Das Ende der Staatsräson. Von Gerhard Fulda.

Das Ende der Staatsräson. Von Gerhard Fulda.

Das Ende der Staatsräson. Von Gerhard Fulda.

Gerhard Fulda
Ein Artikel von Gerhard Fulda

Die NachDenkSeiten geben hier eine Rede wieder, die der ehemalige Diplomat Gerhard Fulda[*] auf einer Konferenz des KOPI, des Deutschen Koordinationskreises Palästina/Israel, am 1.2.2020 in Berlin-Neukölln gehalten hat. Die Konferenz wurde von mehr als 200 Teilnehmern besucht. KOPI umfasst zur Zeit 28 bundesweite und regionale NGOs, die sich für ein friedliches Zusammenleben in Israel und Palästina einsetzen, vor allem mit Vorträgen, Veröffentlichungen und Reisen nach Israel und in die besetzten Gebiete. Näheres hier.
Albrecht Müller.

Das Ende der Staatsräson

  1. Einführung

    Als ich vor mehr als 10 Jahren einen kritischen Text zu der Staatsräson der Bundeskanzlerin veröffentlicht habe, hat sich Bundespräsident Gauck kurz danach von Frau Merkel distanziert. Ausgerechnet vor der Presse in Israel und mit Worten, die meinen Formulierungen sehr ähnlich waren.

    Ich werde heute über die Frage sprechen, warum Frau Merkels Staatsräson mit ihrer Kanzlerschaft enden sollte und enden könnte.
    Dafür suche ich mir unter all den Themen, an die man im Zusammenhang mit der Staatsräson denken kann, dasjenige heraus, welches ich als das politisch gewichtigste ansehe – die U-Boot-Lieferungen.

    Und obwohl das schon recht spezifisch ist, will ich das Thema noch weiter einengen. Ich habe nicht die Absicht, der Bundesregierung das deutsche Kriegswaffenkontrollgesetz vorzulesen.
    Das Gesetz verbietet die Herstellung von Atomwaffen in Deutschland.
    Auch U-Boote sind Waffen, genauer: Waffen-Trägersysteme. Wenn sie in ihrer Bauweise spezifisch darauf ausgelegt sind, Raketen mit Atomsprengköpfen abschießen zu können, dann sind U-Boote Atomwaffensysteme.

    Ich vermute zwar, dass mit den U-Booten gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen wird. Aber ich verzichte hier auf eine juristische Prüfung nach deutschem Recht. Wenn ich mich in meinem Berufsleben mit Rechtsfragen beschäftigt habe, dann ging es für mich fast immer nur um das Völkerrecht. Spezialfragen unseres nationalen Rüstungskontrollrechts überlasse ich deshalb lieber den Experten, die davon mehr verstehen als ich.

    Darüber hinaus behindert die Geheimhaltung ein eigenständiges substantiiertes Urteil. Ich bleibe also beschränkt auf Informationen, die ich aus öffentlich zugänglichen Quellen gewonnen habe oder aus Gesprächen mit mir als vertrauenswürdig erscheinenden Persönlichkeiten. Mir ist sehr bewusst, dass ich dabei Irrtümer nicht vermeiden kann. Aber dies ist Teil des Problems, auf das ich hinweisen möchte: Wenn die deutsche Bevölkerung in Unkenntnis gehalten wird, dann bleibt sie letztlich von der Bewältigung der deutschen Vergangenheit ausgeschlossen.

    Mit diesen Einschränkungen will ich mich meinem Hauptthema widmen, nämlich der Frage, ob die bisher aus Deutschland gelieferten U-Boote das politische Ziel erreicht haben, um dessentwillen sie im Namen der Staatsräson geliefert worden sind.
    Dabei will ich in vier Schritten vorangehen: zunächst eine präzisere Darlegung meines Themas, als zweites einen Blick auf israelische Quellen, dann ein kurzer Abriss zu bisherigen Veränderungen der deutschen Haltung, um schließlich zu fragen, ob die Bundesregierung ihre Ziele erreicht hat oder ob die Zeit gekommen ist für grundlegend neue Entscheidungen.

