Medien und Syrien: Die Ahnungslosigkeit des Lesers als Waffe

Medien und Syrien: Die Ahnungslosigkeit des Lesers als Waffe

Medien und Syrien: Die Ahnungslosigkeit des Lesers als Waffe

Ein Artikel von Fabian Goldmann

Seit Jahren verweisen Experten darauf, dass die EU-Sanktionen gegenüber Syrien mitverantwortlich sind für die humanitäre Krise im Land. Ein zynischer Gastbeitrag auf Zeit Online will das nicht wahrhaben und verzichtet dafür auf jegliche Fakten. Von Fabian Goldmann.

Es ist still geworden um Syrien. Der Kampf gegen den IS scheint fast gewonnen. Flüchtlinge kehren zurück. In vielen Teilen des Landes beginnt der Wiederaufbau. Da ist es lobenswert, wenn Medien auf die noch immer anhaltende humanitäre Krise im Land aufmerksam machen und sich Aspekten des Konfliktes widmen, die es nur selten in die Schlagzeilen schaffen. Unter der Überschrift „Das Leid der Zivilbevölkerung als Waffe“ berichtet „Zeit Online“ über die Folgen der Sanktionspolitik der Europäischen Union gegenüber der syrischen Zivilbevölkerung. Oder vielmehr: über die fehlenden Folgen. Denn bei diesen – so die These des Beitrages – handle es sich vor allem um Propaganda des Regimes.

Autorin des Gastbeitrages ist Bente Scheller. Ihre Doktorarbeit schrieb die Politikwissenschaftlerin zur Außenpolitik Syriens, zwei Jahre war sie als Referentin an der Deutschen Botschaft in Damaskus tätig, seit 2012 leitet sie das Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung im Libanon. Eigentlich eine gute Besetzung, um über ein für die meisten Leser wohl unbekanntes Thema kompetent zu informieren. Doch statt faktenbasierter Expertise liefert Scheller ein Stück meinungsstarke Polemik, die den Leser zu fast jedem Aspekt des Themas in die Irre führt.

Die AfD kritisiert die Sanktionen. Genauso wie WHO, WFP, UN-ESCWA, FES…

Schon die ersten Absätze von Bente Schellers Text machen skeptisch. Denn bevor die Syrien-Expertin sich dem Inhalt der europäischen Sanktionen oder dem Leid der Zivilbevölkerung in Syrien widmet, ordnet sie das Thema in die deutsche parteipolitische Debatte ein. Eine Aufhebung der Sanktionen sei eines von Assads „wichtigsten Hindernisse(n), die der Normalisierung im Wege stehen“, erfährt der Leser. Diese Forderung finde am „linken wie am rechten Rand des politischen Spektrums in Deutschland willige Unterstützter.“ Die einzige kritische Stimme, die sie zu Wort kommen lässt: ein nordrhein-westfälischer AfD-Politiker.

Gleich zu Beginn des Textes erweckt Scheller damit den Eindruck, Kritik an den Sanktionen könne es nur von Anhängern eines menschenverachtenden Regimes und Irrlichtern am Rand des politischen Spektrums geben. Was sie unerwähnt lässt: Die Liste an kritischen Veröffentlichungen zu dem Thema ist so lang wie seriös.

Die UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (UN-ESCWA) hat in einem ausführlichen Bericht auf die katastrophalen humanitären Folgen der Sanktionen hingewiesen. Eine Untersuchung des Welternährungsprogrammes (WFP) benennt die Sanktionen als einen der Hauptgründe für die Nahrungsmittelknappheit in Syrien. Vertreter der Weltgesundheitsorganisation WHO bezeichnen die europäischen Zwangsmaßnahmen als mitverantwortlich für die Krise im syrischen Gesundheitssystem.

Die Sanktionen hätten den „systematischen Zusammenbruch der syrischen Wirtschaft“ herbeigeführt. Diese Aussage stammt nicht von linken Assad-Anhängern, sondern aus einer Untersuchung im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die europäischen Sanktionen würden „das Leid unschuldiger Zivilisten nur verschlimmern“. Dies ist nicht das Urteil irgendeines AfD-Hinterbänklers, sondern das Fazit von Idriss Jazairy. Der UN-Sonderberichterstatter für die menschenrechtlichen Folgen von Sanktionen hatte Syrien im Mai 2018 mit einem Rechercheteam besucht und anschließend seine Ergebnisse in einem erschütternden Bericht zusammengestellt.

Hinzu kommen zahllose Äußerungen von Aktivisten und Politikern sowie Mitarbeitern von lokalen und internationalen Hilfsorganisationen, die nichts übrig lassen am humanitären Anspruch der EU-Sanktionen. Von ihrer Existenz und dem Inhalt ihrer Kritik erfährt man in Bente Schellers Darstellung kein Wort.

