Der jüngste Angriff Israels auf Damaskus war kein isolierter Luftschlag. Er war ein weiterer Schritt in einer langfristigen Strategie, mit der die israelische Hegemonie in einer zersplitterten, geschwächten und geteilten Region durchgesetzt werden soll. Aber hier liegt Israels fatale Fehleinschätzung: Je mehr es expandiert, desto mehr Feinde schafft es sich. Von Soumaya Ghannoushi.
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Am 16. Juli griffen Kampfjets das syrische Verteidigungsministerium, das Hauptquartier der Streitkräfte und die Umgebung des Präsidentenpalastes an – nicht in der Nähe der Frontlinie oder der Grenze, sondern im symbolischen und souveränen Herzen der syrischen Hauptstadt.
Die Ausrede war dürftig: ein angeblicher Einsatz zum Schutz der drusischen Minderheit in Syrien. Aber niemand sollte sich täuschen lassen. Hier ging es nicht um Schutz, es ging um eine Demonstration von Macht und Arroganz.
Es ging nicht um die Drusen, die syrische Araber und Teil des syrischen Nationalgefüges sind – sondern um die Durchsetzung einer israelischen Doktrin der regionalen Zersplitterung, die weit zurückreicht. Eine Doktrin, die von den blutigen Trümmern des Gazastreifens bis zu den zerbombten Ministerien in Damaskus und der Destabilisierung ganzer Nationen abseits seiner Grenzen reicht.
Israel hat mehr als 60.000 Palästinenser – die Mehrheit von ihnen Frauen und Kinder – in Gaza getötet, mehr als 130.000 Menschen verletzt und fast 80 Prozent der Gebäude in dem Gebiet zerstört. Jetzt kann es sich nicht als Beschützer von Minderheiten aufspielen.
Ein Staat, der im Begriff ist, das größte Freiluft-Konzentrationslager der Welt zu errichten, der Hunger als Waffe einsetzt, im besetzten Westjordanland täglich Apartheid begeht und Diskriminierung in seinem Grundgesetz verankert, kann nicht behaupten, moralische Autorität zu besitzen.
Er hat sie nicht – schon gar nicht, wenn es darum geht, Besorgnis für die Drusen in Syrien vorzutäuschen, deren Schicksal er instrumentalisiert, um weitaus finsterere Absichten zu verschleiern.
Ein live im Fernsehen übertragener Akt der Demütigung
Die Wahl des Ziels war nicht strategisch. Sie war symbolisch.
Der Umayyad-Platz ist nicht nur eine Straßenkreuzung, sondern die Seele von Damaskus. Er ist ein Denkmal des syrischen Stolzes und der arabischen Würde. Hier befindet sich das Monument mit dem Damaszener Schwert, und der Platz erinnert an das Erbe des Umayyaden-Kalifats, das sich einst von den Pyrenäen bis zu den Steppen Zentralasiens erstreckte. Hier feierten die Syrer vor acht Monaten das Ende von sechs Jahrzehnten Diktatur.
Und genau dort, mitten an einem Arbeitstag, schlug Israel zu – in dem Wissen, dass der Platz von internationalen und arabischen Fernsehsendern umringt ist und die Bilder auf den Satellitenkanälen sowie in den sozialen Medien endlos wiederholt werden würden.
Dies war nicht nur ein Bombenangriff, es war ein im Fernsehen übertragener Akt der Demütigung. Der israelische Verteidigungsminister Israel Katz machte dies deutlich, als er voller Stolz ein Video einer verängstigten syrischen Moderatorin teilte, die während der Livesendung ihren Posten verließ, während im Hintergrund das Verteidigungsministerium brannte.
Es war eine Inszenierung, die die Syrer schockieren und die Araber in Angst und Schrecken versetzen sollte.
Dieser Angriff war nicht nur illegal und unmoralisch, sondern er war ein weiterer Schritt in einer langfristigen Strategie: einer Doktrin, die darauf abzielt, die israelische Hegemonie in einer zersplitterten, geschwächten und geteilten Region durchzusetzen.
Sie ist weder neu noch eine Reaktion auf etwas. Sie ist ein Grundpfeiler der israelischen Strategie, die seit Jahrzehnten über Regierungen, Grenzen und Kriege hinweg angewendet wird.
Seit der Revolution in Syrien und dem Sturz des Assad-Regimes hat Israel mehr Angriffe gegen Syrien durchgeführt als in allen Jahrzehnten zuvor zusammen.
Israel hat systematisch die militärische Infrastruktur zerstört, Hunderte Angriffe gestartet und seine Besetzung strategischen Terrains, einschließlich wichtiger Bergketten im Süden Syriens, ausgeweitet. Die Luftangriffe sind zur Routine geworden, mit dem Ziel, die Verstöße zu normalisieren, die Souveränität Syriens zu untergraben und dessen regionale Stellung zu schwächen.
