Kiewer Rechtsanwalt Walentin Rybin: „Ich fürchtete um mein Leben“

Kiewer Rechtsanwalt Walentin Rybin: „Ich fürchtete um mein Leben“

Kiewer Rechtsanwalt Walentin Rybin: „Ich fürchtete um mein Leben“

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Walentin Rybin ist einer der bekanntesten Rechtsanwälte der Ukraine. Er hat in den letzten acht Jahren vor Gericht ausschließlich Menschen verteidigt, die aus politischen Gründen angeklagt wurden. Zu seinen Mandanten gehörte der Oppositionspolitiker Viktor Medwedtschuk, der in Spanien lebende ukrainische Video-Blogger Anatoli Schari sowie einfache Bürger, die man verdächtigte, Separatisten oder Russland zu unterstützen. Weil ukrainische Nationalisten ihm mit Gewalt drohten, verließ er im März 2022 die Ukraine. Im September 2022 entzog ihm die Assoziation der Anwälte der Ukraine die Zulassung als Anwalt. Heute lebt Rybin in Sewastopol auf der Krim. Das Interview mit dem Rechtsanwalt führte Ulrich Heyden.


Zur Person

Walentin Rybin ist 44 Jahre alt. Er wurde 1978 in Chabarowsk, einer Stadt im Fernen Osten von Russland geboren. Von 1984 bis 2022 lebte er in der Ukraine. 2002 schloss er eine Ausbildung als Jurist an der Nationalen Akademie der ukrainischen Innenbehörde ab. Bis 2006 unterrichtete er an dieser Akademie an der Fakultät Staatstheorie und Recht. 2006 erhielt er die Zulassung als Anwalt. 2021 bekam er die Auszeichnung „verdienter Anwalt der Ukraine“. Im September 2022 entzog ihm die Assoziation der Rechtsanwälte der Ukraine die Zulassung als Anwalt.


Sie haben die Ukraine im März 2022 verlassen. Warum?

In der Ukraine war mein Leben bedroht. Ende Februar dieses Jahres wurden in Kiew unkontrolliert Waffen ausgegeben. Die Leute begannen, sich zu bewaffnen, und sie schossen ohne nachzudenken auf jeden, der ihrer Meinung nach verdächtig aussah. Außerdem begann der ukrainische Geheimdienst SBU, alle zu verhaften und hinter Gitter zu stecken, die für gute Beziehungen zu Russland eintraten. Viele Journalisten, Fernsehmoderatoren und Schriftsteller kamen ins Gefängnis. Ich verstand, dass jeden Moment der SBU – oder noch schlimmer – bewaffnete Nationalisten zu mir kommen können.

Gab es konkrete Drohungen gegen Sie? Welcher Art und von wem?

Radikale Nationalisten drohten mir mit Gewalt. 2017 wurde ich vor einem Gericht in der Stadt Tschernomorsk angegriffen. Da wurde mir Gas ins Gesicht gesprüht. Die Polizei schaute zu und schritt nicht ein. 2018 wurde mein Auto auf einem Parkplatz angezündet.

An welchen Gerichtsprozessen in der Ukraine waren Sie als Anwalt beteiligt? Worauf sind Sie stolz?

Ich war an vielen Prozessen beteiligt. Sie waren alle schwierig und interessant. Ich konnte erreichen, dass alle meine Mandanten freigelassen wurden. Manche konnten die Ukraine im Rahmen eines Gefangenenaustausches mit Russland verlassen. Einige wurden freigesprochen. Einige wurden aus dem Gefängnis entlassen und bekamen andere Strafen.

Als Sie die Ukraine im März verließen, sind Sie durch Westeuropa gereist. Was war das Ziel Ihrer Reise? Hatten Sie in Westeuropa Kontakte mit Menschenrechtlern, Politikern und Journalisten? Interessierten sich die Menschen in Deutschland für Ihre Berichte? Oder zeigte man Ihnen die kalte Schulter?

Wissen Sie, ich fuhr mit meinen Kindern und Eltern nach Europa, um sie zu retten. In Europa habe ich mich mit niemandem getroffen. Für mich hat sich niemand interessiert, außer meine Freunde in Russland, welche mir Geld zum Leben schickten. Menschen mit prorussischen Ansichten habe ich in Europa nicht getroffen, außer einen guten Menschen mit dem Namen Lew.

Können Sie die Situation in der Ukraine im März 2022 genauer beschreiben? Was für eine Stimmung herrschte damals in oppositionellen Kreisen? Wer bedrohte Oppositionelle? Was wurde Ihnen von den Medien vorgeworfen? Wie viele Verhaftungen von Oppositionellen gab es im März 2022?

