Die zwei entscheidenden Irrtümer im Ukraine-Krieg und ihre Folgen

Die zwei entscheidenden Irrtümer im Ukraine-Krieg und ihre Folgen

Die zwei entscheidenden Irrtümer im Ukraine-Krieg und ihre Folgen

Ein Artikel von Jürgen Hübschen

Russland hatte anfangs geglaubt, ein Krieg gegen die Ukraine wäre ein Spaziergang und seine Truppen wären im Nachbarland willkommen. Die USA sind davon ausgegangen, dass die ukrainische Armee den russischen Streitkräften mit westlicher Unterstützung eine Niederlage bereiten und Russland dadurch als globalen Konkurrenten zumindest schwächen würde. Während Russland seine anfängliche Fehleinschätzung teuer bezahlt und daraufhin seine Taktik vollständig geändert hat, halten die USA an der Illusion fest, die Ukraine könne den Krieg militärisch gewinnen, und verschließen die Augen vor der Realität. Diese beiden grundsätzlichen Fehleinschätzungen Moskaus und Washingtons bezüglich der militärischen und politischen Lage sind die wesentlichen Ursachen dafür, dass dieser Krieg noch andauert und keine Verhandlungsinitiativen erkennbar sind. Von Jürgen Hübschen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die falsche Lagebeurteilung auf russischer Seite

Auf der russischen Seite beruhte die anfängliche Lagebeurteilung im Wesentlichen auf folgenden Annahmen:

  • Die Ukraine und der sie unterstützende „Westen“ werden sich von dem massiven russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze beeindrucken lassen und sich den Plänen Moskaus letztlich nicht entgegenstellen.
  • Bei einem russischen Einmarsch in die Ukraine wird die NATO, wie sie selbst erklärt hat, nicht eingreifen.
  • Ein Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wird, vor allem vom russischen Bevölkerungsanteil, begrüßt werden.
  • Eine wirklich ernst zu nehmende Gegenwehr der ukrainischen Streitkräfte ist nicht zu erwarten und falls doch, wird ein solcher Widerstand schnell gebrochen werden.
  • Die russischen Truppen werden bis Kiew durchmarschieren und eine neue russland-freundliche Regierung installieren. Damit werden sich alle Überlegungen eines möglichen NATO-Beitritts der Ukraine erledigt haben.

Umsetzung dieser Fehleinschätzung

Diese falschen Annahmen wurden wie folgt umgesetzt:

  • Die russischen Truppen marschierten in die Ukraine ein wie in ein Manöver. Fahrzeugkolonnen bewegten sich ungeschützt auf Landstraßen und man hielt es nicht einmal für nötig, Dörfer zu umfahren.
  • Auf eine Unterstützung durch eigene Luftstreitkräfte wurde verzichtet.
  • Ein Kräfteansatz von mindestens 3:1, wie bei einer Offensive unbedingt erforderlich, war nicht gegeben.

Ergebnis der falschen Lagebeurteilung

Das Ergebnis der falschen Lagebeurteilung und der darauf basierenden Entscheidungen stellt sich wie folgt dar:

  • Da die ukrainischen Truppen, beginnend 2008, aber intensiv und strukturiert seit 2014 von den USA und anderen westlichen Staaten ausgebildet und beraten wurden, waren Widerstand und vor allem auch Kampfkraft deutlich stärker als von Russland angenommen.
  • Die Aussage der NATO, nicht einzugreifen, wurde in Moskau falsch interpretiert. In Brüssel hat man nämlich damit nur den Einsatz eigener Truppen gemeint, nicht aber eine intensive militärische und auch finanzielle Unterstützung der Ukraine.
  • Deshalb mussten auf russischer Seite schwere eigene Verluste an Soldaten und auch Material hingenommen werden.
  • Das strategische Ziel einer Einnahme Kiews und das Einsetzen einer Moskau genehmen politischen Führung mussten aufgegeben werden.
  • Die angestrebte „Frontal-Lösung“ wurde hinfällig.
  • Der Zeitfaktor bedurfte einer neuen Justierung.