  2. Erfolg oder Misserfolg
    1. Der SachverhaltWovon genau sprechen wir

      Die Bundesregierung versucht, den Eindruck zu erwecken, für Israel würden ganz normale U-Boote gebaut. Regierungsnahe Journalisten haben sich in Gesprächen mit der folgenden Argumentation geäußert: Geliefert haben wir normale Boote mit Torpedoschächten für den Seekrieg. Wenn die Israelis die Diameter dieser Schächte bei sich so erweitert haben, dass sie für die größeren Nuklearsprengköpfe Verwendung finden können, dann ist das insoweit ein israelisches Produkt.
      Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung hat 2012 auf ein an die Bundeskanzlerin gerichtetes Schreiben geantwortet:

      „Berichte zu einer möglichen Nuklearbewaffnung der israelischen U-Boote beziehen sich auf Spekulationen in Expertenkreisen. Die Bundesregierung beteiligt sich nicht an diesen Spekulationen.“ Das heißt: Die Experten könnten auch recht haben.

      Ich gehe mit guten Gründen davon aus, dass diese U-Boote tatsächlich Nuklearsprengköpfe tragen oder jedenfalls tragen können und sollen.
      Ich zitiere einen Abgeordneten des Bundestages aus einem Gespräch vor einigen Jahren: “Deshalb liefern wir doch diese mit Brennstoffzellenantrieb versehenen U-Boote, die nicht mit den Geräuschen von Dieselmotoren durch Sonar entdeckbar sind. Damit Israel über die nukleare Zweitschlagfähigkeit verfügt und nicht mehr angreifbar wird!“

      Zweitschlag ist ein Begriff aus der Nuklearstrategie im Verhältnis von Atommächten. Wer eine Nuklearwaffe einsetzt, muss damit rechnen, vom nächsten Atomschlag selbst getroffen zu werden.
      Im Nahen und Mittleren Osten verfügt aber bisher kein einziger der Staaten, die potentiell als militärische Gegner Israels angesehen werden, über Nuklearwaffen. Was kann also gemeint sein, wenn trotzdem von einem Zweitschlag gesprochen wird? Darauf gibt es nur eine verstörende Antwort:
      Gegenwärtig beruht die Abschreckungswirkung der israelischen Atomwaffen lediglich auf einer nuklearen Erstschlagfähigkeit gegen einen konventionellen Angriff.

    2. Stimmen aus Israel

      Angesichts der begrifflichen Unklarheiten und der fehlenden Informationsbereitschaft der Bundesregierung versuche ich, Informationen aus Israel heranzuziehen. Zwar gibt es in Deutschland mit einer Veröffentlichung in dem Internetportal BITS (Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit) von dem Journalisten Otfried Nassauer eine mir als zuverlässig erscheinende und detaillierte Darstellung mit umfassenden Quellennachweisen. Sie ist aber schon im Jahr 2011 erschienen und konnte sich deshalb noch nicht auf spätere Informationen aus Israel stützen, über die ich jetzt referieren möchte.

      1. Fehlende Nuklearstrategie

        Im Distrikt Tel Aviv gibt es die Universität Bar Ilan, mit dem Begin-Sadat-Zentrum für strategische Studien. Dort ist 2017 ein Text von Prof. Louis René Beres erschienen, einem emeritierten jüdischen Wissenschaftler aus Indiana, USA. Beres ist Experte für Nuklearstrategien.
        Der Autor empfiehlt, Israel solle sich von der bisherigen „absichtlichen nuklearen Mehrdeutigkeit“ lösen und stattdessen eine glaubwürdige Doktrin nuklearer Abschreckung entwickeln und kommunizieren. Aggressoren müssten ermutigt werden zu glauben, dass Israel gewillt ist, sich nuklear zu verteidigen, und dass seine Nuklearwaffen auch von einem gegnerischen nuklearen Erstschlag nicht ausgeschaltet werden können.

