Armut unter Arbeitslosen: Wovor Politik und Medien die Augen verschließen

Armut unter Arbeitslosen: Wovor Politik und Medien die Augen verschließen

Armut unter Arbeitslosen: Wovor Politik und Medien die Augen verschließen

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Bei vielen Abgeordneten in den Parlamenten und bei vielen Journalisten in den Redaktionen der großen Medien gibt es kaum Vorstellungen davon, was es heißt, heutzutage in der Bundesrepublik arbeitslos zu sein.“ Das sagt Rainer Timmermann, der 30 Jahre in der Sozialberatung tätig war. Timmermann kennt die Probleme der Armen und Arbeitslosen genau. Im Interview mit den NachDenkSeiten verdeutlicht Timmermann, der als politischer Referent bei der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitsgruppen (KOS) arbeitet, dass die Corona-Krise zwar den Druck auf die Armen zusätzlich erhöhe. Doch bereits unter normalen Bedingungen müssten nicht wenige Betroffene um ihre Existenz kämpfen. Ein Interview über die Probleme der Armen und wie Lösungsmöglichkeiten aussehen können. Von Marcus Klöckner.

Wie real ist Armut unter Arbeitslosen?

In der Bundesrepublik galt beispielsweise im Jahr 2017 jede sechste Person als armutsgefährdet. Arbeitslose waren besonders gefährdet: Rund sieben von zehn Arbeitslosen galten als armutsgefährdet. Seitdem hat sich die Situation leider nicht wesentlich verbessert.

Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) hat vor Jahren festgestellt, dass Arbeitslose in Deutschland aufgrund von niedrigen Leistungen für sie in besonders hohem Maße der Gefahr von Armut ausgesetzt seien. Das Armutsrisiko Arbeitsloser in Deutschland sei höher als das in vielen anderen Industriestaaten.

Sie engagieren sich in einem Bündnis für Arbeitslose. Was hat es mit diesem Bündnis auf sich?

Das Bündnis „AufRecht bestehen“, an dem auch die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS) beteiligt ist, für die ich arbeite, hat sich vor einigen Jahren als bundesweit handelndes Bündnis von vor allem lokal oder regional tätigen Arbeitslosengruppen und Sozialberatungsstellen gegründet. Dies geschieht, um überregionale Probleme bei der Bewilligung und dem Zugang zu existenzsichernden Sozialleistungen rechtzeitig zu erkennen und ggf. darauf reagieren zu können. Es geht im Bündnis ferner darum, gemeinsam bundesweite Mitteilungen abgeben oder gemeinsame Anfragen oder Initiativen beispielsweise an die im Bundestag vertretenen Parteien schicken zu können. Ebenso geht es um gemeinsame politische Kampagnen.

Wie erleben Sie die Corona-Krise im Hinblick auf die Armen?

In der Corona-Krise sind Lebensmittel und hier vor allem Obst und Gemüse deutlich teurer geworden. Auch Masken und Desinfektionsmittel kosten Geld. Dafür ist in den bestehenden Sozialleistungsgesetzen aber nichts vorgesehen. Bisherige Unterstützungsangebote bei den Lebensmitteltafeln haben ihrerseits ihre Angebote verringert oder sogar eingestellt. Die Mitglieder des Bündnisses „Aufrecht bestehen“ fordern deshalb einen sofortigen Zuschlag von 100 Euro auf den Regelsatz.

Dazu kommen Probleme, die aus der flächendeckenden Schließung von Schulen und Kitas resultieren und die für viele Familien im Bezug von Sozialleistungen deutliche Einkommensverluste verursacht haben. Für die Betroffenen wird viel zu wenig gemacht.

Welche Probleme armer Familien meinen Sie konkret?

Für viele Kinder aus armen Familien – betroffen ist nach den offiziellen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit jedes fünfte Kind in Deutschland! – ist seit Mitte März das kostenfreie Mittagessen in der Schule oder der Kita entfallen. Aktuell hat die Regierung zwar beschlossen, dass arme Kinder in der Woche auch Schulessen erhalten sollen, wenn der Unterricht an ihrer Schule ganz oder teilweise nur zuhause stattfindet. Die Eltern der Betroffenen sollen das Geld nach dem Willen der Regierung aber offenbar auf keinen Fall direkt ausgezahlt bekommen.

