Das Ossi- und AfD-Phänomen

Das Ossi- und AfD-Phänomen

Das Ossi- und AfD-Phänomen

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

Die Diskussion über die Wahlausgänge in Sachsen und Brandenburg ist in vollem Gange. So soll etwa mit der „Extremismustheorie“ oder einer „ostdeutschen Versorgungsmentalität“ das Wahlverhalten der Ostdeutschen erklärt werden – dieser Versuch der Deutung ist aber nach Meinung eines Debattenbeitrags von Wolf Wetzel ein politisches und intellektuelles Desaster. Von Redaktion.

Die „Ossi-Wahlen“ in Sachsen und Brandenburg sind vorbei und die Ergebnisse sind ohne große Überraschung niederschmetternd: Die bürgerlichen Parteien stolpern Richtung Abgrund, die Grünen werden mit einem Kunstrasen den Absturz gerade noch abfedern, indem sie in eine Regierungskoalition einsteigen werden. Die Partei DIE LINKE rast mit 10,4 Prozent (minus 8,5) in Sachsen und mit 10,7 Prozent (minus 7,9) in Brandenburg in den Keller.

Und die AfD hat auf knapp 30 Prozent zugelegt. Man ist froh, dass die AfD nicht stärkste Partei geworden ist, dass sich die Verlierer mit den Grünen zusammen noch an der (Regierungs-)Macht halten können. Dieses Mal noch. Aber man spürt es allen Ortens: So gut wie nichts ist gewonnen – außer die Macht des Dranbleibens.

Was schon vor der Wahl einsetzte, wird nun mit der gleichen Dummheit fortgesetzt. Anstatt sich zu fragen, was diejenigen dazu beigetragen haben, die sich als echte/demokratische Alternative zur AfD verstehen (das schließt das miserable Ergebnis der Partei DIE LINKE mit ein), macht man da weiter, wo man aufgehört hat. Man kann das Rad der Erkenntnis quietschen hören, wenn die Antwort schon in der Frage durchsticht:

Wer ist schuld an den Wahlsiegen der AfD?

Bezeichnend für dieses politische und intellektuelle Desaster ist, dass die Antworten schon x-mal durchbuchstabiert wurden und selbst durch Wiederholungen nicht wahrer werden.

Seit der „Wende“, der vermeintlichen Wiedervereinigung 1989/90, gibt es eine große Erzählung, die die massive Bedeutung neonazistischer Gruppierungen in der Ex-DDR und später das starke Abschneiden der AfD in den fünf „neuen“ Bundesländern zu erklären versucht. Sie kam sehr schnell auf, Anfang der 90er Jahre, als man die Pogromstimmung nach der „Wiedervereinigung“ zu deuten suchte – im Osten: Am Neonazismus, am „übersteigerten“ Nationalismus sei die Ex-DDR schuld, also der Sozialismus, der in der DDR geherrscht haben soll.

Wer noch halbwegs bei Verstand ist, müsste sich die Augen reiben und fragen: Was haben Neonazismus und Sozialismus gemein, die sich im wirklichen Leben – zurecht – als Todfeinde gegenüberstanden?

Was die Wirklichkeit nicht hergibt, muss man folglich in der Theorie „zusammenschweißen“. Es handelt sich dabei um die „Totalitarismustheorie“, die in gestreckter Form als „Extremismustheorie“ vertreten wird. Diese behauptet allen Ernstes, dass sich die beiden Extreme (Sozialismus – Faschismus) im Kern gleichen und die bürgerliche Demokratie, zwischen diesen Extremen ganz unschuldig und völlig wehrlos eingeklemmt, deren beider Opfer wurde.

Haarsträubende Theorien zum Faschismus: Über Kapitalismus soll nicht geredet werden

Dass in dieser Theorie der Faschismus aus dem Reich der Extreme kommt und nicht aus kapitalistischen Verhältnissen, die der Faschismus bis zum Endsieg verteidigen wollte, ist bis heute sehr beliebt und haarsträubend. Denn niemand bestreitet ernsthaft, dass der Faschismus ohne die maßgebliche Zustimmung aus der Wirtschaft an die Macht gekommen wäre und durch bürgerliche Parteien zur „Machtübernahme“ geradezu eingeladen wurde.

Den Faschismus zu einem Werk von Extremisten zu verklären, soll bis heute jene entlasten, die über den Kapitalismus nicht reden wollen und bei besonders geistreichen Anlässen gerne Max Horkheimer aus dem Jahr 1939 zitieren:

„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“

Ein aktuelles Beispiel für diese Art der Überschreibung lieferte die „Frankfurter Rundschau“, als sie kurz nach den Wahlen in Brandenburg und Sachsen, den Soziologen Steffen Mau „über die zerbrochenen Leben der Ostdeutschen“ (FR vom 2.9.2019) befragte.