        Für eine derart veränderte Selbstdarstellung würden die Dolphin-U-Boote die zentrale Rolle spielen. Dass diese Boote Abschussrampen für nukleare Gefechtsköpfe sind, steht für den Autor Beres völlig außer Frage. Nicht nur das. Er geht noch einen Schritt weiter mit der Feststellung „the Dolphin-class submarine… was developed and constructed in Germany for the Israeli Navy’s specific needs.“

      2. Israelische Vorgaben

        Diese „specific needs“ sind von einer „Dolphin Israel Submariners Association“ unter dem Titel „The Dolphin Project“ im Internet relativ detailliert veröffentlicht worden. (submarines.dotan.net/dolphins/project.htm).
        Dies gehört offenbar zur Öffentlichkeitsarbeit der israelischen Seestreitkräfte. Zitat aus dem Text: (eigene Übersetzung)

        „Für die ganze Laufzeit des Projekts war ein Stab der <israelischen> Marine, zusammengesetzt aus erfahrenen U-Boot-Experten und U-Boot-Ingenieuren als Inspektionsteam auf alle wichtigen Baustellen entsandt worden.“

        Das heißt für die Werften in Deutschland in Kiel und in Emden: Die technologischen Vorgaben und die wichtigsten elektronischen Programme kamen aus Israel. Das betrifft die Sensoren, die Ortung, die Einbindung in das militärische Kommunikationssystem Israels, die Zielerfassung, das Führungs- und Waffeneinsatzsystem, die komplexe Systemkoordination – das sind nur ausschnittweise begriffliche Anhaltspunkte aus der genannten Veröffentlichung. Wir können sicher sein, dass noch viel hinzugedacht werden muss, was aber geheimgehalten werden soll.

      3. Made in Germany oder Made by Israel

        Eine dritte, in diesem Zusammenhang wichtige Veröffentlichung ist Ende Dezember 2018 auf der Internet-Plattform JNS (Jewish Newa Syndicate) (jns.org) unter dem Titel Germany’s role in the Israeli Navy’s developing submarine fleet erschienen; der Autor ist Yaakov Lappin.

        Lappin führt ein Interview mit dem Leiter des Forschungszentrums für maritime und politische Strategien an der Universität Haifa, Prof. Shaul Chorev, Flottenadmiral (a.D.). Chorev wird dabei bezeichnet als der erste Projektmanager der Dolphin-U-Boote an deutschen Werften – ich betone noch einmal: „Projektmanager“; nicht etwa nur „Inspektor“.

        Fügt man diese drei Texte zusammen, dann kann man kaum noch glauben, dass es sich bei den U-Booten der Dolphin-Klasse um deutsche Technologie-Entwicklungen gehandelt habe, abgesehen von dem Wasserstoffzellenantrieb. Für alles andere, für das Wesentliche eines hochkomplexen Waffensystems für die nukleare Kriegführung, rühmen diese israelischen Veröffentlichungen die Kooperation mit der Bundesregierung und den deutschen Werften quasi als ein eigenes israelisches Projekt in deutschen Werkstätten.

        Aus israelischer Sicht macht es Sinn, solche Produktionen ins Ausland zu dislozieren. In Kiel und in Emden ist das Risiko, während der Bauzeit von feindlichen Raketen getroffen zu werden, deutlich geringer als in Haifa. Und es macht Sinn, jemand Anderen dafür bezahlen zu lassen.

        Aus deutscher Sicht räumen diese Veröffentlichungen mit zwei Legenden auf:

        • Es ist nicht so, dass in Deutschland vergleichsweise harmlose Schiffe gebaut werden, in die später in Israel vergrößerte und nuklearfähige Torpedoschächte gebohrt würden.
        • Die Bundesregierung kann nicht mehr so tun, als wisse sie von nichts. Vielmehr wissen wir jetzt, dass dieses komplizierte Kooperationsprojekt von den beiden beteiligten Regierungen zusammen mit den Industriepartnern auf beiden Seiten bis ins Detail sorgfältig austariert worden ist.
    3. Veränderungen der deutschen Politik: Die Staatsräson schwächelt

      Die offizielle Begründung für die deutsche Israelpolitik ist immer von zwei Begriffen getragen worden: der Existenz Israels und der Sicherheit Israels.
      Rüstungsgeschenke, Rüstungsexporte von Deutschland nach Israel hat es – auch ohne „Staatsräson“ – schon lange vor der Rede der Kanzlerin vor der Knesset gegeben.

      Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte in den letzten Monaten seiner Amtszeit diktiert: „Was Israel für seine Sicherheit braucht, bekommt es.“
      Während der Regierungszeit von Angela Merkel hat sich die deutsche Haltung in mehreren Einzelaspekten dieser Politik verändert.

      Einerseits wurde die Übernahme der Kosten durch Deutschland heruntergefahren. Die ersten Boote wurden ganz von uns bezahlt, die Boote 4, 5 und 6 nur noch zur Hälfte und für drei nach 2027 geplante Boote ist für uns ein Höchstbetrag vorgesehen, der den Anteil auf ungefähr ein Drittel des Preises herunterfahren soll.

      Zum andern hat Deutschland begonnen, für unsere Beziehungen zu Israel zwar israelische Bedrohungsanalysen zur Kenntnis zu nehmen – aber unseren politischen Entscheidungen dann doch die eigenen deutschen Einschätzungen der Sicherheitslage Israels zu Grunde zu legen.

      Das kann man deutlich mit der Entwicklung der Beziehungen zu Iran in der Nuklearfrage nachzeichnen. Israel hat mehrfach versucht, Unterstützung für einen Militärschlag gegen das iranische Nuklearprogramm zu finden. Die Bedrohung der eigenen Sicherheit sei so akut, die roten Linien seien bereits klar überschritten, jetzt müsse gehandelt werden.

      Und wo stand da die Bundesregierung? Arm in Arm mit ihrer Staatsräson? Kühl abwehrend konnten wir feststellen, dass wir die Bedrohungslage anders einschätzen. Es sei immer noch die Stunde der Diplomatie. Als dann die USA auf Drängen Israels aus dem Abkommen ausstiegen, weil von Iran ausgehende Bedrohungen gegen Israels Sicherheit von dem Abkommen nicht erfasst würden, fühlte sich in Berlin niemand durch eine Staatsräson daran gehindert, wiederum auf Distanz zu gehen.

      Und schließlich hat die Bundeskanzlerin für die Lieferung des 6. U-Boots eine Rücktrittsklausel für den Fall eingefügt, dass in diesem Zusammenhang Korruption in Israel eine Rolle gespielt haben sollte.
      Was hatte Frau Merkel im Jahre 2008 vor der Knesset als Erläuterung gesagt: „Die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ 10 Jahre später wurde dieser Beitrag zur Sicherheit Israels plötzlich verhandelbar.

      Diese Sicherheit konnte jetzt sogar für verhältnismäßig kleine Münze hergegeben werden, für die eine oder andere Million Bestechungsgeld.

      Heißt das mit anderen Worten: Israels Sicherheit sei für uns nur noch dann relevant, wenn es dort mit rechten Dingen zugehe?
      So allgemein hat sie das offenbar nicht sagen wollen. Denn Deutschland und Israel haben 2017 ein memorandum of understanding ausgehandelt, mit dem die Absicht bekundet wurde, ab 2027 noch drei weitere U-Boote liefern zu wollen.

      Ich habe den Verdacht, dass diese Vereinbarung vor allem das Ziel hat, die Lebensdauer der Staatsräson über die Amtszeit Merkels hinaus zu retten.

      Die veröffentlichte Begründung für diese Verlängerung ist ärmlich: die drei ersten der gelieferten Boote seien „in die Jahre gekommen“. Gemeint ist etwas anderes: Die ersten drei Boote verfügten nur über Dieselmotoren. Sie können also durch Sensoren geortet werden. Trotzdem wird man diese Boote nun nicht gleich verschrotten.

      Wenn die Bundesregierung sagt, die früher gelieferten Boote sollten „ersetzt“ werden, dann vermeidet sie zu sagen, dass das Arsenal vergrößert wird. Nämlich durch die moderneren Dolphin-Boote, die vom Dieselantrieb jederzeit in den zusätzlich vorhandenen und nicht hörbaren Brennstoffzellenantrieb umgeschaltet werden können.
      Also: Nicht an die Stelle, sondern an die Seite der zuerst gelieferten drei U-Boote sollen nuklear zweitschlagfähige Boote treten.