Strategische und taktische Konsequenzen einer neuen Lagebeurteilung

Moskau hat – auch nach eigener Aussage – die anfängliche Fehleinschätzung erkannt und die erforderlichen Konsequenzen gezogen, was nicht mit einem Aufgeben der politischen Ziele verwechselt werden sollte.

  • Die Taktik wurde auf Anraten der militärischen Führung von Offensive auf Defensive grundlegend geändert.
  • Die eigenen Verteidigungsstellungen in den eroberten Gebieten wurden ausgebaut und das Gelände massiv verstärkt, vor allem durch Panzersperren und Minenfelder. Die Front wurde zum eigenem Vorteil, z.B. durch den Rückzug aus Cherson, begradigt.
  • Die „Wagner-Miliz“ kam verstärkt zum Einsatz, um reguläre Truppen zu schonen.
  • In Russland wurden zusätzliche Soldaten rekrutiert und ausgebildet.
  • Mit Raketen und Drohnen wurde und wird die zivile Infrastruktur angegriffen. Mit Schwerpunkt wurden Einrichtungen zur Strom- und Wasserversorgung, aber auch Treibstofflager zerstört.
  • Zusätzlich zu Drohnen- und Raketenangriffen kam und kommt die schwere Artillerie zum Einsatz, um den Gegner zu zermürben und vor allem auch personell zu schwächen, weil gerade in diesem Bereich die ukrainischen Ressourcen beschränkt sind.
  • Bei den Angriffen auf die ukrainische Luftverteidigung setzt Moskau zunehmend auf Abnutzung, weil „der Westen“ unübersehbare Schwierigkeiten hat, neue Raketen für die an die Ukraine exportierten Waffensysteme zu liefern. Wenn z.B. zur Abwehr einer vom Iran an Russland gelieferte Drohne zum Preis von ca. 20.000 $ eine westliche Flugabwehrrakete zum Preis von 100.000 $ und deutlich mehr eingesetzt werden muss, ist das Ergebnis absehbar.
  • Da Präsident Selensky immer wieder betont, die Ukraine werde so lange kämpfen, bis alle besetzten Gebiete, einschließlich der Krim, befreit sind, setzt die russische Seite „auf Abwarten“ und auf ein Ausbluten der Ukraine in Bezug auf ausgebildete und kriegserfahrene Soldaten.
  • Der Faktor Zeit, eine Abnutzungsstrategie und ein langer Atem sind wesentliche Aspekte der aktuellen russischen Kriegsführung.

Die falsche Lageeinschätzung auf US-amerikanischer Seite

Auf der amerikanischen Seite beruhte die Lagebeurteilung im Wesentlichen auf folgenden Annahmen:

  • Die russischen Truppenansammlungen an der ukrainischen Grenze wurden lange beobachtet, ohne einschätzen zu können, ob sie die russisch-ukrainische Grenze überschreiten würden.
  • Es gab aus amerikanischer Sicht keine Zweifel, dass Moskau die Aktivitäten von NATO-Militärs, besonders von US-Soldaten, in der Ukraine bekannt waren. Doch es fehlte das entscheidende Signal, um einen russischen Einmarsch zu provozieren.
  • Der mögliche Ausschlag für den russischen Angriff war das Statement der NATO, in einem solchen Fall nicht einzugreifen.
  • Man ging davon aus, dass Moskau in diese Falle tappen würde und die von den USA ausgebildeten ukrainischen Streitkräfte der russischen Armee eine vernichtende Niederlage zufügen würden.

Umsetzung der Fehlentscheidung

Diese falschen Annahmen wurden wie folgt bestätigt und umgesetzt:

  • Für diese Einschätzung sprachen auch die amerikanischen Aufklärungsergebnisse, die der Ukraine regelmäßig in Echtzeit zur Verfügung gestellt wurden und auch weiterhin werden.
  • Die ersten Kampfhandlungen mit den schweren russischen Verlusten und dem Abbruch der Eroberung von Kiew schienen diese Lagebeurteilung zu bestätigen.
  • In Washington rechnete man damit, dass die russischen Streitkräfte wegen der Verluste entweder den Angriff abbrechen oder eine schwere Niederlage hinnehmen würden.
  • Deshalb wurden die bereits im März 2022 begonnenen Gespräche zwischen Russland und der Ukraine von den USA nicht unterstützt. Ganz im Gegenteil veranlasste der damalige britische Premierminister Johnson – nach vorheriger Absprache mit Washington – bei seinem Besuch in Kiew den ukrainischen Präsidenten Selensky, die Gespräche, die in der Türkei stattgefunden hatten, abzubrechen.