Syrische Politiker sind betroffen. Und alle anderen auch.

Auch die Darstellung der Sanktionen selbst könnte irreführender kaum sein. Nicht Zivilisten, sondern „vor allem Menschenrechtsverbrecher“ seien davon betroffen, behauptet Scheller. Sie schreibt: „So betrifft ein Großteil der EU-Sanktionen Angehörige des syrischen Regimes und ihm nahestehende Geschäftsleute, die direkt an Menschenrechtsverbrechen in Syrien beteiligt sind.“ Von den Sanktionen betroffen sei „nichts, was humanitäre Belange beträfe“, schreibt Scheller. Das ist schlichtweg falsch.

Zwar besteht die EU-Sanktionsliste tatsächlich größtenteils aus syrischen Unternehmen und Einzelpersonen, die mit einem Reiseverbot belegt und deren Vermögenswerte eingefroren sind (im Januar 2019 waren es 270 Personen und 72 Organisationen. Doch die Folgen der Sanktionen anhand der Anzahl der Einträge zu bemessen, führt in die Irre.

Bente Scheller vergisst zu erwähnen, dass die EU seit 2011 ein Öl-Embargo über das Land verhängt hat und damit um einen großen Teil seiner außenwirtschaftlichen Einnahmen gebracht hat. Auch die Schließung des europäischen Luftraums für syrische Flugzeuge und Importverbote für eine Vielzahl syrischer Produkte von landwirtschaftlichen Produkten bis Armbanduhren kommen in ihrer Darstellung nicht vor. Vor allem aber die Auslassung der Strafmaßnahmen gegenüber der syrischen Finanzindustrie ist es, die jede seriöse Analyse der europäischen Sanktionspolitik von vornherein scheitern lassen muss. Denn die Sanktionen gegen das syrische Bankensystem sind es, die mit die verheerendsten Folgen für die humanitäre Situation im Land haben.

Selbst Internationale Humanitäre Organisationen leiden unter den Sanktionen

Als „urbane Legende“ bezeichnet Bente Scheller die Vorstellung, die Sanktionen des Westens hätten Folgen für die humanitäre Situation im Land. Diese „Legende“ vertreten allerdings ausgerechnet jene, die es wissen müssen: die humanitären Helfer vor Ort. Im Auftrag der UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (UN-ESCWA) hat ein Team britischer Finanz- und Handelsexperten im Jahr 2016 die Folgen der Sanktionen auf die humanitäre Arbeit in Syrien untersucht. Auf 40 Seiten berichten Nothelfer, Regierungsvertreter und Mitarbeiter lokaler wie internationaler Organisationen, wie die EU ihnen die humanitäre Arbeit erschwert oder sogar unmöglich macht.

Betroffen sind NGOs in allen Bereichen der Nothilfe: von Nahrungsmittelhilfe und Wasseraufbereitungen über sanitäre Versorgung bis zu medizinischer Hilfe. NGOs werde durch die EU-Sanktionen verwehrt, Bankkonten zu eröffnen. Fahrzeuge dürften aufgrund des Öl-Embargos im Land nicht betankt werden, lokale Mitarbeiter könnten sich aufgrund der Sanktionen gegen die syrische Mobilfunk-Industrie keine Sim-Karten kaufen. Unternehmen wie Microsoft verweigerten aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen den Verkauf von Office-Software an in Syrien tätige NGOs, PayPal verwehre die Weiterleitung von Spenden. Hilfsorganisationen könnten ihre lokalen Mitarbeiter aufgrund der Sanktionen gegenüber syrischen Banken nur über Umwege bezahlen. Schon die Anschaffung harmloser Geräte wie Laptops münde oft in zeitraubende Genehmigungsverfahren, deren finanzieller Aufwand die Kosten für das gewünschte Gerät oft mehrfach übersteige. Diese und noch viel mehr Beispiele hätte Bente Scheller mit wenigen Klicks herausfinden können. Sie hat sich dagegen entschieden.

UN-Mitarbeiter spricht von Sanktionen als Hauptgrund für Niedergang des Gesundheitssystems

Zur Polemik wird ihre Analyse spätestens, wenn sie versucht, den Einfluss der Sanktionen auf das syrische Gesundheitssystem zu trivialisieren. „60 Prozent der syrischen Krankenhäuser sind zerstört oder beschädigt, fast 70 Prozent des medizinischen Personals sind getötet oder vertrieben. Angesichts der systematischen Angriffe ist es lächerlich, mangelnde medizinische Versorgung auf die Sanktionen zu schieben“, schreibt Scheller und spielt damit das eine Leid gegen das andere aus. Die offensichtliche Möglichkeit, dass die medizinische Versorgung in Syrien sowohl unter Krieg und Gewalt als auch unter den Handelsrestriktionen leidet, lässt sie nicht zu.

