Das Opferfest, Eid al-Adha, ist einer der höchsten muslimischen Feiertage, der mit der Haj, der Pilgerfahrt nach Mekka zusammenfällt. In diesem Jahr fiel das Opferfest auf das gleiche Wochenende wie Pfingsten. Zehntausende Libanesen aus aller Welt flogen nach Beirut, um mit ihren Angehörigen die Feiertage zu verbringen. Doch für die Menschen im Süden des Landes und in den südlichen Vororten von Beirut sollte es – wie für die Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland – nach dem Willen Israels keine Ruhe geben. Ein Bericht von Karin Leukefeld (Al Qaim/Südbeirut).
Im Viertel um die Al Qaim Moschee[*] in Südbeirut
Am Vorabend des Eidfestes, am Donnerstagabend (5./6. Juni 2025) erhielten die Bewohner in vier Stadteilen von Südbeirut Nachrichten auf ihren Mobiltelefonen mit der Aufforderung, ihre Häuser an bestimmten gekennzeichneten Orten zu verlassen und sich mindestens 300 bis 500 Meter weit zu entfernen. Die israelische Armee werde diese Gebäude zerstören, weil sich dort Waffenfabriken der Hisbollah, insbesondere für die Herstellung von Drohnen befänden. Belege für die Behauptungen wurden nicht geliefert.
Bild: Südbeirut, Al Qaim Viertel. Hier standen zwei Wohnhäuser mit 8 Stockwerkenm zerbombt von Israel in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 2025. Foto: Karin Leukefeld
Die libanesische Armee eilte zu den Orten, sperrte sie ab und begann – in Absprache mit der UN-Friedensmission UNIFIL – die angeblichen Waffenfabriken in den Gebäuden ausfindig zu machen. Allerdings kamen sie nicht weit, weil die israelische Armee – trotz anderslautender Festlegung in der libanesisch-israelischen Waffenstillstandsvereinbarung vom 27. November 2023 – begann, die Gebäude zu bombardieren. Die libanesischen Untersuchungstrupps mussten sich zurückziehen, und vor ihren Augen wurde ein Gebäude nach dem anderen von Israel zerstört. Als die Armee am nächsten Tag die Orte untersuchte, wurde nichts gefunden, was auf Waffenfabriken unter den Häusern hindeutete. Israel forderte, die Libanesen sollten acht Meter tief graben, berichtet die Mitarbeiterin im Pressebüro der Hisbollah. Nichts wurde gefunden, doch darüber wurde in westlichen Medien nichts mehr berichtet.
Garagen im Untergeschoss
„Sie lügen“, sagt Herr Fadi zu der israelischen Behauptung, im Keller seines Hauses habe sich eine Waffenfabrik befunden. Vor 20 Jahren habe er die Wohnung in dem Hochhaus in Al Qaim für sich und seine Familie gekauft, und niemals hätte er seine Familie an einem Ort untergebracht, wo Waffen produziert worden seien. Herr Fadi steht vor einem rauchenden Berg aus Stein und Stahl und schlägt die Hände aneinander, um Dreck und Staub abzuschütteln. Sein Hemd, Hose und die Schuhe sind ebenfalls voller Staub. „Hier haben zwei achtstöckige Häuser gestanden, auf jedem Stockwerk waren drei Wohnungen und alle, die hier gewohnt haben, wussten, was in den Untergeschossen war. Parkplätze für unsere Autos! Schließlich haben hier mehr als 200 Menschen gelebt. Alle wissen, dass Israel lügt.“
Von den beiden achtstöckigen Gebäuden ist ein Trümmerhaufen geblieben. Die vermutlich lasergesteuerten GBU-Bomben – made in USA – haben Hab und Gut der Menschen ins Erdreich gerammt. Darüber erhebt sich ein Gewirr aus Beton, Draht und Stahlträgern, durch das sich Stoff, Boiler, Kücheneinrichtungen und Wohnutensilien zu einer undefinierbaren Masse herumgewunden haben. Obenauf liegen komplett verbrannte und geschmolzene Autowracks.
Bild: Sübeirut, Al Qaim Viertel. Foto: Karin Leukefeld.
Eine knappe Woche nach dem Angriff steigt noch immer beißender Rauch aus den Trümmern empor. Im Erdgeschoss waren Geschäfte und auf dem Dach eine Solaranlage, die mit Lithium-Batterien betrieben wurde. „Der Rauch kommt von den Batterien“, erklärt ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, der mit Kollegen den Bombenkrater abgesichert hat. Sie hätten versucht zu löschen, auch um den Rauch aus den Trümmern zu dämpfen, doch die schmauchenden Lithium-Batterien würden immer weiter brennen und machten das Atmen schwer. Viele der Vorbeigehenden schützen sich mit Masken gegen die schlechte Luft.