Ergebnis der falschen Lagebeurteilung

Die Fakten der falschen Lagebeurteilung und der darauf basierenden Entscheidungen stellen sich wie folgt dar:

  • Die russischen Streitkräfte zogen sich nicht zurück, sondern reagierten auf die ersten Verluste mit der bereits beschriebenen Änderung ihrer Taktik, was die politische Führung in Washington – zum Teil im Gegensatz zur Position des Pentagon – nicht erkannte oder nicht wahrhaben wollte.
  • Man hatte die Flexibilität der russischen Generalität und ihr Durchsetzungsvermögen gegenüber dem russischen Präsidenten, aber vor allem auch die materiellen und personellen Ressourcen der russischen Streitkräfte offensichtlich unterschätzt.
  • Dagegen begann die Ukraine, der in den ersten Kriegsmonaten vorwiegend russisches Kriegsmaterial und russische Waffensysteme zur Verfügung gestanden hatten, unter erheblichen Nachschubproblemen zu leiden, vor allem in der Ersatzteilversorgung und bei der Munition, besonders für die schwere Artillerie.
  • Hinzu kamen die starken Belastungen der Zivilbevölkerung durch Strom- und damit Heizungsausfälle, Probleme mit der Wasserversorgung und den ständigen Luftalarmen wegen der russischen Angriffe mit Drohnen und Raketen.
  • Es begann ein klassischer Abnutzungskrieg. Deutlichstes Beispiel war dafür der monatelange Kampf um Bachmut, das auf Weisung des ukrainischen Präsidenten – gegen den Rat der militärischen Führung – bis zur völligen Zerstörung gehalten wurde und neben hohen personellen Verlusten vor allem auch den Bestand an Artilleriemunition dramatisch einbrechen ließ.

Umsetzung der Fehlentscheidung

Um keine Schwäche zu zeigen, hält die US-Regierung an den getroffenen Entscheidungen fest.

  • Da sich Washington – im Gegensatz zu Moskau – seine falsche Lagebeurteilung nicht eingestehen wollte, entschlossen sich die USA zu einer umfassenden Unterstützung der Ukraine nach dem Prinzip: „As long as it takes“, ohne diesen Grundsatz zu definieren. NATO und EU wurden von Washington dazu gedrängt, dieses Vorgehen zu übernehmen.
  • Die Unterstützungslieferungen wurden immer umfassender, vor allem im Bereich der schweren gepanzerten Waffen, der Munition, soweit vorhanden, und bei den boden-gestützten Systemen der Flugabwehr, um die ukrainische Luftverteidigung zu stärken.
  • Monatelang wurde eine ukrainische Gegenoffensive angekündigt, obwohl sich alle militärischen Fachleute darüber klar waren und sind, dass diese Offensive, die angeblich jetzt begonnen hat, keinen durchschlagenden Erfolg bringen wird, weil die Ukraine nicht über genügend gepanzerte Kräfte verfügt und für die Bodentruppen keine Luftunterstützung verfügbar machen kann, denn Russland hat die uneingeschränkte Luftherrschaft über der ganzen Ukraine.
  • Zudem werden die ukrainischen Streitkräfte zunehmend Probleme bekommen, die in immer größerer Anzahl von den USA und ihren alliierten gelieferten High-Tech-Waffensysteme von qualifiziertem Personal bedienen/besetzen zu lassen.
  • Last, but not least, sind die ukrainischen Streitkräfte personell nicht in der Lage, die erforderliche zahlenmäßige Überlegenheit von mindestens 3:1 gegenüber den russischen Truppen herzustellen, die im Rahmen einer tief gestaffelten Verteidigung mit ihrer guten Ausrüstung und der jederzeit verfügbaren Luftunterstützung über beste Voraussetzungen verfügen, jede größere Offensivoperation der ukrainischen Streitkräfte abzuwehren.