Eine Opposition in der Ukraine gab es praktisch nicht. Es gab nur eine „Opposition auf dem Papier“. Das begann bereits im Februar 2014. Damals wurde mit der Opposition kurzer Prozess gemacht: Oppositionelle warf man bei lebendigem Leibe in Müllcontainer, sie wurden ermordet, sie wurden strafrechtlich verfolgt …

Angesichts dieser Entwicklungen verhielten sich Oligarchen wie Viktor Medwetschuk[1], Rabinowitsch[2] und Bojko[3] und andere Mitglieder der „Opposition auf dem Papier“ ruhig. So hofften sie, ihr Geld und ihr Business zu behalten.

Leider gibt es in der Ukraine keine politische Opposition. Es gibt nur feige Räuber und Banditen, die das Volk ausplündern.

Die Oppositionellen, das waren einfache Journalisten, Schriftsteller, Fernsehmoderatoren, einfache Bürger, die ihre Meinung gesagt haben, welche sich von Selenskis offizieller Position unterschied. All diese Leute wurden schon Ende Februar dieses Jahres vom SBU und anderen Sicherheitskräften verfolgt. Viele landeten im Gefängnis, einige gelten als vermisst. Der Staat kümmert sich nicht, wegen der Verletzung der Menschenrechte.

Im Gefängnis landete Jan Taksjur, ein russisch-orthodoxer Journalist, Schriftsteller und Satiriker. Auch die Aktivistin und Menschenrechtlerin Jelena Bereschnaja landete im Gefängnis. Im Gefängnis befinden sich außerdem die Brüder Aleksandr und Michail Kononowitsch, ukrainische Kommunisten, die von der Macht wegen ihrer politischen Position verfolgt werden.

Welche ukrainischen Oppositionellen, die im Ausland leben, treten noch öffentlich auf? Riskieren sie, dass Kiew ihre Verwandten unter Druck setzt?

In letzter Zeit höre ich überhaupt nichts von der Opposition. Wer ist das? Medwedtschuk, Dobkin[4], Murajew[5], Wilkul[6], Portnow[7]. Viktor Medwedtschuk wurde vom SBU verhaftet. Er wurde gegen 115 ukrainische Gefangene ausgetauscht[8]. Von ihm hört man nichts. Michail Dobkin hat einen „fliegenden Wechsel“ vollzogen. Er verhält sich jetzt wie ein ukrainischer Nationalist. Murajew und Portnow befinden sich in Österreich. Von ihnen ist nichts zu hören.

Niemand von diesen Leuten will etwas riskieren. Wozu auch? Sie sind allesamt politische Leichen. Wahrscheinlich wird es in der Ukraine sehr lange keine Opposition geben. Zumindest solange der Konflikt andauert.

Warum schweigen die Menschen in der Ukraine, die Russland nicht für einen Feind halten? Warum hören wir aus der Ukraine keine kritischen Stimmen mehr?

Weil das lebensgefährlich ist. Die Mehrheit der Menschen in der Ukraine sieht Russland seit Februar als Feind. Viele sehen nicht, was acht Jahre im Donbass passiert ist, und viele haben aktiv die Russophobie und die von Kiew durchgeführte „Antiterroristische Operation“[9] unterstützt.

Jetzt leiden diese Menschen – so wie die Bevölkerung im Donbass – und natürlich suchen sie Schuldige. Putin und die russischen Streitkräfte kann man nicht erreichen, aber Andersdenkende in der Ukraine schon. Deshalb ist es lebensgefährlich, seine Meinung in der Ukraine zu sagen.

Verstärken die russischen Luftschläge auf das Stromnetz den Hass der Ukrainer auf Russland? Oder bewirken die Luftschläge, dass die Regierung in Kiew und die Bevölkerung verstehen, dass man sich mit Russland einigen muss?

Ich denke, dass die Menschen es nicht begrüßen, wenn in ihren Häusern der Strom ausfällt und es weder Wasser noch warme Heizungen gibt. Ich möchte anmerken, dass eine Vereinbarung über die Sicherheit in der Region eines der Ziele des russischen Militärs ist.

Ich hoffe darauf, dass die ukrainische Regierung sich auf Verhandlungen zur Beendigung des Konflikts einlässt.

Wie beurteilen Sie eine Meinungsumfrage, die in der Ukraine im Oktober durchgeführt wurde, nach der nur zehn Prozent der Bevölkerung für Friedensverhandlungen sind, 86 Prozent aber den Krieg fortführen wollen?

