrich Lehmann-Grube, 1990 zum neuen Oberbürgermeister Leipzigs gewählt wurde. Darüber hinaus wurden noch weitere Stellen mit Personal aus Hannover besetzt. Auch wenn dies nicht per se kritikwürdig ist, so muss jedoch festgehalten werden, dass mit dieser nur einseitigen Personalverschiebung von West nach Ost so die Zukunftsperspektiven der Ostdeutschen nicht nur eingeschränkt, sondern dadurch auch stark entsichert sowie eine Abwertung ihrer bisherigen Leistungen vorgenommen wurden. Und ohne dass diese erste Welle der Verunsicherung und Entwürdigung jemals deutlich abgeebbt wäre, erst recht nicht nachhaltig, stürzte mit der rot-grünen Reformpolitik der 2000-er Jahre eine zweite verheerende Welle über sie herein, die ihre Zukunft noch weiter entsicherte und ihnen neue Demütigungen zufügte.

Integriert doch erst mal uns!

All diese Demütigungen ebenso wie die beständig nie enden wollende Entsicherung ihrer Lebensverhältnisse stauten sich über die Jahre immer stärker an. Währenddessen erklärten ihnen Politiker und die diese widerkäuenden Medien allerdings in dauerhafter Penetranz immer und immer wieder, dass es „uns gut geht“. Somit konnte jeder, der seine eigene Situation anders wahrnahm, entweder nur selbst daran schuld sein oder es stimmte etwas mit seiner Wahrnehmung nicht, er „fühlt sich nur abgehängt“. Diese andauernde Ignoranz und die persönliche Schuldzuweisung an den Einzelnen machten immer mehr Menschen wütend. Ihre Versuche, sich öffentlich Gehör zu verschaffen, verpufften im Nichts. Als selbst ihr letzter, verzweifelter Versuch einer demokratischen Einflussnahme – ihre Entscheidung, keine der sie ignorierenden Parteien mehr zu wählen – gleichfalls an einer Wand der Gleichgültigkeit zerschellte, steigerte sich ihre Wut in ohnmächtige Wut und begann, langsam unkontrolliert um sich zu schlagen.

In dieser hoch geladenen Situation traf diese ohnmächtige Wut mit der relativ neuen rechten Partei AfD, die diffus zwischen Euro-Kritik und schon erkennbar national-chauvinistischen Parolen umherwaberte und die massiv die bisherigen, etablierten Parteien angriff, sowie mit den aufkeimenden Pegida-Demonstrationen, welche schon 2014, also vor Beginn der Flüchtlingskrise, ihren Anfang hatten, zusammen. Der bei beiden besonders intensiv geäußerten Parole „Merkel muss weg!“ sowie der grundlegenden Kritik an den etablierten Parteien vermochten die wütenden Bürger sich bedenkenlos anzuschließen. Dass sie darüber hinaus auch mehr als nur zweifelhaften Losungen hinterherliefen, war ihnen in ihrer ohnmächtigen Wut inzwischen egal oder sie blendeten es, bewusst oder unbewusst, aus. Denn sie bemerkten, dass es ihnen nur so gelang, überhaupt noch Aufmerksamkeit und eine Reaktion auf ihre Wut hervorzurufen. So nahmen sie dann auch zur Beruhigung ihres eigenen Gewissens dankbar jede Halb- oder Unwahrheit auf, die ihnen in Bezug auf Flüchtlinge aus dem rechtsradikalen Milieu unterbreitet wurde, welches ja nicht unerheblich auf fremdenfeindliche Stimmungsmache zielt.