Die Bundesregierung hat sich jedenfalls eine indirekte Lösung einfallen lassen: Die Caterer der jeweiligen Schule oder Kita sollen den Kindern das Essen in Essensboxen nach Hause liefern oder die Kinder sollen es sich direkt abholen können.

Wie soll das denn funktionieren?

Das weiß bisher niemand so genau. Interessant ist auch, dass die Regelung rückwirkend zum 1. März 2020 in Kraft treten soll. Das bedeutet allerdings nicht, dass wenigstens für März oder April Geld an betroffene Familien nachgezahlt wird. Vermutlich zielt es darauf, dass einige wenige Städte und Gemeinden, die schon vor Inkrafttreten der Lieferdienstregelung Möglichkeiten geschaffen hatten, damit betroffene Kinder an ihr kostenloses Mittagessen kommen können, diese Kosten nun auch über den Topf für Bildung und Teilhabe mit dem Bund abrechnen können.

Wie sieht es mit den notwendigen Lernmitteln für Kinder aus? Stichwort: Computer, Laptop?

Da gibt es ein großes Problem. Kindern in armen Familien fehlt oft ein Laptop, sie haben keinen Internetzugang. Wenn Unterrichtsmaterialien und Hausaufgaben von den Lehrern ins Netz gestellt werden, so erreichen diese schulischen Inhalte die betroffenen Schüler und Schülerinnen nicht oder höchstens mit erheblicher Verzögerung. Mittlerweile hat die Bundesregierung darauf reagiert. Sie will jetzt 150 Euro je bedürftigem Kind zur Verfügung stellen. Das ist allerdings zu wenig für ein vernünftiges Gerät, das länger halten soll. Die am Bündnis „AufRecht bestehen“ beteiligte Initiative Tacheles e. V. fordert zu Recht 500 Euro je Kind. Außerdem will die Bundesregierung das Geld dafür über die Bundesländer an die Schulen vor Ort verteilen, die dann geeignete Laptops anschaffen müssen. Über deren Verteilung sollen die Schulen vor Ort selbst entscheiden, nach ihren Maßstäben. Das alles wird noch Monate dauern und die Schulen vor große organisatorische Herausforderungen stellen, für die sie eigentlich personell gar nicht gerüstet sind.

Welche Probleme fallen Ihnen noch auf?

Es gibt viele Langzeitarbeitslose. So bekommen etwa sechs von zehn Arbeitslosen seit mindestens zwei Jahren Hartz IV, mit Unterbrechung von allenfalls ein paar Tagen. Das größte Problem für alle Bezieher und Bezieherinnen von Hartz IV, vor allem für Langzeitarbeitslose, ist, dass das Geld nicht reicht. Die Leistungen, und hier besonders der Regelsatz, sind einfach zu niedrig.

Wenn Menschen, insbesondere Alleinstehende, länger von Hartz IV leben, führt das zu einem regelrechten „Ausbluten“. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem es an nahezu allem fehlt. Wie sehen Sie das?

Das Leben mit Hartz IV ist unheimlich knapp. Es reicht gerade für das Nötigste. Jede überraschende Mehrausgabe – beispielsweise, weil der Kühlschrank kaputt geht und nicht mehr zu vertretbaren Kosten repariert werden kann, die Kinder beim Spielen sich die Hose aufreißen oder weil eine Stromnachzahlung fällig wird – wird da zu einem riesigen Problem. Spätestens dann, wenn nach ein, zwei Jahren Arbeitslosigkeit alle Rücklagen aufgebraucht sind.

Viele Betroffene versuchen sich daher etwas dazuzuverdienen. Andere Betroffene müssen ihr zu niedriges Erwerbseinkommen ohnehin mit Hartz IV aufstocken. Denn um Arbeitslosengeld II zu bekommen, muss man nicht etwa arbeitslos sein, der Begriff ist eine sprachliche Irreführung. Für einen Anspruch auf Leistungen reicht Einkommensarmut aufgrund einer mies bezahlten Beschäftigung aus. Doch Minijobs, Leiharbeit oder befristete Teilzeitstellen sind selbst prekäre Einkommensquellen. Beispielsweise, weil Leiharbeiter nach kurzer Zeit wieder entlassen werden. Oder, weil Arbeitgeber meinen, dass Minijobs Arbeitsverhältnisse zweiter Klasse seien, in der bestimmte Rechte, zum Beispiel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, nicht gelten würden. Recht bekommen und Recht haben sind da oft zwei verschiedene Paar Schuhe.