Doch es geht über diese Aktionen hinaus: Es ist eine Denkweise, die die israelische Führung mit zunehmender Klarheit zum Ausdruck bringt. So erklärte Gideon Saar, der israelische Außenminister, nur einen Tag nach Assads Flucht: „Die Idee eines einzigen souveränen Syriens ist wenig realistisch.“
Der israelische Militärprofessor Rami Simani ging noch weiter: „Syrien ist ein künstlicher Staat (…) Israel muss Syrien verschwinden lassen. An seiner Stelle wird es fünf Kantone geben.“
In einer unmissverständlichen Absichtserklärung verkündete Finanzminister Bezalel Smotrich zudem: „Die Kämpfe werden erst dann enden, wenn Hunderttausende Menschen den Gazastreifen verlassen (…) und Syrien geteilt ist.“
Das ist keine Rhetorik, das ist Politik. Und sie wird umgesetzt.
Die arabische Einheit unterminieren
Die Wurzeln dieser Strategie reichen mehr als sieben Jahrzehnte zurück, bis zur sogenannten Peripherie-Doktrin, die von David Ben-Gurion und Eliahu Sassoon in den ersten Jahren der Existenz Israels ausgearbeitet wurde.
Ihre Logik war einfach und skrupellos: Da sich Israel nicht in die arabische Welt integrieren konnte, würde es diese umzingeln, indem es Bündnisse mit nicht-arabischen Mächten (Türkei, Iran, Äthiopien) schmiedet, die internen Spaltungen in den arabischen Staaten ausnutzt und die ethnischen und religiösen Minderheiten stärkt.
Das Ziel hatte drei Aspekte: Bündnisse mit nicht-arabischen Staaten zu schmieden, die mit dem Westen verbündet sind; die arabische Einheit zu untergraben, indem sie die Zersplitterung von innen heraus vorantreibt; und dem kollektiven arabischen Widerstand gegen Israel entgegenzuwirken.
Diese Strategie half Israel in den ersten Jahren, zu überleben und zu florieren. Aber sie war nie defensiv. Sie war immer expansionistisch. Ben-Gurion selbst sagte es: „Unser Ziel ist es, den Libanon, Transjordanien und Syrien zu zerschlagen (…) Dann bombardieren wir und rücken vor und nehmen Port Said, Alexandria und den Sinai ein.“
Und er fügte hinzu: „Wir müssen einen dynamischen, auf Expansion orientierten Staat schaffen.“
Er bekräftigte: „So etwas wie ein endgültiges Abkommen gibt es nicht (…) weder, was das Regierungssystem betrifft, noch, was die Grenzen betrifft, noch, was die internationalen Abkommen betrifft.“
Bei einer anderen Gelegenheit war er sogar noch direkter: „Die Grenzen der zionistischen Bestrebungen sind Sache des jüdischen Volkes, und kein äußerer Faktor kann sie einengen.“
Das waren keine bloßen Überlegungen. Es handelt sich um grundlegende Prinzipien. Und sie motivieren auch in der aktuellen Situation weiterhin die israelische Politik.
So, wie sich die regionale Dynamik veränderte, so veränderten sich auch Israels Ziele. Ägypten schloss Frieden. Der Schah im Iran wurde gestürzt. Die Türkei näherte sich den Palästinensern an.
Die Doktrin musste weiterentwickelt werden.
Das Hauptziel, die Fragmentierung, blieb jedoch unverändert. Israel hat die Formel im Libanon, im Irak und im Sudan angewandt. Aber Syrien bleibt das Kronjuwel dieser Strategie.
Warum? Weil Syrien der bevölkerungsreichste arabische Staat ist, der an Palästina grenzt, und die Syrer Palästina nicht als eine fremde Sache betrachten, sondern als Teil ihres eigenen historischen, geografischen und spirituellen Territoriums. Außerdem ist Bilad al-Sham mehr als nur ein geografischer Ort, weil es eine gemeinsame Erinnerung ist und, ganz einfach, weil Israel syrisches Gebiet besetzt hält.
Das ist der Grund, warum Israel das letzte Jahrzehnt damit verbracht hat, die Beziehungen zu den kurdischen und drusischen Gemeinschaften zu pflegen, und sich darauf vorbereitet hat, sie als Hebel einer zukünftigen Zersplitterung zu benutzen. Und jetzt, mit Assads Verschwinden, ist diese Zukunft da.
Eine schwere Fehlkalkulation
Aber Syrien ist nicht mehr das Endziel. Es ist nur eine Zwischenstation. Israels Ambitionen erstrecken sich nun tiefer in die „Peripherie“ der Region, mit dem Iran und Pakistan fest im Visier.
