Die Amadeu Antonio Stiftung unterstellt den NachDenkSeiten Antisemitismus. Das ist absurd, das ist infam. Genau so absurd und infam sind dabei die Mittel, derer die beiden verantwortlichen Autoren sich bedienen. Man instrumentalisiert den schweren Vorwurf des Antisemitismus, um sich Deutungshoheit für bestimmte Debatten zu verschaffen. Dabei stellt sich die Frage, ob am Ende des Tages die kalkulierte und vorsätzlich in Kauf genommene Relativierung des Antisemitismus durch die Amadeu Antonio Stiftung dem echten Antisemitismus nicht sogar Vorschub leistet. Denn wenn der Antisemitismusvorwurf zur Willkür wird, nutzt dies vor allem den Antisemiten. Von Jens Berger.
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Ich gebe zu, es fiel mir schwer, mich durch das lange Traktat des Psychologen Tom David Uhlig und des Politologen Volker C. Koehnen zu arbeiten. Das liegt vor allem daran, dass es den beiden Autoren im Kern ja darum geht, die These eines „neoliberalismuskritischen Antisemitismus“ aufzustellen, den sie bei den NachDenkSeiten verorten. Dabei gehen sie jedoch über linguistische Fragen hinaus und begeben sich tief in das komplexe Feld der Wirtschaftswissenschaften. Das ist legitim. Ein wenig skurril ist es jedoch, wenn ein Psychologe und ein Politologe sich berufen fühlen, Volkwirten Nachhilfe in volkswirtschaftlichen Fragen geben zu wollen und dann auch noch unsere angeblich „verkürzte Kapitalismus- und Neoliberalismuskritik“ zum Kern einer nicht immer einfach zu folgenden Beweiskette zu machen, an derem Ende der große Antisemitismusvorwurf steht.
Im Kern kreiden uns die beiden Hobby-Ökonomen an, dass wir angeblich keine „strukturellen kapitalistischen Dynamiken“ kritisieren – wie „den Verwertungszwang“, die „Profitlogik“ oder das „krisenanfällige System der Lohnarbeit“. Ich gebe zu, dass ich mit derlei Begriffen meine Probleme habe, da sie in meinen Augen Gegenstand einer sehr abstrakten, theoretischen Debatte sind, die – wenn überhaupt – nur sehr wenig mit unserer Lebenswirklichkeit zu tun hat. Und schon bin ich die Falle getappt, denn laut Amadeu Antonio Stiftung wären diese Bedenken „antiintellektualistisch“ und „arbeitsfetischistisch“. Und da ich offenbar zu dumm bin, diese beiden Begriffe zu verstehen, wird der Vorwurf des mangelnden Intellekts sicher zutreffen. Es tut mir ja leid, dass ich für den Gelehrtenstreit im Elfenbeinturm nur wenig Begeisterung aufbringen kann.
Aber zurück zum Thema. Der Antisemitismusvorwurf, den Uhlig und Koehnen, ja auch an mich ganz persönlich richten, fußt auf dem „Vorwurf“, kritisch über bestimmte Akteure des Finanzsystems zu schreiben, die dann mit „Globalität“, „Raffgier“, „Tiermetaphern“ und „fädenziehenden, fernen Eliten“ in Verbindung gebracht werden. Dies gehöre schließlich „seit jeher zum Instrumentenkoffer des modernen Antisemitismus“. Das ist schon starker Tobak. Wie soll man als Autor denn beispielsweise die nachweislich kriminellen Aktionen von Investmentbanken wie Goldman Sachs sonst beschreiben? Goldman Sachs ist nun einmal ein global agierendes Unternehmen und keine Kreissparkasse. Die Investmentbanker sind tatsächlich raffgierig, ziehen im Finanzsektor die Fäden und sitzen leider auch vornehmlich in New York. Ich kann doch Goldman Sachs nicht deshalb nicht kritisieren, weil auch Antisemiten ihre Bösewichte in der Wall Street verorten und Juden als raffgierig darstellen. Dies hieße in letzter Konsequenz, dass man Raffgier überhaupt nicht mehr kritisieren darf, da dies ja ein bekanntes antisemitisches Bild sei. Verrückt.
Und wie sieht es mit den Tiermetaphern aus? War es nicht Bertolt Brecht, der den – von den Autoren kritisierten – armen Haifisch in der Moritat von Mackie Messer als Metapher zum Leben erweckte? Und war es nicht Helmut Schmidt, der die – ebenfalls von den Autoren kritisierte – Metapher vom Raubtierkapitalismus geprägt hat? Waren Brecht und Schmidt Antisemiten? Offenbar. Das gilt übrigens auch für Alfred Döblin, Joseph Roth und viele andere des Antisemitismus unverdächtige Literaten, die den von der Amadeu Antonio Stiftung kritisierten Begriff „Judaslohn“ in ihren Werken verwandten. Das Gleichnis von Judas, der Jesus für 30 Silberlinge verraten hat, mag zwar in der Tat von Antisemiten für ihre Zwecke missbraucht werden. Der Umkehrschluss, dass der Gebrauch dieses Gleichnisses auf strukturellen Antisemitismus schließen ließe, ist jedoch abstrus. Sonst müssten sich die Grünen-Politiker Sven Giegold , Manuel Sarrazin und Reinhard Bütikofer, die Linken-Politikerin Gesine Lötzsch und viele viele andere auch als Antisemiten verunglimpfen lassen. So weit würde die Amadeu Antonio Stiftung sicher nicht gehen. Warum also die NachDenkSeiten?