Fazit der beiden Fehlentscheidungen

Die Fortdauer des Krieges ist das Ergebnis der dargestellten Fehlentscheidungen. Allerdings hat Moskau mit der Umstellung seiner Taktik wohl auch dem letzten Optimisten klargemacht, dass die Ukraine diesen Krieg militärisch nicht gewinnen kann. Daran werden auch zukünftige Waffenlieferungen „des Westens“ nichts ändern, die letztlich den Krieg nur verlängern, zu immer mehr Opfern bei den Streitkräften auf beiden Seiten und der ukrainischen Zivilbevölkerung und zu immer größeren Zerstörungen der zivilen Infrastruktur der Ukraine führen werden.

Die einzige Alternative zu diesem „Weiter so“ sind Verhandlungen. Dafür gibt es auf russischer Seite aktuell keine Veranlassung und aus amerikanischer Sicht sind sie keine akzeptable Option, weil dadurch das Scheitern der amerikanischen Politik gegenüber Russland und im Ukrainekrieg für die ganze Welt sichtbar würde. Deshalb muss man befürchten, dass dieser Krieg noch so lange weitergehen wird, bis die ukrainische Regierung doch eine von Präsident Selensky bislang immer wieder abgelehnte Verhandlungsbereitschaft signalisiert, um das Sterben der eigenen Bevölkerung und die Zerstörung des Landes zu beenden.

Die zweite Möglichkeit wäre, dass ein europäischer Unterstützer aus dem amerikanischen Lager ausschert, weil es im eigenen Land zunehmend wirtschaftliche Schwierigkeiten gibt und die Wähler die Politik der Regierung nicht mehr mittragen.

Der dritte und wahrscheinlichste Grund könnte sein, dass der Krieg zu einem Wahlkampfthema in den USA und damit zum politischen Überleben von Präsident Biden wird, der sein persönliches Schicksal mit dem der Ukraine verbunden hat. Sollte dieser Krieg dafür entscheidend werden, wer die nächsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnt, werden die USA von jetzt auf gleich – und zwar ohne Rücksprache mit ihren Verbündeten oder etwa dem ukrainischen Präsidenten – die Unterstützung der Ukraine beenden, so wie sie im August 2021 ihre Truppen aus Afghanistan abgezogen haben. Innenpolitisch würde man eine solche Entscheidung als Erfolg verkaufen, indem man behauptet, die amerikanischen Kriegsziele erreicht zu haben, nämlich:

  • Russland wurde als geopolitischer Rivale zwar nicht ausgeschaltet, aber erheblich geschwächt.
  • Die NATO und die Führungsrolle der USA im Bündnis wurden gestärkt und die Erweiterung der NATO erfolgreich fortgesetzt. Finnland wurde bereits neues Mitglied und Schwedens Beitritt ist nur noch eine Frage der Zeit.
  • Die EU wurde insgesamt auf den amerikanischen Kurs eingeschworen und hat erhebliche finanzielle Leistungen erbracht, z.B. sogar von den USA an die Ukraine geleaste Waffensysteme bezahlt.
  • Der amerikanische „industrial-military-complex“ ist erfolgreicher als je zuvor. Die Auftragsbücher der Rüstungsindustrie sind auf Jahre ausgelastet, und damit wurden Tausende amerikanische Arbeitsplätze gesichert.
  • Der europäische Energiemarkt wurde für die USA geöffnet, teures amerikanisches, durch Fracking gewonnenes LNG anstelle von russischem Erdgas an Europa geliefert.

All diese Überlegungen könnten allerdings konterkariert werden, wenn die Wahrheit über die Anschläge auf die Nordstream-Pipelines an die Öffentlichkeit gelangten. Dann würden die Karten im Lager „des Westens“ vermutlich völlig neu gemischt.

Titelbild: shutterstock / Tattsiana

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