Die Frage, warum die DDR noch dreißig Jahre später so dermaßen in den Lebenshaltungen der Ostdeutschen präsent sei, beantwortete Steffen Mau so:

„In der DDR gab es eine Art Versorgungsarrangement zwischen der Obrigkeit und der Bevölkerung.“ Dann kamen die Versprechen des Westens von mehr Wohlstand und blühenden Landschaften und bildeten so „diese Mentalitäten fort, die man gerade im Begriff war abzustreifen.“

Man braucht schon eine Weile, um diesen Unsinn freizulegen. Was dieser Soziologe mit „Versorgungsarrangement“ meint, war die Tatsache, dass man in der „Arbeitsgesellschaft DDR“ zwar nicht reich werden, aber ohne Existenzangst leben konnte. Niemand riss sich ein Bein aus und man kam über die Runden. Diesen bescheidenen Erfolg der DDR-Gesellschaft als „Versorgungsarrangement“ zu denunzieren, braucht eine gehörige Portion Verachtung und ein gutes Gehalt.

Die Behauptung von der „ostdeutschen Versorgungsmentalität“

Die zweite verquere Annahme steckt in der Behauptung, dass diese ostdeutsche Versorgungsmentalität genährt worden wäre, indem der Kapitalismus dasselbe versprach. Doch nicht einmal in der Werbung bekommt man das, was man braucht und sich wünscht, einfach so, sondern nur, wenn man dafür bezahlt, wenn man das Geld dafür hat. Man muss kein Soziologe sein, um festzuhalten, dass nicht die Versorgungsmentalität der Ostdeutschen das Problem ist, sondern die Erfahrungen mit dem real existierenden Kapitalismus, in dem einige Wenige das Geld zum Fenster hinauswerfen können, ohne es zu verlieren, während die große Mehrheit der Bevölkerung vor allem eines erlebt hat und fortdauernd auszuhalten versucht: Man muss immer mehr arbeiten, für immer weniger Lohn.

Ein wenig später kommt Steffen Mau auf diesen Aspekt doch noch in einem kleinen Satz zu sprechen:

„Viele haben im Vergleich zu ihrer Elterngeneration soziale Abstiege hinnehmen müssen, obwohl es ihnen konsummäßig besser ging.“

Mau-mäßig durchdachte Logik, möchte man dem Soziologen zurufen.

Denn es geht doch ersichtlich nicht um irgendwelche Mentalitäten, sondern vor allem um ganz konkrete Erfahrungen in Ostdeutschland, für eine Mehrzahl der dort noch lebenden Menschen. Erfahrungen, die etwas mit dem Kapitalismus zu tun haben, und am allerwenigsten mit der „Versorgungsmentalität“ aus DDR-Zeiten!

Und dann tischt der Soziologe noch so ein Märchen aus 1000 und einer Nacht auf:

„Die Institutionen des Westens wurden eingerichtet und die Erwartung war, dass die Gesellschaft dieselbe wird. Das war eine Illusion. Die Wirkung von Kultur, bestimmten sozial-strukturellen Charakteristiken und die Folgen der ‚Arbeitsgesellschaft DDR‘ wurden unterschätzt.“

Wieder muss man die Bedeutung dieser Anamnese ausgraben, um diese Form der Verächtlichmachung und Verschiebung zu verstehen.

Was will uns damit der Soziologe sagen? Man hat den armen Schwestern und Brüdern drüben alles gegeben, Institution um Institution, und die Ostdeutschen haben gebockt und sie nicht angenommen. Wie undankbar die Ossis doch sind. Und er weiß auch, woran das liegt, an „bestimmten sozial-strukturellen Charakteristiken“. Mit einem Satz verschwinden der Exekutoren kapitalistischer Verhältnisse (wozu die „Treuhand“ ebenso zählt(e) wie die Arbeits- und Sozialämter) in der (kaputten) Psyche der Menschen.

Verzweiflung und Fassungslosigkeit – Die Folgen von Agenda 2010 und Treuhand

Diese einzig durch Unbestimmtheit glänzende Erklärung muss reichen, dachte sich wohl der Soziologe, denn der Affekt war gesetzt: Die „Frankfurter Rundschau“ hatte keine (Nach-)Fragen, war zufrieden und alle „Wessis“ in der Annahme bestärkt, dass die Ostdeutschen selbst daran schuld sind, wenn sie all das Gute aus dem Westen nicht annehmen.