      Parallel läuft ein weiteres Programm zur Seekriegsführung: 4 Korvetten der Sa’ar-6-Klasse sollen ebenfalls zu einem Drittel von Deutschland finanziert werden. Diese Schiffe erhalten sogenannte Tarnkappenoberflächen, mit denen die Radarortung erschwert wird. Diese Schiffe sollen dem Schutz israelischer Ölplattformen im Mittelmeer dienen.

      Die gleiche Funktion wird allerdings auch den als Dolphin 7, 8 und 9 bezeichneten U-Booten zugeschrieben. Von der Sicherung der Existenz Israels soll sich die Aufgabe der Staatsräson also weiterentwickeln hin zur Sicherung wirtschaftlicher Interessen Israels auch außerhalb der Hoheitsgewässer des Landes.

    4. Hat die Bundesregierung ihre Ziele erreicht? Ist Israel unangreifbar?

      Die deutsch-israelischen Beziehungen werden einen besonderen Charakter behalten. Wie der aussehen wird, wird auch davon abhängen, wie wir die bisher vergangene Zeit betrachten und beurteilen, in der wir U-Boote geliefert haben; mit der Staatsräson als spezifischer sicherheitspolitischer Richtlinie.

      1. Haben die U-Boote ihren beabsichtigten Zweck der Abschreckung erfüllt?

        Die ersten drei U-Boote wurden vor 20 Jahren geliefert. Weil dies historisch nur ein vergleichsweise kurzer Zeitraum ist, gehe ich zunächst der allgemeineren Frage nach, welche Abschreckungswirkung den israelischen Nuklearwaffen im Ganzen zugesprochen werden kann, seit diese Kapazität überhaupt bekannt ist, das heißt etwa seit dem Ende der sechziger Jahre.

        In dieser Periode hat es zweimal aus den umgebenden Ländern militärische Angriffe gegeben, mit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 und im Golfkrieg 1991.
        Im Jom-Kippur-Krieg hat Ägypten sogar ein erstes und für die ganze Geschichte der Existenz Israels einziges Mal die Schlacht eines Tages gewonnen.
        In ZEIT online hat der Journalist Rolf Steininger dies später mit den Worten kommentiert: „Der Jom-Kippur-Krieg im Herbst 1973 brachte Israel für einen Moment an den Rand des Untergangs.“

        Trotzdem hat dies keine nukleare Antwort aus Israel erhalten. Auch nach den irakischen Raketenangriffen auf Tel Aviv 1991 (bei denen anfangs der Verdacht bestand, Saddam Hussein werde chemische Waffen einsetzen), hat Israel – wie schon 1973 – mit Atomwaffen nicht einmal gedroht.

        Bei der Beantwortung der Frage, ob eine nukleare Abschreckung funktioniert hat, könnte schon ein einziger tatsächlicher Angriff zu der Schlussfolgerung führen, dass Israel sich auf diese Abschreckung nicht habe verlassen können. Und ein einziges Mal hätte für die Existenz Israels schon zu viel sein können.

        Allerdings war 1973 für die jetzt gestellte Frage nur zum Teil wirklich relevant.
        Einmal gab es damals nur Gerüchte über eine atomare Bewaffnung Israels und über das Vorhandensein der notwendigen Trägertechnologien.

        Zweitens: Der Angriff aus Ägypten führte über den Suezkanal in ein von israelischen Truppen besetztes Gebiet auf dem Sinai, also auf ägyptisches Territorium. Ich konnte das Schlachtfeld 6 Monate später besuchen und habe den begleitenden Offizier gefragt, ob die ägyptischen Militärstrategen nicht mit einem Nuklearschlag gerechnet hätten. Seine Antwort: Er wisse nicht, ob solche Fragen überhaupt gestellt wurden. Gegebenenfalls sei die Armeeführung der Überzeugung gewesen, Israel würde in einer solchen Situation nicht gewagt haben, gleich zur Massenvernichtung mit ungewissem nuklearen fall out zu greifen.

        Auch Syrien hat sich bei seinem gleichzeitigen Vormarsch von den Golanhöhen in das Jordantal nicht von israelischen Atomwaffen abschrecken lassen.