Wir sehen, dass die Mehrheit der Ukraine die Ursache des Konfliktes und mögliche Varianten seiner Entwicklung nicht versteht. Es ist schrecklich, dass die Ukrainer nicht verstehen, dass der Westen sie benutzt.

Wann wird Kiew zu Friedensverhandlungen bereit sein?

Ich glaube, zum Frühjahr 2023 wird sich die Rhetorik von Kiew ändern. Die menschlichen Ressourcen in der Ukraine sind nicht unerschöpflich, die Wirtschaft und die soziale Sphäre befinden sich in einem schlimmen Zustand.

Wie viele Menschen sitzen jetzt aus politischen Gründen in ukrainischen Gefängnissen? Wie viele Ausländer? Und aus welchen Ländern kommen diese Ausländer?

Ich kann mit Sicherheit sagen, dass in der Ukraine einige Tausend Menschen aus politischen Gründen im Gefängnis sitzen. Wie viele von ihnen Ausländer sind, ist schwer zu sagen, aber ich denke, dass es viele sind. Die Mehrheit sind Bürger der Ukraine.

Tauschen die Ukraine und Russland nur Soldaten aus oder auch Zivilisten?

Leider habe ich noch nichts davon gehört, dass nach dem Februar 2022 auch politische Gefangene ausgetauscht wurden. Wir hören vom Austausch von Soldaten. Ich weiß nicht, warum keine Zivilisten ausgetauscht werden. Vielleicht, weil Russland dazu jetzt keine Zeit hat. Aber ich und meine Kollegen sammeln Informationen über politische Gefangene und übergeben Listen an die Beauftragten für Menschenrechte der Russischen Föderation.

Haben Sie 2014 erwartet, dass der Nationalismus in der Ukraine sich auf das Niveau steigert, welches er heute erreicht hat?

Natürlich nicht. Ich hätte mir nicht im Traum vorstellen können, dass wir so ein Niveau erreichen. 2014 habe ich sehr darauf gehofft, dass sich die Situation friedlich regeln lässt.

Womit beschäftigen Sie sich jetzt?

Ich habe einen russischen Pass beantragt und studiere jetzt das russische Rechtswesen. Ich möchte in Russland Rechtsanwalt werden. Ich bin davon überzeugt, dass ich Russland von Nutzen sein werde und dass ich mich realisieren kann als anerkanntes Mitglied der russischen Gesellschaft.


[«1] Viktor Medwedtschuk, Jurist, Unternehmer. Er war von 2002 bis 2005 Leiter der ukrainischen Präsidialverwaltung und 2018 bis 2022 Leiter der „Oppositionsplattform – für das Leben“. Wladimir Putin ist Patenonkel einer Tochter von Medwedtschuk.

[«2] Wadim Rabinowitsch, Unternehmer, einer der Vorsitzenden der „Oppositionsplattform – für das Leben“. Bis zum 3. November 2022 war er Abgeordneter der Werchowna Rada.

[«3] Juri Bojko, 2012 bis 2014 Vizeministerpräsident der Ukraine, Co-Vorsitzender der „Oppositionsplattform – für das Leben“, seit 2014 Abgeordneter der Werchowna Rada

[«4] Michail Dobkin, Unternehmer, 2010 bis 2014 Vorsitzender der Gebietsverwaltung von Charkow und Gebietsleiter der Partei der Regionen.

[«5] Jefgeni Murajew, Unternehmer, 2014 Gründer des oppositionellen Fernsehkanals NewsOne, 2018 Gründer des oppositionellen Fernsehkanals Naschi

[«6] Aleksandr Wilkul, bis 2019 führende Positionen in der Oppositionsplattform – für das Leben. Seit 27. Februar 2022 Leiter der ukrainischen Militärverwaltung von Kriwoi Rog.

[«7] Andrej Portnjow, Jurist, 2011 bis 2014 Berater von Präsident Viktor Janukowitsch

[«8] Viktor Medwedtschuk befindet sich nach Angaben des Nachrichtenportals Lenta.ru in Russland. Das Portal beruft sich den türkischen Präsidenten Erdogan, unter dessen Aufsicht der Austausch von Medwedtschuk und ukrainischen Kriegsgefangenen Ende September 2022 in Ankara stattfand.

[«9] Am 14. April 2014 unterzeichnete der ukrainische Übergangspräsident Aleksandr Turtschinow den Erlass für eine „Antiterroristische Operation“ gegen die Menschen in den Gebieten Lugansk und Donezk, welche mit der Forderung „Föderalisierung der Ukraine“ Verwaltungsgebäude besetzt hatten.