Und wenn man sich vor Augen hält, was die Agenda 2010, die sogenannten Hartz-IV-Reformen, Anfang dieses Jahrhunderts in Westdeutschland angerichtet haben, kann man erahnen, mit welcher Verzweiflung und Fassungslosigkeit Ostdeutsche gerade jene Institutionen aufgesucht haben, die diese „Arbeitsmarktreformen“ durchgepeitscht haben – bis zum heutigen Tag.

Denn die Tatsache, dass heute jedes dritte Beschäftigungsverhältnis im Osten im Niedriglohnsektor angeboten wird, verspricht im Alter für viele eines: Armut durch (Lohn-)Arbeit.

Was sich also seit 30 Jahren in Ostdeutschland abspielt, ist keiner DDR-Biografie geschuldet, sondern Ergebnis ganz konkreter Erfahrungen mit diesen Institutionen, die diese Verarmungspolitik mit einem ganzen Arsenal an Sanktionsmaßnahmen durchsetzen.

Ich hoffe, dass diese kurzen Ausführungen ausreichend sind, um zu verdeutlichen, dass das Abgehängtsein, das Gefühl, verarscht worden zu sein, nicht Ausfluss „bestimmter sozial-struktureller Charakteristiken“ ist, an denen die DDR schuld ist, sondern auf kapitalistischen Lebensrealitäten fußt, die der Soziologe zu naturnahen Begebenheiten verklärt, wenn er von „Sturmschäden“ spricht, die er gerade einmal für die Wendezeit gelten lässt.

Reagieren die „Ossis“ auf prekäre Arbeits- und Lebenswelten, auf krisenhafte Erfahrungen im Kapitalismus anders als die „Wessis“?

Wenn man die deprimierenden Erfahrungen mit dem Kapitalismus seit über 30 Jahren als bestimmend annimmt und sie gerade nicht auf „Sturmschäden“ um die Wendezeit herum reduziert, dann hat man die Basis, von der aus man die Frage beantworten kann: Warum wählen die „Ossis“ deutlich mehr AfD als im Westen? Warum kann eine postfaschistische Partei zweitstärkste Partei in Brandenburg und in Sachen werden, während die Partei DIE LINKE fast die Hälfte ihrer Wählerschaft verliert?

Mit diesen Fragen ist eine wichtige Annahme verbunden: Die Enttäuschung über den Kapitalismus führt alles andere als zwangläufig in die Arme einer postfaschistischen Partei. Warum ziehen die Ossis nicht die Konsequenz, sich für etwas einzusetzen, was den Kapitalismus überwindet? Warum vertrauen sie nicht einmal mehr auf „Kapitalismusbändiger“?

Wer dieser Frage nachgeht, wird um sehr bittere Antworten nicht herumkommen. Denn die Partei DIE LINKE war recht lange die stärkste parlamentarische Opposition gegen die „kapitalistische Vereinnahmung“. Warum konnte die Partei DIE LINKE diese Chance nicht nutzen?

Man muss Sahra Wagenknecht (LINKEN-Fraktionschefin im Bundestag) überhaupt nicht in allem folgen, um ihrer Analyse der massiven Wahlniederlage bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen zuzustimmen: Die Partei DIE LINKE wird nicht mehr als Opposition begriffen, sondern als Bestandteil „des grünliberalen Establishments.“ (FR vom 3. 9.2019). Die Kluft zwischen dem, was diese linke Partei programmatisch versprochen hat und was sie als Opposition oder in Regierungsbeteiligung umgesetzt hat, ist gewaltig.

Die politische Passivität der LINKEN

Mehr noch: Sie haben sich an Regierungen beteiligt (wie in Berlin als Kopilot in der rot-roten Regierung 2002-2011) und aktiv daran mitgewirkt, den bereits dürftigen Bestand an städtischem/gemeinnützigem (also bezahlbarem) Wohnbesitz weiter zu verscherbeln. Ganz aktuell zeigt sich das an einem Streit in der Berliner Stadtregierung. Der von SPD, LINKE und Grünen geführte Berliner Senat will die Mieten vom Jahr 2020 an für fünf Jahre einfrieren, „um die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt zu beruhigen“. Dazu legte die Senatorin Katrin Lompscher (LINKE) einen Entwurf vor, der „einen radikalen ‚Mietenstopp‘ für fünf Jahre vor(sieht), womit für alle Mieten die vom Gesetzgeber festgelegten „Obergrenzen“ gelten würden – und auf dieselben eingefroren werden würden.“ (tagesspiegel.de vom 26.8.2019)

Bevor dieser überhaupt diskutiert werden konnte, wurde der Entwurf „geleakt“, also an die Öffentlichkeit gespielt, um den Vorschlag schon im Keim zu ersticken. Das hatte Erfolg. Nur vier Tage später wurde der „Entwurf“ zurückgezogen und ein deutlich verwässerter Vorschlag steht nun im Raum. Warum hat man es nicht auf einen Koalitionsstreit ankommen lassen? Warum hat man nicht die vielen MieterInnen-Initiativen eingebunden, um diesen Vorschlag öffentlich zu diskutieren? Warum hat man den Konflikt nicht aus den Konferenz- und Beraterzimmern herausgeholt und auf die Straße getragen?

