„Wir müssen unsere Krankenhäuser unbedingt selbst verteidigen!“

„Wir müssen unsere Krankenhäuser unbedingt selbst verteidigen!“

„Wir müssen unsere Krankenhäuser unbedingt selbst verteidigen!“

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und seine Berater verkaufen den geplanten Großumbau der deutschen Kliniklandschaft als „alternativlos“ und verschweigen sowohl das Ausmaß als auch die Profiteure des intendierten Kahlschlags. Kein Blatt vor den Mund nimmt Carl Waßmuth vom Verein Gemeingut in BürgerInnenhand. Seine Warnung im Interview mit den NachDenkSeiten: „Diese Reform wird tödlich!“ Im wahrsten Sinne des Wortes lebenserhaltend wirkt dagegen das von ihm präsentierte Gegenkonzept. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Waßmuth, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wird nicht müde zu behaupten, Kern seiner geplanten großen Krankenhausreform wäre die „Entökonomisierung“ der Versorgungsstrukturen. Nehmen Sie ihm das ab?

Was Karl Lauterbach mit Entökonomisierung meint, soll er noch einmal erklären. Sein Vorhaben ist an Niedertracht kaum zu überbieten. Hunderte Krankenhäuser sollen geschlossen werden, damit private Anbieter noch mehr Marktanteile bekommen und im Personalüberschuss der gekündigten Beschäftigten abgewickelter Kliniken baden, sich also die Leute aussuchen und die Löhne drücken können. Aber Lauterbach und seine Berater trauen sich nicht, eine Liste zu erstellen, auf der steht: „Diese 700 Kliniken schaden unserem Gesundheitssystem. Erst wenn sie weg sind, werden die Leute besser versorgt.“

Das würde ja auch keinem Mensch einleuchten.

Genau. Und deshalb veranstaltet der Minister ein gigantisches Tribute-von-Panem-Spiel: Die Schraubzwinge wird so zugedreht, dass 700 Kliniken ihr Angebot drastisch reduzieren müssen und die meisten davon pleitegehen. Krankenhäuser werden als Markt angesehen und in dieser Reformrunde geht es brutal um Marktanteile. Die öffentlichen und freigemeinnützigen Träger sollen verdrängt werden. Kern der Reform ist die ordnungspolitische Abschaltung hunderter Kliniken zugunsten privater Konzerne. Man könnte auch den Autofirmen sagen: „Die Hälfte eurer Autos ist zu gefährlich. Die dürft ihr nicht mehr bauen. Betreibt stattdessen Tankstellen.“ Die IG Metall würde Sturm laufen. Im Bereich der Krankenhäuser sind viel mehr Beschäftigte betroffen, mindestens 150.000.

Was Sie beschreiben, ist ein Teil der Reform. Der zweite Vorschlag der von Lauterbach eingesetzten Krankenhauskommission zielt darauf, das Fallpauschalensystem entlang der sogenannten Diagnosis Related Groups (DRGs) zumindest zu beschränken und durch ein System der Vorhaltepauschalen zu ergänzen. Kommt das für Sie nicht überraschend? Schließlich war es Lauterbach selbst, der die Fallpauschalen vor 20 Jahren an der Seite von Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) durchgedrückt hatte. Ist der SPD-Mann wenigstens um ein bisschen Wiedergutmachung bemüht?

Herr Lauterbach gehört inzwischen zu einer neuen Kategorie von Politikern. Wir hatten in Deutschland durchaus schon das Phänomen, dass bei Reformen herumgedruckst wurde, um davon abzulenken, worum es eigentlich geht. Aber die Begleitprosa hatte doch noch irgendetwas mit dem Thema zu tun. Bei Herrn Lauterbach ist das anders: Er hat kein Problem damit, das Gegenteil vom Offensichtlichen zu behaupten. Auch sich selbst zu widersprechen, macht ihm nichts aus, so wenig wie Donald Trump oder Boris Johnson.

Im vorliegenden Fall verhilft er den privaten Kliniken und Anlegern in Medizinische Versorgungszentren, sogenannte MVZ, über reformierte Fallpauschalen zu neuen Renditen. Im Sinne seiner Klientel agiert er völlig stringent und rational, es ist knallharte Ökonomie, die er bedient. Er sagt, die Preise für die DRGs würden etwas verändert, aber das Geld sei gedeckelt, es gebe keinen Cent mehr. Der entscheidende Trick im System ist ja der, dass private Kliniken und MVZ ihre Einnahmen steuern können und öffentliche Kliniken nicht. Die, die sich die Patienten und Behandlungen aussuchen können, schöpfen ab, die anderen bluten aus. Die Vorhaltepauschalen sind der größte Werbeschwindel von Lauterbachs Reform. Denn gleichzeitig wird ja definiert, dass Hunderte Krankenhäuser weg sollen, also nicht mehr vorgehalten werden!