Was bedeuten die verhängten Sanktionen für die Betroffenen?

Natürlich sind diese weitreichend. Im Jahr 2018 sind etwa 9% aller Bezieher und Bezieherinnen von Hartz IV sanktioniert worden. Die ganz überwiegende Zahl von ihnen nicht etwa, weil sie eine Arbeitsaufnahme als unzumutbar abgelehnt oder eine bisherige Arbeit aufgegeben haben. Vielmehr haben sie einen der vielen Meldetermine beim Jobcenter verschwitzt. Aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Sanktionen und der Reaktion des Bundessozialministeriums darauf hat es hier jetzt eine Entspannung gegeben. Aktuell finden in der Corona-Krise nur noch Notfalltermine statt. Die Bundesagentur für Arbeit hat außerdem angekündigt, in der jetzigen Situation auf Sanktionen verzichten zu wollen.

Wie sieht es mit den Jobcentern aus? Kommen diese ihrer Verpflichtung nach, den Armen effektiv genug zu helfen?

Man weiß aus Befragungen, dass zu den rund 6 Millionen Menschen, die in der Bundesrepublik Hartz IV beziehen, noch viele andere kommen, die eigentlich auch Anspruch hätten, aber ihn nicht geltend machen. Diese „Dunkelziffer der Armut“ ist im Bereich der Grundsicherungssysteme erheblich. Schätzungsweise kommen auf drei Personen, die Hartz IV beziehen, zwei bis drei Personen, die eigentlich auch Anspruch haben. Neben Scham ist eine weitere wesentliche Ursache für die hohe Dunkelziffer fehlende Information über die gesetzlichen Leistungen, ihre Höhe und ihre Bedingungen. Darüber wird nirgends vernünftig aufgeklärt, kein Jobcenter macht das. Die Anträge sind außerdem kompliziert und lang. Unter 16 Seiten gehen Sie da nicht aus dem Amt. Dazu kommen je nach Lebenslage weitere Antragsformulare und Unterlagen, die man bei einem Erstantrag und z. T. auch später einreichen soll.

Es gibt also eine Hemmschwelle, die dazu führt, dass Menschen, die eigentlich Anspruch auf Hartz IV haben, die Hilfe nicht beanspruchen?

Ja, man könnte auch sagen, dass Angst vor dem Gang aufs Amt vorherrscht. Im Bekanntenkreis kursiert manche böse Geschichte, auch in den Zeitungen finden sich entsprechende Berichte. Viele Menschen befürchten, dass das Jobcenter kein Ort ist, an dem nur freundliche Mitarbeiter herumlaufen, die möglichst unkompliziert und schnell helfen wollen.

Ist es nicht auch so, dass die Mitarbeiter in den Jobcentern in einer nicht ganz so einfachen Position sind? Sind diese nicht auch einem Druck ausgesetzt?

Das stimmt. Die Jobcenter werden zentral von oben gesteuert. Jedes Jobcenter hat einen Etat, dieser muss natürlich eingehalten werden. Sie können davon ausgehen, dass die Sachbearbeiterin mit den höchsten Ausgaben pro „Zahlfall“ bei der jeweiligen Jobcenterleitung nicht begeistert betrachtet wird. Die Mitarbeiter in den Jobcentern haben häufig genug selbst nur befristete Arbeitsverträge. All das macht sie druckempfindlich. Und natürlich nehmen die Sachbearbeiter auch die gesellschaftliche Stimmung gegenüber Arbeitslosen und Armen auf.

Das führt dann beispielsweise dazu, dass erwerbstätigen Personen, die einen Antrag stellen wollen, manchmal in sogenannten „Ad-hoc-Beratungen“ am Eingangstresen gesagt wird, sie hätten keinen Anspruch auf Leistungen. Ein genaues Nachrechnen in einer Beratungsstelle ergibt jedoch, dass die Familie mehrere hundert Euro Arbeitslosengeld II bekommen könnte.