Wo Schiiten wohnen, bombardiert Israel
Die Wohnung von Herrn Fadi war im dritten Stock des hinteren der beiden Wohnblocks. Dort lebte seine Frau mit drei Kindern in einer Fünf-Zimmer-Wohnung. Als der Sohn Hassan heiratete und das erste Kind geboren wurde, zog seine kleine Familie in ein Haus in der Nachbarschaft, jenseits der Al Qaim Moschee. „Seine Wohnung wurde im 66-Tage-Krieg im vergangenen Jahr bombardiert und zerstört“, erzählt Herr Fadi. Er zeigt auf einen jungen, hochgewachsenen kräftigen Mann, der einige Schritte entfernt steht. „Das ist mein Sohn, Hassan“, sagt er und winkt ihn herüber. „Wir sind in den Süden umgezogen, nachdem unsere Wohnung zerstört wurde“, berichtet der 31-Jährige. Sein Vater lacht und meint, sehr viel sicherer sei es um Sur, um Tyrus herum auch nicht. „Aber das gilt doch für den ganzen Libanon“, meint sein Sohn und zuckt mit den Schultern. „Überall, wo Schiiten wohnen, bombardiert Israel.“ In Sur (Tyros, Südlibanon) habe er Arbeit gefunden, so könne er die Familie einigermaßen ernähren.
Herr Fadi ist 53 Jahre alt und arbeitet seit 20 Jahren in Afrika. In Benin, sagt er auf Nachfrage, in einer Telefongesellschaft. „Ich bin heute erst angekommen, weil ich früher keinen Flug bekommen habe“, sagt er fast entschuldigend und blickt hinüber zu seiner Frau, die versucht, etwas aus den Trümmern zu bergen. „Zum Glück konnte meine Frau alle wichtigen Papiere mitnehmen und auch das Auto noch an einen anderen Ort bringen, sodass es nicht zerstört wurde“, sagt er nicht ohne Stolz. Seine Brüder arbeiteten und lebten in Deutschland, und er habe früher in der Schweiz gearbeitet. „Wir müssen unser Land verlassen, um Arbeit zu finden und unsere Familien zu ernähren. Aber wir müssen und wollen auch wieder zurückkehren, denn hier ist unsere Heimat, die wir nicht verlassen können. Hier sind unsere Wurzeln, dieses ist unser Land.“
Bild: Herr Fadi, Foto: Karin Leukefeld
Deutschland könne ihm vielleicht einen Pass geben, damit er dort wohnen und arbeiten könne, aber nur, um zurückzukehren und sein Land wieder aufzubauen, sagt Herr Fadi. „Deutschland, die EU, die USA sollten lieber Israel hier wegholen und dorthin zurückbringen, wo es herkommt“, fährt er fort. Jeder wisse, dass Netanjahu und die Regierungsmitglieder nicht „von hier“, sondern aus Europa stammten. Alle hätten zwei Pässe und kämen „aus Deutschland, Russland, aus der Ukraine oder anderen osteuropäischen Ländern, nicht von hier“. Am Ende stünden alle vor Gott, und Gott werde fair zu allen sein, ist Herr Fadi überzeugt. Er und die Kinder, seine Frau, sie versuchten jetzt noch, aus den Trümmern etwas zu bergen, dann werde er nach einer neuen Wohnung suchen.
Wütend auf Amerika
Eine ältere Frau hat dem Gespräch zugehört und sagt, sie habe auch noch etwas zu sagen. Sie sei Hadija und 55 Jahre alt. Ihr Sohn sei mit Frau und zwei Kindern aus Frankreich in den Libanon zurückgekehrt, um wieder hier zu leben. 25 Jahre habe er in Frankreich gelebt, dann sei er zurückgekommen, habe einen kleinen Laden eröffnet, sie hätten in einer Wohnung im zweiten Stock gewohnt. Sie alle seien sehr glücklich gewesen. Vor allem sie habe sich gefreut, weil sie die Enkelkinder um sich wusste. Ihre Schwiegertochter habe ihrer Tochter ein neues Kleid gekauft für das Eid-Fest, wie immer seien die Kinder ganz aufgeregt gewesen. Dann sei diese Drohung von Israel gekommen – um halb neun abends sei das gewesen – und alle seien aus der Wohnung gestürzt, um sich in Sicherheit zu bringen. Nichts hätten sie in der Aufregung mitgenommen, die Kinder hätten so große Angst gehabt. „Das ist ein Verbrechen, was Israel hier macht. Alle diese Kinder, die Leute, die ihnen nichts getan haben, werden verjagt, getötet, verlieren alles“, sagt sie. Ihr Sohn habe sein Auto in der Garage im Untergeschoss des Hauses geparkt, wie alle im Haus. „Was Israel sagt, ist gelogen. Es hat keine Beweise über eine Drohnenfabrik vorgelegt. Immer behaupten sie etwas, nur um zu zerstören.“
Bild: Frau Hadija, Foto: Karin Leukefeld
Alle Leute seien wütend auf Amerika. Die USA könnten Netanjahu stoppen, täten es aber nicht. Weltweit werde Israel von den Leuten verurteilt für das, was es seinen Nachbarn antue, nur Amerika schütze Israel. „Wir haben es doch gehört, zuletzt im UN-Sicherheitsrat hat Amerika mit einem Veto einen Waffenstillstand in Gaza verhindert.“ Genauso mit Libanon, Israel halte das Abkommen zur Waffenruhe nicht ein.