Das große Kliniksterben erledigt sich aber doch auch so schon von ganz allein – beschleunigt noch durch die Corona-Krise. Seit Beginn der Pandemie haben mindestens 40 Standorte dichtgemacht. Und dann ist es ja gerade das erklärte Ziel der anstehenden Reform, diesen Prozess zu stoppen …

Unausgesprochenes Ziel der Reform ist es, in einem viel größeren Umfang als bisher Krankenhäuser und Stationen zu schließen. Zuletzt haben – schlimm genug – zehn bis 20 Kliniken pro Jahr dichtgemacht. Mit dieser Reform werden es 100 pro Jahr. Das glauben Sie nicht? Aber so steht es in der Auswirkungsanalyse von Professor Boris Augurzky, selbst Mitglied von Lauterbachs Kommission. Den Krankenhäusern wird einfach par ordre du mufti ihr faktischer Status als Krankenhaus abgesprochen. Dazu gibt es frischen Neusprech: die sogenannten Level. Von 1.880 Krankenhäusern sollen mindestens 657 Kliniken künftig nur noch Gesundheitszentren sein. Das bedeutet Pflegestationen ohne durchgehende ärztliche und ohne Notfallversorgung.

Augurzky hat sogar noch 183 Standorte vergessen, die hält er persönlich wohl schon heute nicht mehr der Bezeichnung Krankenhaus für würdig. Von denen droht ebenfalls vielen die Degradierung. Aber das ist noch nicht alles. Hunderte weitere Kliniken dürfen künftig nicht mehr das anbieten, was dort heute noch behandelt wird. Dabei haben viele in den letzten Jahren Hunderte Millionen Euro investiert, um eine Grundversorgung auf medizinisch höchstem Niveau anzubieten. Ein Teil davon wird ihnen verboten, damit geraten sie finanziell noch mehr in Schwierigkeiten. Dann geht die ganze teure Technik demnächst an die Insolvenzverwalter. Wer auf dem Land wohnt, wird es im Notfall oft nicht mehr in einer halben Stunde in die nächste Rettungsstelle schaffen. Und in der Stadt droht den bestehenden Krankenhäusern der Kollaps, wenn sich alle wegen der andernorts geschlossenen Kliniken in den Fluren drängeln …

In einem ZDF-Beitrag hieß es neulich, „alle Experten“ seien sich einig, dass es zu viele Kliniken in Deutschland gebe. Dabei kam auch ein Vertreter Ihres Bündnisses zu Wort …

Auch ein Arzt einer Neonatologie durfte sprechen. Er berichtete davon, dass man nicht genug Betten habe und manchmal Frühchen abweisen müsse – faktisch eine Form von Triage. Das ZDF spricht trotzdem von „allen Experten“ und ignoriert die Experten, die es selbst interviewt hat. Wir wissen, dass es Framing gibt, die versteckt inszenierte Einrahmung eines öffentlichen Diskurses, um außerhalb des Rahmens liegende Positionen als absurd erscheinen zu lassen. Die Bertelsmann Stiftung hat 2019 begonnen, zu behaupten, es gäbe zu viele Kliniken. Aber wir sind nicht bereit, das zu akzeptieren. Wir hatten zwei Jahre lang immer Lockdowns, Kinder durften oft nicht in die Schule, damit die Krankenhäuser nicht überlaufen. Auch das haben uns Experten geraten. Eine Umfrage hat ergeben: 88 Prozent der Bevölkerung wollen keine Krankenhausschließungen. Nahezu ebenso viele lehnen es ab, dass der Bund Schließungen finanziell fördert.

Haben 88 Prozent der Bevölkerung vielleicht einfach keine Ahnung?

Und die sogenannten Experten haben die Weisheit mit Löffeln gefressen? Mehr als die Hälfte der Geburtsstationen in Deutschland soll verschwinden. Was ich mich frage: Werden wir dann auch nur halb so viele Geburten haben? Bei der interventionellen Kardiologie soll die Zahl der Abteilungen von 603 auf 223 sinken. Also gibt es weniger Interventionen bei schweren Herzproblemen? Es wird verschämt von „Verschiebungen“ der Behandlungen gesprochen. Aber verschoben werden Menschen, in Kliniken, in denen es auf Jahrzehnte hinaus nicht die Kapazitäten gibt, um sie zeitnah aufzunehmen. Nur wer viel Geld hat und sich privat behandeln lässt, kann noch die volle medizinische Versorgung beanspruchen. Um es klar zu sagen: Diese Reform wird tödlich! Wir müssen uns darauf einstellen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland zurückgeht. In den USA haben Klinikprivatisierungen zu einer Zunahme der Mortalität in den betreffenden Bereichen geführt. Es ist kein Selbstläufer, dass die Menschen mit jedem neuen Jahrzehnt durchschnittlich länger leben, es geht auch andersherum.