Durch die Corona-Pandemie wurde nun einiges vereinfacht.

Das stimmt. Allerdings sehen wir nun andere Probleme. Bis auf wenige Ausnahmen ist derzeit die persönliche Vorsprache bei den Behörden nicht gestattet. Nach Erfahrungen der Mitglieder des Bündnisses „AufRecht bestehen“ gibt es in einigen Jobcentern Probleme und Verzögerungen bei der Bewilligung von Arbeitslosengeld II/Sozialgeld. Das führt bei Antragstellenden nicht selten zu existenziellen Notlagen. Zwar funktioniert die Kommunikation per Telefon und E-Mail in einigen Jobcentern tadellos. Andernorts ist es für Leistungsberechtigte kaum möglich, die zuständigen Sachbearbeiter telefonisch zu erreichen oder Leistungsangelegenheiten per E-Mail zu klären. Schwierig ist häufig auch der Kontakt mit der Service-Hotline der Jobcenter. Die telefonischen Auskünfte dort sind meist ungenügend und auf den zugesagten Rückruf der zuständigen Jobcenter-Mitarbeiter warten Betroffene oft vergeblich.

Was heißt es für die betroffenen Antragsteller, wenn Jobcenter nicht erreichbar sind oder bei der Bewilligung oder Bearbeitung von Anträgen nicht schnell genug vorankommen?

Das kann im Einzelfall dramatische Folgen haben, besonders wenn schwierige Sachverhalte geklärt werden müssen, um erstmals Leistungen vom Jobcenter zu erhalten oder um den laufenden Bezug von Leistungen sicherzustellen. Oft vergehen Wochen und Monate, bis alle Probleme per Telefon, E-Mail oder Briefpost aus dem Weg geräumt sind und dringend benötigte Leistungen zum Lebensunterhalt gezahlt werden.

Bis dahin müssen die Leute von irgendetwas leben. Wer Glück hat, kann sich vielleicht etwas von Verwandten oder Freunden leihen, bis das Jobcenter endlich nachzahlt. Aber nicht alle Antragstellenden haben Verwandte oder Freunde mit Geld. Häufig entstehen so Mietschulden, die schnell zur Wohnungskündigung führen können, besonders wenn der Vermieter auf so eine Gelegenheit nur gewartet hat. Dann droht Obdachlosigkeit. Wer die monatliche Abschlagsrate für Strom oder Gas nicht mehr überweist, dem droht eine Energiesperre. Und wer kein Geld mehr auf dem Bankkonto oder im Geldbeutel hat, dem droht Hunger. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Einzelfall, in dem eine verzweifelte Mutter begonnen hatte, das Spielzeug ihrer Kinder zu verkaufen, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste.

Können Sie den Arbeitslosen helfen?

Ich selbst habe insgesamt rund dreißig Jahre in der Sozialberatung gearbeitet, wenn ich die ehrenamtlichen Zeiten mitrechne. In dieser Zeit habe ich erfahren, dass man für viele Betroffene Probleme lösen kann. Das endet jedoch an den Grenzen der bestehenden Gesetze und Förderprogramme. Und die sind, über die dreißig Jahre gesehen, in vielen Bereichen immer schlechter geworden, weil man im politischen Raum und in den Medien die Arbeitslosen und die Menschen mit wenig Geld immer stärker zum Hauptverantwortlichen ihrer Lebenssituation gemacht hat. Das schlägt sich dann schnell auf das Bewusstsein vieler Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Behörden vor Ort nieder. Auch die Betroffenen nehmen die über sie kursierenden Bilder wahr und lassen sich oft genug davon beeindrucken.

Inzwischen mache ich selbst keine Beratung mehr. Aber nach allem, was ich von den Kollegen und Kolleginnen von „AufRecht bestehen“ höre, sind deren Erfahrungen noch immer ähnlich. Das Hauptproblem vieler Ratsuchenden, dass die gesetzlich vorgesehenen Sozialleistungen zu niedrig sind und das Geld deshalb zu wenig ist, das kann auch die beste Beraterin oder der beste Berater nicht lösen. Hier hilft nur eines: Die Leute müssen sich selbst organisieren und sich dagegen zur Wehr setzen, wie mit ihnen umgegangen wird.