Die LINKE als „Systempartei“?

Wofür steht also die Partei DIE LINKE – gerade im Osten? Viele werden darauf verweisen, dass es ganz viele Flügel in der Partei gibt, so viele Flügel, dass sie ganz sicher nicht „abheben“ kann: von ehemaligen SED-Kadern, über Kapitalismusbändiger (mit buntem Freizeitprogramm), bis hin zur „Bewegungs“-Linken, die von einem ökologischen Sozialismus spricht, der über einen „Transformationsprozess“ erreicht werden soll.

Doch eines hat sich bis heute bewahrheitet: Wenn die Partei DIE LINKE an die (Regierungs-)Macht kommt, ist sie „Systempartei“, bis fast nichts mehr von ihr übrig ist.

Genau hier kommt zurecht die Geschichte der DDR ist Spiel, und zwar nicht in Gestalt einer historischen Reflexion, sondern in der Art, wie sie bis heute „verteidigt“ wird, wie in der Diskussion um das Scheitern der DDR gemauert wird.

Es gab keine Mehrheit in der DDR, die gegen den Faschismus gekämpft hatte und es gab keine Mehrheit, die den Sozialismus auf die Tagesordnung gesetzt hatte.

Zum Gründungsmythos der DDR gehörte, dass der Faschismus ein Problem in Westdeutschland sei, womit man die Auseinandersetzung um eine postfaschistische Gegenwart in der DDR leugnete – und dabei genauso zum Verschweigen verdammt war, wie das re-nazifizierte Westdeutschland.

„Die SED hat so getan, als wäre es Sozialismus und wir haben so getan, als würden wir es glauben.“

Die DDR ist eben nicht „sozialistisch“ geworden, weil die Menschen dort anders waren, sondern weil der Faschismus militärisch besiegt wurde. Die Menschen in der ehemaligen DDR waren so nationalistisch, so faschistisch wie im Westen. Sie sind also nicht über Nacht zu SozialistInnen geworden. Sie haben es hingenommen. „Die SED hat so getan, als wäre es Sozialismus und wir haben so getan, als würden wir es glauben.“

Der Sozialismus musste also von „oben“ dekretiert und konnte nur von oben „verteidigt“ werden – gegen eine Mehrheit, die zu keinem Zeitpunkt für einen Sozialismus (welcher Art auch immer) gekämpft hatte.

Um einen solchen „Sozialismus“ durchzusetzen, setzte die SED nicht nur auf Repression, die selbst gegen jene ausgeübt wurde, die sich der Idee des Sozialismus tatsächlich annahmen. Die SED griff zugleich auf Tugenden zurück, die mit dem proklamierten Sozialismus nichts zu tun haben: auf autoritäre Strukturen mit deutsch-vaterländischen Anleihen.

Darauf haben viele hingewiesen, die die DDR nicht für zu viel, sondern für viel zu wenig Sozialismus – im Sinne einer Gesellschaftlichkeit von unten – kritisiert hatten. In diesem Kontext hat der Sozialwissenschaftler Götz Eisenberg also wirklich recht:

„Unter der ‚Käseglocke‘ des Staatssozialismus haben alte preußisch-deutsche Tugenden und Haltungen überdauert, die man nach 1945 zu Insignien einer proletarischen Lebensführung und Parteidisziplin erklärte.“

Wenn man also die Ex-DDR für das Erstarken neonazistischer Gruppierungen und Parteien verantwortlich machen will und muss, dann ist es eben nicht der Sozialismus, sondern seine gesellschaftliche Abwesenheit. Man kann eben weder den Antifaschismus, noch den Sozialismus von oben verordnen.

Diese Reflexion, dieses Eingeständnis müsste am Anfang eines jeden berechtigten Versuches stehen, eine Systemalternative zu entwickeln, etwas, was tatsächlich über die herrschenden Verhältnisse hinausweist. Dann wäre das Terrain für Alternativen wieder offen und begehbar, die Vision von einer gerechten Gesellschaft, von einem Sozialismus, verstanden als „freie Assoziation freier Individuen“ wieder attraktiv.

Literatur:

Titelbild: Maximilian Martin / Shutterstock

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