Immerhin regt sich Widerstand bei Verbänden und einzelnen Bundesländern. Man wolle sich nicht in die Krankenhausplanung hineinregieren lassen, verlautet aus Bayern und Nordrhein-Westfalen, die die Pläne gemeinsam mit Schleswig-Holstein per Rechtsgutachten auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen lassen. Haben Sie sich solche „Verbündeten“ gewünscht?

Die Bundesländer, und zwar alle, haben eine schwere Last auf dem Gewissen: Sie haben ihre Aufgabe, für eine adäquate Gebäudeinstandhaltung der Kliniken zu sorgen, krass vernachlässigt. Knapp die Hälfte des Geldes, das für Erhalt und Investitionen erforderlich war, haben sie einbehalten. Und so gibt es jetzt einen gewaltigen Investitionsstau. Der Aufschrei ist also vom Wortlaut her oft richtig. Aber wir dürfen nicht darauf vertrauen, dass die Bundesländer diese Kahlschlagsreform aus eigenem Antrieb stoppen. Die Länder brauchen Geld vom Bund, was sie erpressbar macht. Auch die Krankenkassen und die Krankenhausgesellschaften werden nicht als Weiße Ritter angeritten kommen. Dieser angebliche Widerstand, das prophezeie ich Ihnen jetzt, wird kurz vor Gesetzesbeschluss in einen radikalen Kompromiss umschlagen, nach dem Muster: „nur 350 Kliniken schließen statt 700“.

Gleichwohl sorgt man sich aber auch in Bayern, dass insbesondere die ländlichen Versorgungsstrukturen wegbrechen werden, sofern die Krankenhausreform in der geplanten Form kommt. Und im Herbst wird in Bayern gewählt.

Ja, vielleicht kann es den Menschen in Bayern endlich gelingen, der Politik den Marsch zu blasen. Die Folgen des Kliniksterbens sind dort schon heute besonders drastisch. Der aktuelle bayerische CSU-Gesundheitsminister Klaus Holetschek hat sich im Widerstand gegen die Schließungen allerdings noch nicht mit Ruhm bekleckert. Wie ernst die aktiven Gruppen das Problem Kliniksterben nehmen, das macht Hoffnung. Selbst an Orten, wo die Klinik schon seit Jahren zu ist, reißt der Widerstand nicht ab.

Laut veröffentlichter Meinung ist eine umfassende und „schmerzhafte“ Umstrukturierung der Versorgungslandschaft mehr oder weniger „alternativlos“. Wer gibt hier in der Diskussion den Ton vor?

Als Margaret Thatcher in Großbritannien die Gewerkschaften zerschlagen hat, da war das angeblich auch schmerzhaft und alternativlos. Das TINA-Prinzip, „there is no alternative“, „da gibt es keine Alternative“, begleitet neoliberale Brachialmaßnahmen schon seit 40 Jahren. Lauterbach hat eine Kommission zusammengestellt, die einseitig die Interessen der Anleger vertritt, schließlich geht es in der Gesundheitsbranche um deutlich mehr Geld als in der Automobilindustrie. Bürger, Beschäftigte, Patientenvertreter, Kommunen mussten draußen bleiben. Dafür wurden gleich mehrere der extremsten Befürworter von Klinikschließungen in die Kommission berufen. Heraus kamen dann Behauptungen von einer angeblichen Überversorgung. Und dass der Status quo nicht bezahlbar wäre – wohlgemerkt nicht der Status quo vom privaten Geldabfluss, sondern die noch verbliebene öffentliche Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge.

Ihr Verein Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) hat dieser Tage ein Gegenkonzept zu den Regierungsplänen vorgelegt.

Diese Reform ist so komplex, dass vielen Menschen schwindlig wird bei den ganzen Begriffen und Querbezügen. Dem halten wir entgegen: Das Gute in dieser Sache ist einfach. Und damit man das nachvollziehen kann, haben wir es aufgeschrieben. Wir nennen es „Bedarfsgerechte Krankenhausstruktur“. Wir hätten es auch klinische Daseinsvorsorge nennen können. Wir behaupten nicht, das Rad neu erfunden zu haben, wir haben nur elementare und im Grunde bekannte Grundsätze festgehalten. Aber dagegen wird seit Jahren verstoßen und mit Lauterbachs Reform droht jetzt quasi der Verstoß im Quadrat.