Warum fordern Sie eine Erhöhung des Regelsatzes?

Als dessen Grundlagen das letzte Mal im Jahr 2016 auf Grundlage der damaligen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) neu festgelegt wurden, hat sich die Bundesregierung statistischer Tricks bedient, um das Existenzminimum kleinzurechnen.

Wie denn das?

Man hat es versäumt, die verdeckt Armen konsequent aus der Gruppe derer herauszunehmen, deren Einkommens- und Ausgabenverhältnisse zur Grundlage der Bestimmung des Regelsatzes gemacht worden sind. Das Ergebnis ist ein statistischer Zirkelschluss: Ausgaben von Menschen mit einer Einkommenshöhe, die nicht armutsfest ist, dienen als Grundlage für die Berechnung der angemessenen Höhe des Regelsatzes für arme Menschen. Die Bundesregierung hat das Problem noch zusätzlich dadurch verschärft, dass nur noch die Ausgaben der untersten 15 Prozent der Einkommen überhaupt in die Berechnung des Eckregelsatzes mit eingeflossen sind. Vorher waren es noch die unteren 20 Prozent der gesamten Einkommen in Deutschland gewesen.

Außerdem, und das ist ein weiterer entscheidender Punkt, hat man höchst willkürlich bestimmte Ausgaben aus der Berechnung herausgenommen – beispielsweise für Tannenbäume zu Weihnachten, für Schnittblumen und Gartenpflege, für den Besuch einer Gaststätte, für Alkohol- und für Tabakwaren. Diese „nicht regelsatzrelevanten“ Ausgaben haben einige der in der EVS erfassten Personen mit niedrigem Einkommen aber tatsächlich getätigt. Wenn man den Durchschnittswert daraus bei allen Armen streicht, betrifft das auch nicht nur etwa die Trinker von alkoholischen Getränken oder die Raucherinnen, auf die man gerne mit moralischer Empörung herabblickt. Auch Personen, die ihr Geld für etwas anderes ausgegeben haben, kürzt man so die Leistungen. Denn auch die bekommen aufgrund der Streichung dieser Ausgabenpositionen weniger Geld.

Das heißt also: Der Regelsatz ist grundsätzlich zu niedrig bemessen?

Ja, und das heißt konkret: Wer heute Hartz IV bezieht, der muss als alleinstehende Person von 432 EUR leben. Sonst, also z. B. in einer Ehe oder als Jugendlicher, von noch weniger. Von dem Regelsatz soll man nicht etwa nur Nahrung kaufen. Sondern laufende Kosten für Mobilität und Strom, Kleidung und Hausrat und manches mehr bezahlen. Dafür reicht das Geld auch ohne besondere Belastungen kaum aus. Betroffene leben von der Hand in den Mund.

Die Politik zeigt sich bezüglich der Forderungen, die ja nun schon etwas länger von unterschiedlicher Seite artikuliert werden, sehr entspannt.
Was ist Ihr Eindruck?

Bei vielen Abgeordneten in den Parlamenten und in den Redaktionen der großen Medien gibt es kaum Vorstellungen davon, was es heißt, heutzutage in der Bundesrepublik arbeitslos zu sein. Viele dort haben bis vor kurzem geglaubt, dass das Problem im Grunde genommen gelöst sei – trotz mehr als zwei Millionen offiziell bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeter Arbeitsloser bzw. etwa dreieinhalb Millionen sogenannter „Unterbeschäftigter“.

Krisenzeichen wie z. B. die mit rund sechs Millionen Leistungsbeziehenden seit Einführung von Arbeitslosengeld II im Grunde stabile Größe der Hartz-IV-Bezieher und ihrer Angehörigen wurden und werden offenbar nicht zur Kenntnis genommen. Häufig werden die Probleme von Arbeitslosigkeit und Armut auch nicht als Ausdruck der Krisenhaftigkeit des Arbeitsmarkts in einer kapitalistischen Wirtschaftsform und auch nicht als Problem systematischer Lücken in den Sozialleistungsgesetzen wahrgenommen. Vielmehr sieht man solche Probleme eher als Ausdruck individuellen Versagens der Betroffenen oder bestenfalls als Ergebnis von Schicksalsschlägen. Auch die hohe Zahl erwerbstätiger Armer, deren Einkommen nicht zu einem menschenwürdigen Leben reicht, wird nicht als grundlegendes gesellschaftliches Problem erkannt. Stattdessen wird im politischen Raum oft darauf verwiesen, dass die bestehenden Leistungen doch ausreichend seien.