Um ihre These von den folgenlosen Sanktionen zu belegen, vermittelt Scheller erneut das Bild, es handle sich bei der Kritik nur um eine zweifelhafte Einzelmeinung: „Eine Recherche im Internet zeigt, dass der Vorwurf, die medizinische Versorgung leide unter den Sanktionen, auf eine einzige Quelle zurückgeht: Elizabeth Hoff von der World Health Organization.“ Vom Inhalt der Kritik der WHO-Syrien-Chefin erfährt der Leser nichts. Stattdessen fehlt auch hier nicht der Hinweis, dass Elisabeth Hoff als „regimenah“ gelte.

Scheller erweckt den Eindruck, dass es neben Elisabeth Hoffs persönlichen Aussagen keine Veröffentlichungen zu dem Thema gäbe. Doch genau die gibt es. In ihren Jahresberichten hat die WHO immer wieder darauf hingewiesen, welchen verheerenden Einfluss der Versorgungsmangel an Medikamenten für das syrische Gesundheitssystem hat. Ein WHO-Bericht aus dem Jahr 2016 zeichnet detailliert nach, wie die medizinische Versorgung in Syrien sowohl unter Zerstörung als auch unter Versorgungsmangel leidet. So sei ein Großteil der medizinischen Verbrauchsmaterialien nicht mehr verfügbar. Die pharmazeutische Industrie des Landes, die vor dem Krieg nahezu alle Medikamente des syrischen Bedarfs selbst herstellen konnte, musste ihre Produktion zum großen Teil einstellen, weil Hersteller nicht mehr an Rohmaterialien kämen. Im WHO-Syrien-Jahresbericht von 2017 heißt es: „Internationale Sanktionen gegen Syrien führten dazu, dass wichtige Ersatzteile zur Instandhaltung oder Reparatur medizinischer Ausrüstung nicht importiert werden konnten.“ Noch deutlicher wird ein UN-Mitarbeiter, den das Enthüllungsportal „The Intercept“ zitiert: Die amerikanischen und europäischen Sanktionen seien der „hauptsächliche Grund“ für den Niedergang des syrischen Gesundheitssystems. Von all dem erfahren Leser von Bente Schellers Text nichts.

Es geht auch besser. Was andere Untersuchungen über die Sanktionen sagen.

Auch im letzten Teil ihres Textes vermittelt Scheller den Eindruck, ein Aufheben der Sanktionen würde nicht der Zivilbevölkerung nützen. Hingegen würde eine Verschärfung der Sanktionen „Assads Wiederaufbaupläne, für die er arabische Investoren umwirbt, auch langfristig behindern. Insofern wettert das Regime über das, was es als ‘wirtschaftliche Kriegsführung’ bezeichnet“, schreibt Scheller. Gegen diese wirtschaftliche Kriegsführung „wettert“ allerdings nicht nur Assad. Das Brüsseler ThinkTank „European Policy Center“ schreibt in einer Untersuchung mit Blick auf das europäische Öl-Embargo, dass sich dadurch eine neue Kriegsökonomie breitgemacht habe: „Und die EU-Sanktionen helfen diesen Kriegsprofiteuren.“

Wie eine seriöse und mit Fakten belegte Untersuchung der EU-Sanktionen aussehen kann, zeigen Bente Schellers Kollegen von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). In deren Auftrag hatten im Februar 2016 der Londoner Wirtschaftswissenschaftler Rim Turkmani und der syrische Demokratie-Aktivist Mustafa Haid die „Rolle der EU im syrischen Konflikt“ untersucht. Zu den direkten und indirekten Folgen des EU-Embargos zählen sie den Anstieg der Arbeitslosigkeit, den Zusammenbruch des Bildungssystems, den Verlust nationaler wirtschaftlicher Unabhängigkeit und das Erstarken bewaffneter Gruppen. Die Annahme, „dass das Regime sein Verhalten ändern werde (…) sei nicht nur widerlegt worden“. Im Gegenteil: Europas Maßnahmen hätten „das gegenteilige Ergebnis hervorgebracht.“ Resultat der EU-Sanktionen sei der „systematische Zusammenbruch der Grundlage von syrischer Wirtschaft, Infrastruktur und Institutionen.“ In dessen Folge seien neue „Kriegsökonomien entstanden“, die „dem Frieden im Weg stehen.“

In diesem Sinne behält Bente Scheller zumindest mit einer Aussage recht. Das Leid der Zivilbevölkerung dient im Syrien-Konflikt tatsächlich als Waffe. Im Juni will die EU erneut über eine Verschärfung der Sanktionen beraten.

Titelbild: Melih Cevdet Teksen / Shutterstock

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