        Es hat danach nur noch einen nennenswerten professionell militärisch geführten Angriff gegen Israel gegeben – im Golfkrieg 1991.

        Auch dies war ein Sonderfall. 1991 waren die Raketen aus dem Irak gegen Israel ganz offenbar mit dem politischen Ziel abgefeuert worden, Israel zu einem Gegenschlag zu provozieren. Damit hätte sich Israel in das von den USA geführte Militärbündnis zur Befreiung Kuwaits eingereiht, mit der von Saddam Hussein erwünschten Folge, es würden sich dann deshalb andere arabische Länder aus diesem Bündnis zurückziehen. Also lieferten die USA schnell Patriot-Abwehrraketen und bombardierten irakische Abschussvorrichtungen.
        Ein israelischer Gegenschlag blieb aus, von einer nuklearen Antwort ganz zu schweigen. Festzuhalten bleibt aber, dass sich Saddam Hussein für seinen Angriff von israelischen Nuklearwaffen nicht hat abschrecken lassen!

        Die israelischen Atomwaffen schrecken auch niemanden davon ab, die eigene Rüstung nuklear ausbauen zu wollen. Die Entwicklung der letzten Wochen im Verhältnis USA/Israel zu Iran und ebenso das Beispiel Nordkorea zeigen deutlich, dass eine nukleare Aufrüstung politisch auch als eine wirksame Absicherung gegen Regime-Change-Versuche betrachtet werden kann.

        Die Frage lautete: Haben die gelieferten U-Boote mit ihrer nuklearen Kapazität erfolgreich vor Angriffen auf Israel abgeschreckt? Ich sehe dafür keinerlei Anhaltspunkte und muss die Frage deshalb verneinen. Ich vermute, dass auch das israelische Militär zu einem ähnlichen Urteil gekommen ist.

        Es ist ja erstaunlich, dass in der Korruptionsdebatte in Israel von Militärs gefragt wurde, ob Israel das U-Boot Nr. 6 wirklich benötige. Und: Es hat bisher keine israelischen Nukleartests gegeben. Es ist schwer vorstellbar, dass solche Waffen ohne systematische Testerfahrung wirklich eingesetzt werden könnten. Tatsächlich hatte es bei den Generälen von vornherein Einwände gegen den Aufbau einer U-Bootflotte gegeben, vor allem aus budgetären Gründen.
        Das heißt, die Boote wurden nicht als wichtig genug betrachtet – aus dem Budget für Verteidigung sollten dringendere Projekte bezahlt werden.

        Die israelischen Streitkräfte sind meines Erachtens überzeugt, mit ihrer überlegenen konventionellen Ausrüstung, ihrer professionell ausgebildeten Truppe, ihrem High-Tech-Nachrichtensystem, ihrer militärischen Führung und Taktik die nötige Abschreckung geliefert zu haben. Dazu gehört offenbar auch die regelmäßige Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Jeder Angreifer soll wissen: Israel schlägt sehr hart zurück.

      2. Schlussfolgerung

        Wenn Israel Jahrzehnte lang vor allem deshalb nicht angegriffen wurde, weil seine konventionellen Streitkräfte so überlegen waren, dann ist dies für die Bewertung des Nutzens der nuklearen Abschreckung ein negativer Befund. Und wenn dies für die nukleare Bewaffnung Israels insgesamt gilt, also für alle Trägersysteme zusammen, dann ist das historische Urteil über den militärischen Wert der deutschen U-Boote für sich genommen sehr eindeutig: Bisher ist keine abschreckende Wirkung erkennbar! Dass Provokationen aus dem Gazastreifen oder aus dem Libanon unter der Schwelle eines „Angriffskrieges“ geblieben sind, kann man nicht der Zweitschlagfähigkeit von U-Booten zugute halten.

        Auch aus der heutigen strategischen Betrachtung Israels als Nuklearmacht müssen wir feststellen:

        • Israel verfügt nicht über getestete Nuklearsprengkörper.
        • Israel hat keine für potentielle Angreifer erkennbare Nuklearstrategie.
        • Israel hat bisher keine nuklear bewaffneten Gegner.