Während des jüngsten Krieges gegen den Iran haben israelische Stimmen – insbesondere solche, die mit der Jerusalem Post und neokonservativen Think Tanks verbunden sind – offen die Teilung des Landes gefordert. Ein Leitartikel forderte von Trump, er solle „den Regime Change akzeptieren (…) eine Nahost-Koalition für die Teilung des Iran schmieden und Sicherheitsgarantien für sunnitische, kurdische und belutschische Regionen geben, die sich abspalten wollen.“
Der [US-amerikanische] Think Tank Foundation for Defense of Democracies vertrat die Ansicht, dass die multiethnische Zusammensetzung des Irans als strategische Schwachstelle behandelt werden sollte, die ausgenutzt werden müsse.
Sogar Pakistan ist jetzt Teil dieser Vision: Israel nahestehende Stimmen sprechen von einer Neugestaltung der Region „von Pakistan bis Marokko“.
Die Abraham-Abkommen, die weit davon entfernt sind, Friedensabkommen zu sein, dienen dazu, diese Bestrebungen zu normalisieren und Israel als wirtschaftliches, sicherheitspolitisches und technologisches Zentrum in der Region zu positionieren.
In dieser Hinsicht sind israelische Regierungsvertreter immer offener geworden. So skizzierte Smotrich die Vision eines Israels im Zentrum einer neuen regionalen Ordnung – in der Praxis ein Protektoratsimperium – und stellte klar, dass die arabischen Staaten Israel für dessen Rolle beim Schutz vor Bedrohungen wie dem Iran und der Hamas „bezahlen“ müssen.
Die implizite Botschaft ist unmissverständlich: Israel sorgt für die Gewalt und die Nachbarn zahlen den Tribut. Das ist keine Partnerschaft, sondern Herrschaft unter dem Deckmantel der Diplomatie.
Steven Witkoff, der Nahost-Beauftragte von US-Präsident Donald Trump, formulierte es etwas milder: „Wenn all diese Länder zusammenarbeiten würden, könnten sie größer sein als Europa (…) Sie arbeiten im Bereich der Künstlichen Intelligenz, der Robotik, der Blockchain (…) dort sind alle Unternehmer.“
Das ist nicht Integration, das ist Annexion: von Wirtschaft, Politik und Souveränität. Es ist ein Plan zur Schaffung eines von Israel geführten Blocks, der Europa überholt und die Machtzentren der Welt herausfordert.
Aber hier liegt Israels fatale Fehleinschätzung: Je mehr es expandiert, desto mehr Feinde schafft es sich. Es beginnt mit der Suche nach Allianzen an der Peripherie und verwandelt die Peripherie schließlich in einen existenziellen Gegner.
Iran, Türkei und Pakistan, einst entfernte Rivalen, sehen Israel jetzt nicht mehr als Plage, sondern als direkte Bedrohung.
In der gesamten arabischen Welt haben Israels Völkermord in Gaza, seine Schändung von Damaskus, seine Angriffe auf Beirut, Sanaa und Teheran die Herzen geeint, wie es kein Gipfeltreffen hätte tun können.
Je mehr sich Israel wie ein regionales Imperium verhält, desto mehr beginnt die Region, es als Kolonialmacht zu betrachten. Und Kolonialmächte, das lehrt uns die Geschichte, bestehen nicht ewig. Was jetzt als Zersplitterung wahrgenommen wird, könnte sich zu einer Einigung entwickeln: aus Unmut und aus einem gemeinsamen Verständnis heraus, dass die wahre Bedrohung nicht Iran oder Syrien oder gar der politische Islam ist.
Es ist die Doktrin der Vorherrschaft selbst. Und diese Doktrin wird, anders als die Raketen, die Israel heute abschießt, nicht unbeantwortet bleiben.
Die Zukunft, die sich Israel erträumt, eine Zukunft der Herrschaft und Unterwerfung, wird die Region nicht zulassen. Denn die Völker dieser Region haben das schon einmal durchgemacht. Sie haben Imperien überlebt. Sie haben Kreuzfahrer, Kolonialisten und Tyrannen überlebt. Und sie haben gelernt, dass die einzige Doktrin, die es wert ist, befolgt zu werden, diejenige ist, die sie eint, nicht die, die sie trennt.
Israel kann Landkarten neu zeichnen, Minderheiten ausbeuten, Hauptstädte angreifen und Kinder verhungern lassen, aber es kann sich den Weg zur Dauerhaftigkeit nicht durch Bomben ebnen. Es kann eine Region nicht für immer zum Schweigen bringen. Es kann seine Zukunft nicht auf den Ruinen anderer aufbauen, denn diese Ruinen erinnern sich.
Und die Erinnerung ist in dieser Erde keine Wunde. Sie ist eine Waffe.
Über die Autorin: Soumaya Ghannoushi ist eine britische Schriftstellerin tunesischer Herkunft und Expertin für die Politik des Nahen Ostens. Ihre journalistischen Arbeiten sind in The Guardian, The Independent, Corriere della Sera, aljazeera.net und Al Quds erschienen
Der Artikel erschien bei Voces del Mundo – aus dem Spanischen übersetzt von Marta Andujo.
Titelbild: Shutterstock / Rokas Tenys
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