Währenddessen also seit Jahren und Jahrzehnten die Politik kein Geld für die normale Bevölkerung zu haben vorgibt – siehe Rentenpolitik, Sozialleistungen, marode Infrastruktur, Personalabbau bei Verwaltungen, Polizei, Gesundheits- und Pflegewesen – würde dies kein Problem darstellen, so deren Darlegungen, wenn es um Flüchtlinge geht. Und hier ergibt sich ein maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die fremdenfeindlichen Argumentationen vonseiten Rechter zu den konkreten Nöten der Menschen. Dabei wird immer wieder der Vorwurf laut, dass Zuwanderer eine andere, eine bessere Behandlung erfahren würden als die einheimische Bevölkerung. Oder wie ein berüchtigter Satz regelmäßig, so oder so ähnlich, zu hören ist: „Die [Flüchtlinge, L. H.] bekommen Zucker in den Arsch geblasen.“ Auch wenn eine Besserstellung von Zuwanderern gegenüber Einheimischen den Fakten widerspricht, so ist jedoch eine tiefe Unzufriedenheit über die eigene Situation und die ihnen entgegengebrachte Wertschätzung bei denjenigen, die einen solchen Satz aussprechen, unverkennbar. Nicht von ungefähr lautet der Titel eines aktuellen Buches der sächsischen Integrationsministerin, Petra Köpping (SPD): „Integriert doch erst mal uns!“. Es ist eines der seltenen Male, in denen ein(e) Politiker(in) ernsthaft den Menschen zuhört, ihre Problemlagen, ihre viel beschworenen Sorgen und Nöte ernstnimmt und diese reflektiert. Köpping greift die vielen Demütigungen auf, beschreibt die vielfältigen, immer neuen Versuche der Ostdeutschen in den langen Jahren nach der Deutschen Einheit, ihren Platz in dieser Gesellschaft zu finden, neue Sicherheit in ihre Zukunft zu gewinnen und Anerkennung zu erfahren. Stattdessen ernteten sie jedoch häufig Geringschätzung, Ablehnung und Vorhaltungen. Wer solcherart selbst nur rudimentär Integration erfahren hat, der tut sich nun seinerseits schwerer damit, Andere aktiv bei deren Integration zu unterstützen.

Es sollte also klar geworden sein, dass die Rechts-Entwicklung keineswegs ein ostdeutsches, erst recht nicht ein sächsisches Phänomen ist. Diese Entwicklungen sind nicht entstanden, weil die sächsischen Männer aufgrund des Wegzuges eines nicht unerheblichen Teils von Frauen schlicht nur „untervögelt“ sind und erst recht sind sie kein Erbe der DDR-Vergangenheit, wie immer wieder gern unterstellt wird. Stattdessen stellen sie ein Produkt der politischen Entscheidungen dar – der älteren und jüngeren Vergangenheit ebenso wie der Gegenwart. Im Osten wie im Westen. Einer Politik, die gegen die elementaren Interessen einer Vielzahl der Bürger gerichtet ist, die das hohe Gut der Zukunftssicherheit dieser Menschen geschleift hat und die ihnen beständig neue Demütigungen zufügt, um noch einmal explizit die Erklärungen Wilhelm Heitmeyers herauszustreichen. Während die Politik selbst nur Demokratie simuliert, Kritik und Änderungsbekundungen ins Leere laufen lässt und in ihrem Umgang mit den Bürgern nur ihre Verachtung zum Ausdruck bringt.

Soll vermieden werden, dass Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte dauerhaft den Kontakt zu den rechtsextremen Einpeitschern nicht mehr scheuen, weil sie sich von allen verraten und verkauft fühlen, dann ist ein energisches Herumreißen des Ruders absolut zwingend. Keine billigen politischen Floskeln, kein Machiavellismus neuzeitlicher Prägung, keine „Wir-müssen-den-Menschen-nur-unsere-Politik-besser-erklären“-Rhetorik. Eine bessere Politik ist nötig. Die die Sicherung der Zukunft ihrer Bürger wieder ernstnimmt und jedem Einzelnen die ihm gebührende Achtung entgegenbringt. Keine Fassadendemokratie, sondern wahrhaftige Demokratie. Politik für die Menschen. Für die Vielen, nicht die Wenigen. Denn schließlich ist Chemnitz überall.


[«*] Lutz Hausstein, Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. Seit der Einführung der Agenda 2010 beteiligt er sich aktiv am Kampf gegen Armut, Ungleichheit und für soziale Gerechtigkeit. In seinen 2010, 2011 und 2015 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen (2012), Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“ (2012) sowie Mitautor des NGfP-Sammelbandes „Gesellschaftliche Spaltungen“ (2018).