Ein Gedankenspiel: Mal angenommen, Sie wären Politiker. Was würden Sie unternehmen, um das Armutsproblem richtig anzugehen?

Die Weltformel hätte ich auch nicht. Es käme vielmehr darauf an, eine langfristige Strategie zur Überwindung des Armutsproblems zu entwickeln.

Im ersten Schritt sollten die Leistungen der Grundsicherungssysteme deutlich verbessert werden. Dazu ist zunächst eine deutliche Erhöhung des Regelsatzes erforderlich. Dieser müsste fair und transparent bemessen werden und armutsfest seien. Das würde vor allem bedeuten, dass willkürliche Streichungen in diesem Bereich entfallen. Die Wissenschaftlerinnen Dr. Irene Becker und Dr. Verena Tobsch haben dazu sehr gute Vorschläge gemacht.

Darüber hinaus sollte die Erreichbarkeit der Ämter erhöht werden. Das Antragsverfahren für Betroffene sollte erleichtert werden und auch formlos möglich sein. Leistungsberechtigte müssen eine niedrigschwellige Möglichkeit haben, ihre Anliegen vorzubringen. Bisherige Einbehaltungen und Kürzungen bei den Regelsätzen einschließlich der Sanktionsregelungen sind abzuschaffen. Die Kosten der Unterkunft sind, von wenigen Extremsituationen abgesehen, grundsätzlich in voller Höhe zu bewilligen. Bestehende Leistungsausschlüsse von Studierenden sind abzuschaffen, die von Arbeitnehmern mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit auch. Alle im Hartz-IV-System bisher nicht regulär leistungsberechtigten Bürger der EU und Drittstaatsangehörige sollten zumindest ungekürzte Überbrückungsleistungen nach § 23 SGB XII erhalten.

Und weiter? Längerfristig?

Prekäre Arbeitsverhältnisse müssten in reguläre Arbeitsverhältnisse überführt werden, soweit das irgend möglich ist. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse müssten deshalb möglichst abgeschafft werden. Im ersten Schritt sollte die Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung drastisch abgesenkt werden. Werkverträge sollten bis auf wenige Ausnahmefälle untersagt werden. Leiharbeit müsste deutlich besser bezahlt werden als bisher, zumal ihre Bedingungen schlechter sind als die in regulärer Beschäftigung. Auftragnehmer müssten für die Einhaltung von sozialen und arbeitsrechtlichen Bestimmungen einschließlich derer des Mindestlohns auch in Bezug auf von ihnen beauftragte Subunternehmen haften. Der Mindestlohn muss deutlich erhöht werden. Er soll auch in Bezug auf die Honorare von Selbstständigen gelten und die staatlichen Einrichtungen müssen in die Lage versetzt werden, die Einhaltung des Mindestlohns besser zu überwachen.

Des Weiteren müssen die bisher den verschiedenen Grundsicherungsleistungen vorgelagerten Sozialleistungssysteme armutsfest gemacht werden. Das würde beispielsweise einen massiven Ausbau der Arbeitslosenversicherung erfordern. Der Arbeitslosengeldbezug sollte wesentlich verlängert werden. Auch die Höhe des Arbeitslosengeldes sollte verbessert werden. Sperrzeiten sind abzuschaffen.

Außerdem wäre eine deutliche Arbeitszeitverkürzung wichtig, damit möglichst alle arbeiten können, die das wollen. Ebenso müsste vermehrt in die nachhaltige Infrastruktur dieser Gesellschaft investiert werden, um notwendige Bedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit und menschenwürdige Pflege für alle Mitglieder der Gesellschaft befriedigen zu können.

Titelbild: Alex Mit / shutterstock.com

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