        Die Frage nach einer erkennbaren Nuklearstrategie führt zurück auf den eingangs angedeuteten Begriff der Erstschlagkapazität. Von außen gesehen kann jeder Gegner feststellen, dass Israel niemals, auch nicht in höchster Bedrängnis, den strategischen Sprung von der konventionellen zur nuklearen Kriegführung vollzogen hat. Aber könnte sich z.B. Iran darauf verlassen?

        Jede Abschreckungspolitik zielt auf die Perzeption in der strategischen Analyse des Gegners. Gerade weil Israel sich fast grundsätzlich nicht an das Übermaßverbot hält und weil auch die Eskalation in den Atomkrieg eine Übermaßreaktion wäre, kann sich niemand auf Dauer auf eine entsprechende israelische Zurückhaltung verlassen. Vom iranischen Empfängerhorizont aus betrachtet verstärkt jeder Ausbau der israelischen Nuklearkapazitäten den Wunsch, seinerseits eine Zweitschlagkapazität zu besitzen.

        Deshalb müssen wir befürchten, dass die Staatsräson in der Form von Nuklearwaffenabschussplattformen politisch den Weg bereitet für eine nukleare Weiterverbreitung in der Region. Sie erzielt keine Abschreckung, sondern motiviert andere Staaten, sich selbst nuklear zu bewaffnen.
        Letztlich wird damit die Sicherheit Israels vermindert.

        Und trotzdem gibt es den schon erwähnten Text einer Regierungsvereinbarung, die diesen Zustand für die nächsten 20 Jahre zementieren möchte. Meines Erachtens müsste deshalb, bevor die Ausfuhrgenehmigungen für jedes der dann geplanten Boote erteilt werden, im Plenum des Bundestages das Pro und Contra geprüft werden.

        Denn was bleibt von diesen U-Booten für die Bundesrepublik mehr als die Genugtuung der Bundeskanzlerin, durchgezogen zu haben, was sie glaubte, moralisch tun zu müssen? Genugtuung, auch wenn der Gewinn für Israels Sicherheit nicht wirklich messbar geblieben ist? Hat Frau Merkel ein Mandat, ihre eigenen moralischen Bewertungen als obligatorisch für alle Deutschen gelten zu lassen? Unter dem Deckmantel des Basta!-Begriffs „Staatsräson“?
        Eines Begriffes, der alles Mögliche bedeuten kann, aber nur mit einer Bedeutung eindeutig ist: „Keine Diskussion“. Als ginge das die Deutschen gar nichts an. Meine moralische Verpflichtung aus dem Holocaust zwingt mich jedenfalls nicht, eine nukleare Aufrüstung zu unterstützen!

        Unsere moralisch/politische Verpflichtung gegenüber Israel müsste getragen sein von einer grundlegenden Achse:
        Nach dem Holocaust als der absoluten Leugnung rechtlicher Grenzen staatlichen Handelns müssen wir uns jetzt unabdingbar einsetzen für die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze im Inneren und völkerrechtlicher Bindungen nach außen. Einem Land, das sich von solchen grundlegenden Bekenntnissen zur Rolle des Rechts abwendet, müssen wir deutlich machen, dass dadurch unsere Kooperationsmöglichkeiten eingeschränkt werden.

        Für die friedenserhaltende Außenpolitik heißt das, dass wir uns gemeinsam mit Israel auf den Weg zu konfliktvorbeugenden Vereinbarungen machen müssen.

      3. Mehr Transparenz

        Dieser Paradigmenwechsel kann und darf nicht ohne die Öffentlichkeit geschehen. Wir müssen bei der Bundesregierung und bei den Abgeordneten auf Transparenz drängen. Den Wählern in der Bundesrepublik Deutschland und in Israel muss bewusst werden, dass wir nicht mehr bereit sind, Israel mit Rüstungsgütern zu unterstützen, wenn sich dieses Land geradezu grundsätzlich vom Völkerrecht verabschiedet!