Ihr Sohn und seine Familie wohnten jetzt bei ihr und ihrem Mann, das sei um die Ecke, neben der Moschee. Die Kinder seien traurig, weil sie nicht in ihre Zimmer zurückkehren könnten und alles verloren hätten. „Die Kleine weint um ihr neues Kleid, das sie für das Eid-Fest bekommen hat, der Junge hat seinen Computer verloren, den er auch für die Schule gebraucht hat. Hisbollah hat mit allen Leuten gesprochen, die Schäden notiert und wird helfen“, ist Frau Hadija sicher. Dann sagt sie an die Autorin gewandt: „Sie kommen aus Deutschland, das Israel unterstützt, das wissen wir. Aber Deutschland ist Israel egal, sie hören nicht auf Deutschland. Sie hören nur auf Amerika, aber das unterstützt Israel und zerstört unser Leben. Ich sage Ihnen, Amerika ist verantwortlich, Amerika ist der große Teufel!“ Dann dreht sie sich um und sagt zu einem Bekannten: „Ich bin froh, dass ich (mit der Journalistin) gesprochen habe. Ich habe gesagt, was ich sagen wollte.“
Im Viertel kennen sich alle
Zwei ältere Männer, die für das Viertel um die Al Qaim Moschee wie eine Art Muchtar, Ortsbürgermeister, fungieren, kennen Frau Hadija gut. „Wir kennen uns alle hier im Viertel“, sagt einer der beiden. In den beiden zerstörten Häusern hätten 54 Familien gewohnt, alle seien evakuiert worden. „Sie haben alles verloren“, sagt er und auf die Frage, wer diesen Menschen hilft, meint er: „Manche wohnen jetzt bei Verwandten, andere haben Beirut verlassen und sind in andere Landesteile gegangen.“ Die Hisbollah habe soweit möglich die Schäden aufgenommen und werde später helfen, bestätigt er die Angaben von Frau Hadija. Rund um die Moschee seien in den letzten Monaten 30 Gebäude von Israel zerstört worden, ergänzt sein Kollege, der sich als Abu Ruda vorstellt. Und er sei „Abu Ali“, sagt der erste Gesprächspartner dazu. „Und ob Sie oder die Leute in Europa es wissen wollen oder nicht, für uns sind die Zionisten wie der Islamische Staat, wie Daesh. Die kennen nichts als Mord und Zerstörung, Gott kennen sie nicht.“
Gegenüber der Einschlagstelle auf der anderen Straßenseite liegt das Geschäft von Hassan. Der 29-Jährige verkauft Mobiltelefone und Zubehör, alles sieht blitzblank aus, die großen Eingangstüren aus Glas sind unbeschädigt. Auf die Frage, ob er von dem Bombenangriff gar nicht betroffen sei, lacht er und meint, er habe drei Tage lang geputzt und alles neu geordnet. An der Decke seien einige Platten noch verkohlt, die werde er noch ersetzen. Die Glastüren seien gar nicht zerstört worden, sagt Hassan stolz. Er habe den schweren Eisenrolladen vor dem Geschäft heruntergelassen und die Türen offen gelassen. Das sei inzwischen Allgemeinwissen bei den Leuten. Fenster würden offen gelassen, damit das Glas bei den schweren Detonationen nicht springt.
Niemand wisse, wie es weitergehe, und er und die einfachen Leute im Libanon könnten die Entwicklung nicht beeinflussen, sagt Hassan: „Wir müssen warten, bis es eine Lösung gibt. Vielleicht gibt es wieder Krieg? Vielleicht gibt es Frieden? Wir wissen es nicht.“ Aber eins sei für ihn und viele andere klar: „Wir haben uns vor langer Zeit schon für den Widerstand entschieden“, sagt er und meint mit ‚Widerstand‘ die Hisbollah. Von allen Seiten werde Druck auf die Menschen ausgeübt, den Widerstand zu vergessen, aber das werde nicht funktionieren, ist Hassan überzeugt. „Wir stehen hinter ihm und er ist für uns da.“
Titelbild: Karin Leukefeld
[«*] Die Al Qaim Moschee in Südbeirut gilt als Moschee der Hisbollah, wo deren Mitglieder und Unterstützer beten. Rund um die Moschee sind tiefe Krater zu sehen. Israelische Bomben haben hier zahlreiche Wohnhäuser, Geschäfte und zivile Infrastruktur zerstört.