Es geht um die vorsätzliche Verunglimpfung kritischer Stimmen im linken Lager. Es geht um Denunziation und digitalen Rufmord, unter dem die NachDenkSeiten, ihr Herausgeber Albrecht Müller und seit längerer Zeit auch ich, zu leiden haben. So wurde ich unlängst von einem angefragten Referat bei der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg wieder ausgeladen, da einige Landespolitiker der Linkspartei wegen des „umstrittenen Rufs“ der NachDenkSeiten intervenierten. Das sind auch wirtschaftliche Einbußen; schlimmer wiegt jedoch die Hilfs- und Machtlosigkeit, mit der man derlei Attacken gegenübersteht. Aber genau dies ist ja auch die Motivation der Rufmörder. Da kann die Kritik noch so lächerlich und unbegründet sein – wenn der schwerwiegende Vorwurf des Antisemitismus erst einmal im Raum steht, ist der Ruf erst mal „umstritten“.
Wer dem Antisemitismusvorwurf derartiger Rufmörder entgehen will, muss sich an die ungeschriebenen Regeln halten und darf dann halt nicht mehr Akteure des Finanzsystems, Friedrich Merz oder gar mit „ständigen Schuldzuweisungen“ die Außen- und Sicherheitspolitik der USA und Israel kritisieren. Aber wer bestimmt eigentlich, welche Begriffe sprachpolizeilich erlaubt und welche Begriffe strukturell antisemitisch und damit verboten sind?
Laut Amadeu Antonio Stiftung sind es ja die „Anspielungen“, „Codewörter“ und „gängigen Bilder“, die „dort intuitiv und sofort verstanden werden, wo sie verstanden werden sollen“. Das heißt, man unterstellt mir, dass ich beispielsweise mit der Formulierung „[Friedrich Merz sei] das personifizierte trojanische Pferd der Wallstreet und der transatlantischen Netzwerke – eine politische Bordsteinschwalbe, die ihre Haut stets an den Meistbietenden verkauft“ eigentlich gar keine Kritik am Einfluss der Finanzwirtschaft und ihrer gut bezahlten Lobbyisten formulieren, sondern „zwischen den Zeilen“ mit „Anspielungen“, „Codewörtern“ und „gängigen Bildern“ Antisemitismus verbreiten will. Das ist grotesk, das ist skurril, das ist infam und – mit Verlaub – intellektuell nicht satisfaktionsfähig.
Wie müsste linke Kritik am Kapitalismus – Kritik am Neoliberalismus ist ja offenbar per definitionem antisemitisch – eigentlich aussehen, um das sprach- und gedankenpolizeiliche Unbedenklichkeitssiegel der Amadeu Antonio Stiftung zu bekommen? Eine Passage aus dem Text, in dem den NachDenkSeiten Antisemitismus unterstellt wird, gibt da zumindest eine Andeutung …
„War es in einigen Teilen der politischen Linken früher gar nicht unüblich, etwa die Arbeit an sich zu kritisieren […], fordert heute kaum jemand mehr deren Abschaffung. Es ist dann etwa von gerechten Löhnen oder Arbeit für alle die Rede, wobei doch die Produktionsmittel seit langem auf einem Niveau sind, die zumindest eine radikale Arbeitszeitverkürzung möglich machen würden. Die Arbeit aber wird fetischisiert und ihre ‚gerechte‘ Entlohnung zum antikapitalistischen Kampf verklärt …“
Hand auf Herz, liebe Leserinnen und Leser. Würden Sie die NachDenkSeiten lesen, wenn wir solchen Unsinn schreiben würden? Wenn wir „die Arbeit an sich“ kritisieren würden und „deren Abschaffung“ fordern? Wenn wir nicht mehr gerechte Löhne und eine gerechte Verteilung, sondern stattdessen „radikale Arbeitszeitverkürzungen“ fordern würden? Wohl kaum. Und dies soll nun „unverkürzte Kapitalismuskritik“ sein? Dann doch lieber verkürzt. Ernsthaft: Wenn solche unterkomplexen Phrasen die Vorgabe sind und jegliche ernsthafte Betrachtung der sozioökonomischen Schieflage latent immer Gefahr läuft, von verwirrten Jungakademikern, die von dubiosen Stiftungen durchgefüttert werden, als Antisemitismus beschimpft zu werden, dann sollte man sich um die Debattenkultur in diesem Lande ernsthafte Gedanken machen.
Besonders schwer wiegt jedoch noch ein anderer Punkt. In Äsops Fabel „Der Hirtenjunge und der Wolf“ – schon wieder so eine Tiermetapher – ruft ein Hirtenjunge so lange aus Langeweile „Wolf!“, bis die Dorfbewohner den Warnruf nicht mehr ernst nehmen und als der Wolf wirklich kommt, glaubt niemand mehr dem Hirtenjungen und der Wolf frisst die ganze Herde. Dies ist die wohl passende Metapher für die ständigen und immer absurder werdenden instrumentalisierten Antisemitismusvorwürfe. Wenn dieser Vorwurf aus Kalkül und Boshaftigkeit inflationär in immer groteskeren Attacken missbraucht wird, wird er irgendwann ignoriert und dies freut natürlich vor allem die echten Antisemiten, die dann mit ihrem schändlichen Treiben auf keinen Widerstand mehr stoßen. Der Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs nutzt vor allem den Antisemiten. Und dies nehmen Akteure wie die Amadeu Antonio Stiftung billigend in Kauf, um kritische Stimmen mundtot zu machen. Schämt Euch.
Titelbild: ehsomwang/shutterstock mit Screenshots von amadeu-antonio-stiftung.de, Montage: NachDenkSeiten