        Bundeskanzlerin Merkel hat sich das Konzept Staatsräson sehr persönlich zu eigen gemacht. Das hängt möglicherweise eng mit ihrer freundschaftlichen Beziehung mit Shimon Stein zusammen. Inzwischen ist das Ende ihrer Kanzlerschaft absehbar. Deshalb müssen jetzt die Weichen neu gestellt werden.
        Vor der nächsten Wahl in der Bundesrepublik, vor der nächsten Koalitionsvereinbarung sollte eine klare Botschaft in die Öffentlichkeit gebracht werden: Unserer historischen Verpflichtung müssen wir mit einer Politik zum Frieden gerecht werden.
        Rüstungs-Geschenke mögen Sinn gemacht haben in den ersten Jahrzehnten des Staates Israel. Zwar wusste jeder, dass deutsche Verbrechen überhaupt nicht „wiedergutgemacht“ werden konnten. Aber wir sollten uns nicht mehr der Illusion hingeben, man könne sich von einer moralischen Last freikaufen.

        Der Begriff Staatsräson hat sich im deutschen Sprachgebrauch von Politikern und Medien festgesetzt.

        Wenn aber die Staatsräson in ihrem gewichtigsten Kern als schwach und nutzlos erkannt wird, dann sollte diese Entzauberung auch in die anderen Manifestationen dieser schillernden Denkfigur hineinwirken.

  3. Zusammenfassung meiner Thesen

    Zehn an der Zahl

    1. Bei den aus Deutschland nach Israel gelieferten U-Booten handelt es sich um israelische Systementwicklungen mit deutschem Antrieb, die Israel aus Sicherheits- und Finanzierungsgründen in Deutschland zusammenbauen lässt.
    2. Die Boote werden in Deutschland als nuklearwaffenfähige Abschussportale gebaut und nicht erst nach Auslieferung entsprechend verändert. Die Vereinbarkeit dieser Praxis mit deutschem Recht muss vorurteilslos überprüft werden.
    3. Die sicherheitspolitische Funktion dieser Waffensysteme besteht zurzeit darin, Israel eine nukleare Erstschlagfähigkeit gegen konventionelle Angriffe zu garantieren.
    4. Die Wirksamkeit nuklearer Abschreckung ist für Israel fraglich. Es ist nicht nachvollziehbar, warum trotzdem auf beiden Seiten die Absicht besteht, die U-Boot-Kooperation bis weit in die 2030er Jahre zu verlängern – weiterhin mit deutschem finanziellem Einsatz. Und dies inzwischen auch zum Schutz von wirtschaftlichen Interessen außerhalb seines Staatsgebiets!
    5. Der militärische Wert der Boote ist in Israel seit langem umstritten. Das gibt der Bundesregierung zunehmende politische Handlungsfreiheit.
    6. Bundeskanzlerin Merkel ist persönlich stark für Fragen der israelischen Sicherheit sensibilisiert. Das versperrt ihr – trotz zunehmend kritischer Beurteilung der israelischen Politik – die Einsicht, dass die deutsche Nahostpolitik eines Neuanfangs bedarf.
    7. Dieser Neuanfang muss von der deutschen Bevölkerung getragen werden.
      Es gibt keine Vergangenheitsbewältigung hinter verschlossenen Türen.
    8. Das Ende der Regierung Merkel ist der Moment für einen Politikwechsel.
      Wir dürfen der israelischen Regierung nicht länger erlauben, ihre atomare Aufrüstung in Deutschland voranzutreiben!
    9. Unsere moralische Verpflichtung für Israel muss als Friedenspolitik sichtbar werden. Und zwar auch in Israel in die Öffentlichkeit hinein.
    10. Wir müssen politische Konzepte entwickeln, die auch im Nahen Osten zu einem Paradigmenwechsel führen können:
      Von der nuklearen Abschreckung zur diplomatischen Entspannung.

    [«*] Gerhard Fulda, Jahrgang 1939, studierte in Hamburg und Freiburg Rechtswissenschaft sowie daran anschließend anderthalb Jahre in Kairo. Daraufhin promovierte er zum Dr. jur. Er war in mehreren arabischen Ländern als Diplomat tätig und war zuletzt von 2000 bis 2004 Botschafter in Indonesien. Fulda ist Mitgründer des Bündnisses zur Beendigung der israelischen Besatzung sowie Vizepräsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft und Mitglied im
    Beirat der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft.

    Titelbild: endlesssea2011 / Shutterstock