Wie also sähen Ihre Alternativen konkret aus?

„Zu viele Krankenhäuser“ beziehungsweise „das ist alles zu teuer“ – das ist keine seriöse Analyse, wirklich nicht. Wir benötigen aus Sicht der Menschen Mindeststandards in der klinischen Versorgung, die allen in maximal 30 Fahrzeitminuten zustehen. Wo das nicht der Fall ist, muss die nächstliegende Klinik aufgewertet werden. Zusätzliche kommunale Ärztezentren brauchen wir, wo die ambulante ärztliche Versorgung aktuell unzureichend ist. Statt nur noch wenige Maximalversorger übrig zu lassen, schlagen wir vor, das Behandlungsangebot der Allgemeinkrankenhäuser auszuweiten. Die Erfahrung hat gezeigt: Kleine Klinken machen die Therapien, auf die sie sich spezialisieren, meistens sehr gut. Dabei sollte man sie unterstützen, statt ihnen zu verbieten, den Menschen ihrer Region zu helfen.

Und sobald diese Mindeststandards nicht erfüllt werden, müssen neue Standorte entstehen?

Lauterbachs Reform ist ein „race to the bottom“, ein Unterbietungswettlauf, der in eine tödliche Abwärtsspirale führt. Die nächste Klinik ist für viele danach mehr als 30 Minuten entfernt, bald werden es mehr als 40 Minuten sein und so weiter. Wir sagen: Wo ein Krankenhaus nicht binnen einer halben Stunde erreichbar ist, muss eines neu oder wiedereröffnet werden. Dazu muss die Krankenhausplanung und Steuerung demokratisiert werden, Anwohner und Beschäftigte sind einzubeziehen.

Wer soll das bezahlen, wo doch schon jetzt Hunderten Kliniken das Wasser bis zum Hals steht? Laut „Krankenhaus-Index“ der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) rechnet über die Hälfte aller Standorte damit, innerhalb des kommenden halben Jahres einzelne Betten oder zeitweise ganze Stationen schließen zu müssen, sechs Prozent befürchten die Schließung kompletter Standorte.

Das Vernünftige zu machen, ist nicht teurer, sondern günstiger, einfach weil allgemeine Gesundheit günstiger ist als Krankheit zugunsten von Renditen. Wenn Krankenhäuser keine Maschinen zur Gelderzeugung mehr sein müssen, können sie Gesundheitshäuser werden, also Einrichtungen, mit deren Hilfe wir ein Leben in Würde führen können, auch mit grundsätzlich verletzlichen und vergänglichen Körpern. Deswegen muss die Krankenhausfinanzierung auf die Selbstkostendeckung umgestellt werden. Das würde Verluste ebenso unmöglich machen wie die Zweckentfremdung von Krankenkassenbeiträgen in Form privatisierter Gewinne.

Womit wir wieder bei Lauterbachs „Entökonomisierung“ wären, aber irgendwie anders verstanden …

Lauterbach sagt „Entökonomisierung“ und benutzt für seine sogenannte Revolution die kalkulierte finanzielle Pleite als Guillotine. Ich kann nur hoffen, dass die Menschen zu Zehntausenden auf die Straße gehen gegen diesen infamen Plan. So viele sind betroffen, die Hunderttausenden in der Pflege und beim ärztlichen Personal, auch die ganzen potentiell abgehängten Regionen. Wir vernetzen, wo wir können. Wer sich für die Krankenhäuser interessiert, kann unseren Infobrief gemeingut.org/infobrief abonnieren, in dem wir alle vier bis sechs Wochen Aktuelles berichten und Angebote zum aktiven Widerstand machen. Ich kann nur davor warnen, auf Lauterbachs vermeintliche Widersacher in der Politik zu vertrauen. Wir müssen unsere Krankenhäuser unbedingt selbst verteidigen!

Zur Person

Carl Waßmuth, Jahrgang 1969, ist Bauingenieur und Infrastrukturexperte. Er ist Mitbegründer, Vorstandsmitglied und Sprecher beim Verein Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB), der sich für die Demokratisierung aller öffentlichen Institutionen, insbesondere der Daseinsvorsorge, und für die gesellschaftliche Verfügung über Güter wie Wasser, Bildung, Mobilität und Gesundheit einsetzt. GiB ist der Träger des „Bündnisses Klinikrettung“, das den sofortigen Stopp von Krankenhausschließungen fordert und für eine gemeinwohlorientierte Versorgungslandschaft fernab kommerzieller Gewinninteressen wirbt.